„Roter Herbst in Chortitza“ von Tim Tichatzki – ein Roman, der es in sich hat!

Buchvorstellung und Interview mit dem Autor

von Nina Paulsen

Tim Tichatzki erzählt die dramatische Geschichte einer russlanddeutschen Familie

Allein schon der Titel „Roter Herbst in Chortitza“ lässt Russlanddeutsche oder ihre Nachkommen, die ihre Wurzeln in Südrussland – den sogenannten Chortitzaer Kolonien – haben, aufhorchen. In seinem Roman „Roter Herbst in Chortitza“ (464 Seiten, ISBN 978-3-7655-0988-9), das im Februar 2018 im Brunnen Verlag erschienen und nach einer wahren Geschichte geschrieben ist, verarbeitet der Autor Tim Tichatzki die Lebensgeschichte seiner Schwiegermutter, die 1930 in der Region Chortitza geboren wurde und Mitte der 1970er Jahre mit Familie nach Deutschland kam. 1919 fegt der Bürgerkrieg mit aller Gewalt über das zerfallende Zarenreich. Gefangen zwischen den Fronten, finden die beiden Freunde Willi und Maxim ein von Soldaten zurückgelassenes Maschinengewehr. Für Maxim ein Geschenk des Himmels, für Willi die größte Herausforderung seines Glaubens, denn als Sohn mennonitischer Siedler hat er gelernt, jede Form von Gewalt abzulehnen. Eine Zerreißprobe für die Freundschaft der beiden Jungs.
Während Willis Familie in der aufkommenden Sowjetdiktatur ums nackte Überleben und um ihren Glauben kämpft, schlägt sich Maxim ausgerechnet auf die Seite des Regimes. Beide wissen nicht, ob sich ihre Wege je noch einmal kreuzen werden. Zwei Lebenswege inmitten der sowjetischen Diktatur, die unterschiedlicher kaum sein könnten. „Dieses Buch zeigt einem, was es heißt, auch in den ausweglosesten Situationen und Zeiten nie die Hoffnung zu verlieren! Es hält einem die Tragik unserer Geschichte vor Augen und zeigt, wie zwei Menschen, die sich in der gleichen tragischen Situation befinden, durch ihre eigene Entscheidung in komplett verschiedene Richtungen gehen können und sich zu ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten entwickeln“, beschreibt ein Zitat aus dem Leserecho. Der Autor blickt in eines der dunkelsten Kapitel europäischer Geschichte und erzählt zugleich ein Stück eigener Familiengeschichte. „Fast zweihundert Menschen schauen heute – siebzig Jahre später – auf Willi und Elisabeth als ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern zurück. Ein Vermächtnis, das kaum einer je zu träumen wagte, der die damaligen Zeiten miterleben musste. Es ist die Geschichte einer Familie, in die ich hineingeheiratet habe und die sich mir über viele Jahre – wie ein stetig wachsendes Mosaik – erschlossen hat“, schreibt Tichatzki im Nachwort. Die Erinnerungen seiner Schwiegermutter wiederspiegeln sich in den Erlebnissen von Gretas Familie. Die Figur des Maxim ist dagegen fiktiv, steht aber „stellvertretend für die ganze sowjetische Tragödie, die so viel Leid über so viele Menschen gebracht hat“.

Tim Tichatzki (geb. 1974) ist Diplomvolkswirt und lebt mit seiner Familie in Köln. Der Roman „Roter Herbst in Chortitza“ ist sein erstes Buch. Inzwischen hat er bereits zwei Lesungen in Köln und Berlin absolviert, weitere sind für den Herbst vorgesehen. „Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch einen Beitrag leisten kann, die Geschehnisse von damals nicht zu vergessen, sondern für nachfolgende Generationen am Leben zu erhalten“, sagt Tichatzki.

Nina Paulsen, Nürnberg

Interview mit dem Autor Tim Tichatzki

Den Eltern und Großeltern ein würdiges Erinnern setzen

Nina Paulsen: Herr Tichatzki, „Roter Herbst in Chortitza“ – steht der Titel für einen bestimmten Zeitabschnitt der Zwischenkriegszeit oder generell für die Willkür der Sowjetmacht in den deutschen Kolonien der Ukraine?

Tim Tichatzki: Der Titel ist eine Anlehnung an die Oktoberrevolution, soll dem Leser also schon mit dem Titel eine grobe zeitliche Orientierung geben. Gleichzeitig steht er aber auch für eine ganze Ära, die mit der Machtübernahme der Bolschewiken ihren Anfang nahm und sich dann über die Jahre in das bekannte Terrorregime Stalins wandelte, unter dem dann auch die deutsche Bevölkerung in der Region Chortitza litt.

N. P: Ihr Buch erzählt vor allem eine Familiengeschichte mitten im zerfallenen Zarenreich und der sich mit aller Brutalität etablierenden Sowjetdiktatur. Warum denken Sie, dass diese Familiengeschichte auch für den einheimischen Leser interessant sein könnte?

T. T: Rückblickend ist es ja oft leicht zu kritisieren, dass sich ein ganzes Volk gefügig vor den Karren eines Diktators spannen ließ. Es braucht oft nur eine elitäre Minderheit, die besonders rücksichtlos in der Verfolgung ihrer Ziele ist, die es dann aber trotzdem schafft, ein ganzes Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Das entbindet zwar Niemanden von seiner Verantwortung. Niemand kann sagen: „Die haben mich instrumentalisiert, ich kann ja nichts dafür.“ Wenn das Regime aber erst einmal etabliert ist, dann ist es lebensgefährlich, sich dem zu widersetzen. Und es wird dann vielleicht nicht mehr genügend mutige Stimmen geben, die sich erheben.
Meine Geschichte soll dem Leser die Gräuel einer solchen Diktatur vor Augen führen, daran erinnern, dass es echte Menschen waren, die vor nicht allzu langer Zeit, so etwas durchleiden mussten. Wie schwer es für sie war, an ihren Idealen und Werten festzuhalten. Und vielleicht weckt das bei den Leser/innen das Anliegen, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Wir leben in Zeiten, wo es nicht mehr selbstverständlich ist, für den Frieden einzustehen. Es gibt schon wieder so viele Politiker, die glauben, dass man Probleme mit Krieg und Gewalt lösen kann. Wer einen Eindruck bekommen will, wo das hinführt, sollte mein Buch lesen.

N. P: Was kann der Leser gerade über die Überlebenskraft der Deutschen (in diesem Fall Mennoniten), die zum Glauben ihrer Väter auch unter der Sowjetmacht hielten, lernen?

T. T: Am meisten hat es mich beeindruckt, wie sie versucht haben, an dem Prinzip der Gewaltlosigkeit festzuhalten. Es hat sie viel gekostet, bis hin zu ihrem Leben. Aber offenbar gab es in ihren Augen noch mehr zu verlieren, wenn sie sich mit Gewalt zur Wehr setzten. Das ist eine sehr respektable Haltung, die heute so lapidar mit dem Wort „Pazifismus“ zur Seite gewischt und vielleicht noch in Talkshows diskutiert wird. Diese Leute haben am eigenen Leib erfahren, wie ihr Glauben herausgefordert wird. Manchmal sind sie gescheitert, aber oft sind sie auch standhaft geblieben. Haben an ihren Werten festgehalten, die sich in ihrem Glauben gründeten. Lieber als Mensch sterben, denn als Tier überleben. Ein solch radikaler Leitspruch, den ich als Prämisse für mein Buch gewählt habe, könnte der sich immer weiter drehenden Gewaltspirale einen gesunden Gegenpol setzen. Mein Respekt gilt den Männern und Frauen, die den Mut hatten, solches zu tun.

N. P: Die inhaltlichen Schwerpunkte in Ihrem Buch sind der Bürgerkrieg 1919-1921, die Jahre der Kollektivierung 1929-1933, die Terrorjahre 1937-1939, die Kriegszeit 1940-1945 und die Zeit in Sibirien (1945-1947) nach der Repatriierung. Welche Familienmitglieder haben Ihnen am meisten erzählen können?

T. T: Meine Schwiegermutter war sicher die umfangreichste Quelle, da sie mir die „kleinen“ Lebensgeschichten erzählt hat, die in keinem Geschichtsbuch zu finden sind. Daneben standen noch viele weitere Anekdoten und Geschichten, die man sich innerhalb der Familie am Kaffeetisch erzählt, und von denen immer wieder gesagt wird, die müsste man doch mal aufschreiben. Angefangen habe ich damit, sie chronologisch zu ordnen, sie abzugleichen, mit anderen Zeitzeugenberichten, wie man sie z. B. auf der Webseite chort.square7.ch findet.

N. P: In Ihrem Buch ist die eigentliche Familiengeschichte in das breitflächige historische Geschehen im Russischen Reich, der späteren Sowjetunion und zwangsweise auch in Deutschland/Europa eingebettet? Das erfordert vielfältiges Wissen. Wo haben Sie zusätzlich recherchiert?

T. T: Einen tiefen Einblick in das Leben nach der Revolution hat mir das Buch „Ein Tagebuch aus dem Reich des Totentanz“ von Dietrich Neufeld vermittelt. Eine weitere umfangreiche Chronik über das Dorf Osterwick hat mir Detailwissen über das konkrete Dorfleben vermittelt, bis hin zu genauen topografischen Beschreibungen und Karten. Um die Ära der „Machnowzi“ besser zu verstehen, hat mir das Buch „Räume des Schreckens“ von Felix Schnell geholfen. Den großen historischen Entwicklungsbogen der Ukraine bis hin zum 2. Weltkrieg hat mir Timothy Snyder in seinem Buch „Bloodlands“ aufgezeigt. Um einen Einblick in die Zeit des Stalinismus zu bekommen, hat mir das Buch „Stalin – am Hof des roten Zaren“ von Simon Sebag Montefiore geholfen. Dazu kam noch viel Einstiegslektüre wie z.B. das GEO-Spezial über Stalin. Da habe ich viele Namen oder Stichworte gefunden, diese dann im Internet recherchiert, und in das Buch einfließen lassen. So habe ich z.B. den Henker mit der Lederschürze gefunden, Wassili Blochin.

N. P: Sie haben bereits Lesungen absolviert und das Buch einem breiten Publikum präsentiert. Wie war die Resonanz? Was kann so ein Buch aus Ihrer Sicht bewirken?

T. T: Ursprünglich wollte ich die Lebenserinnerungen meiner Schwiegermutter für meine Kinder aufschreiben. Es ist unwahrscheinlich, dass, wenn sie alt genug sind die Geschichte ihrer Oma zu verstehen, diese noch am Leben ist. Ich habe lange nach dem geeigneten Format gesucht, um dieses Mosaik festzuhalten. Und bin dann zu diesem biografischen Roman gekommen. Ich glaube, dass dieses Medium hilfreich ist, um die Geschichte der Großeltern aus heutiger Sicht ein wenig besser verstehen zu können. Die ersten Leserreaktionen scheinen dies zu bestätigen. Während die Kinder und Enkel sehr ergriffen von dem Buch sind, können es die, die das Leid am eigenen Leib erfahren haben, kaum lesen. Es geht ihnen zu nahe. Und das kann ich gut verstehen. Es ist also ein Buch, das sich eher an die Nachkriegsgeneration richtet, und dem Leben unserer Eltern und Großeltern ein hoffentlich würdiges Erinnern setzt.

Der Autor steht auch für Lesungen zur Verfügung. Anfragen beim Brunnen Verlag.
https://brunnen-verlag.de/roter-herbst-in-chortitza.html
https://www.facebook.com/tim.tichatzki.7