Roman „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ von Viktor Funk

Im August 2017 ist der Roman „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ von Viktor Funk erschienen. Mit freundlicher Genehmigung des Größenwahn Verlags präsentieren wir unseren Lesern an dieser Stelle eine kleine Kostprobe aus dem Buch. Es ist zurzeit in sämtlichen Buchläden sowie direkt beim Größenwahn Verlag zu bekommen. Näheres über den Autor und das Buch finden Sie unter folgendem Link: Größenwahn Verlag.

Hier folgt nun die Leseprobe:

Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich. Ich war mit meinen Eltern und meiner Schwester im Rathaus von Wolfsburg, der Bürgermeister hatte eingeladen. Zwei Dutzend Familien aus Kasachstan, Sibirien und Usbekistan saßen an runden Tischen, alte Frauen mit geblümten Kopftüchern, ihre Enkel mit Micky-Maus-Sweatshirts, die Väter mit neuen Lederjacken. Die Mütter mahnten in vertrauter Sprache die Kinder zur Ruhe, bis unverständliche Worte alle verstummen ließen. Der Bürgermeister lächelte, breitete seine Arme aus, sagte »gut«, »Heimat«, »Arbeit« und viele andere Worte, die ich nicht verstand.
Seit wir Platz genommen hatten, starrte ich auf den Tisch und wurde ungeduldiger, je länger der Mann redete. Auf einem Teller lagen Kuchenstücke, acht glänzende, honigfarbene, mit geraspelten Mandeln bedeckte kleine Vierecke.
Ich hoffte, dass meine kleine Schwester nur eines essen würde. Und mit etwas Glück würde auch meine Mutter nur eines nehmen, mein Vater zwei. Ich wusste noch nicht, wie der Kuchen schmeckte, aber ich roch ihn. Ich atmete seinen Honigmandelvanilleduft ein und hielt immer wieder die Luft an.
Lautes Lachen riss mich aus meinem Spiel. Auch meine Eltern lachten.
»Mama, was hat er gesagt?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht. Ich habe es nicht verstanden«, antwortete meine Mutter.
»Und warum lacht ihr dann?«
»Alle lachen doch.«
Und alle rutschten ein Stück näher an die Tische, näher an die Kuchenteller. Ich sprang von meinem Stuhl auf und nahm zwei Stück Bienenstich, musste eines wieder zurücklegen – »Iss erst einmal das Erste auf« – und griff gleich wieder zu. Nie zuvor hatte ich so etwas geschmeckt. Er war um vieles süßer als die Butterkekse, die ich in Kasachstan so geliebt hatte, viel besser als das sowjetische Sahneeis, das mir unter der Sonne wegschmolz, wenn ich mit drei oder vier Eishörnchen für meine Familie nach Hause lief, besser als die Limonade und die Schokoladen-Bonbons, für die ich damals anstehen musste.
Am Ende unseres Besuches beim Bürgermeister hatte ich vier Stück Kuchen gegessen. Ich war elf und Deutschland roch nach Mandeln und Vanille und hatte den besten Kuchen der Welt.

Wir fuhren mit dem Bus nach Hause, ich blickte in den Februarabend hinaus, Laternenlichter spiegelten sich im nassen Asphalt. Ich erinnerte mich an das Knistern des Schnees vor wenigen Tagen unter meinen Filzstiefeln in Kasachstan. Ich erinnerte mich an den zugefrorenen Balchaschsee, an meine Oma und meinen Opa, die Eltern meiner Mutter, und an meinen Hund Malysch. Wenn ich die Augen schloss, fühlten meine Hände sein Fell, sein Geruch stieg in meine Nase, der Duft von Staub und Kohle, weil er neben dem Kohleverschlag angekettet war. Einige Tage vor der Abreise band ich Malysch mein rotes Halstuch um und schenkte ihm mein Pionierabzeichen, das ich nicht mitnehmen durfte. Ich nagelte es an seine Hütte.

Als Kind wollte ich Lenin werden. Ich trug sein Bild in meiner Stiftschachtel und wartete, bis endlich auch ich das Pioniertuch bekam. »Lenin hat nie gelogen«, hatte meine Russischlehrerin Ljudmila Nikolajewna gesagt. »Er hat nie schlechte Noten gehabt, sich nie geprügelt. Einmal fragten Schulkameraden ihn, wie viele Bedienstete er zu Hause hat. ›Zwei‹, antwortete Lenin, ›meine Hände‹.«
In Deutschland interessierte Lenin mich nicht. Hier gab es Haribo-Teufel, gegrillte Hähnchen, Hamburger mit Röstzwiebeln und Überraschungseier. Deutschland war ein riesengroßes Kaufhaus mit Lego-Raumschiffen, Transformers-Robotern, Heman-Figuren, Matchbox-Autos und Panini-Sammelalben. Ich stand oft vor einem Spielzeuggeschäft in der Wolfsburger Innenstadt und traute mich nicht hinein, ich sprach weder gut Deutsch, noch hatte meine Familie Geld für Spielzeug.
Aber für mein Ghostbusters-Sammelheft hatte ich schnell fast alle Bilder zusammen. Am Kiosk vor unserem Haus lagen die Bilderstapel gleich hinter der Kasse. Wenn die alte Kioskbesitzerin fragte, was ich wollte, zeigte ich auf die kirschroten Gummischnecken, für die die Frau sich umdrehen musste. Während sie zwei, drei Schritte zum Süßigkeitenregal ging, griff ich zu. Ich nahm nie mehr als zwei Packungen, damit sie nichts merkte.
Eines Tages kaufte ich wieder Süßigkeiten, und als ich meine Hand auf die Bilder legte, legte sich eine fremde Hand auf meinen Nacken. Ich wandte mich, schrie einen Mann an – »ty staryj byk«, du alter Bulle – schlug nach seiner Hand und entkam.
In Kasachstan hatte ich nicht so viel Glück gehabt. An einem Herbsttag war ich mit Freunden in eine alte Brotfabrik eingestiegen. Wir waren über die Backsteinmauer und durch ein zerschlagenes Fenster in das Gebäude geklettert. Die Sonne warf Schatten, in den Lichtstrahlen tanzten Staubwolken, Spatzen schwirrten unter dem Dach umher.
Wir spielten Fangen und mussten nur eine Regel einhalten: Wir durften den Boden nicht berühren. Wir liefen über Förderbänder, Gitterwege und Metallstege, schwangen uns an Gerüsten entlang, unser Lachen schallte durch die Halle. Ich rettete mich häufig nach ganz oben, wo der dicke Oleg und der ungelenkige Maxim nicht hinkamen. Aber ein Fremder.
Der Mann betrat die Halle, stand einige Sekunden da und ließ die anderen entkommen. Dann kletterte er Sprosse für Sprosse die Leiter zu mir hoch.
»Steig runter«, hörte ich seine Stimme und spürte seinen warmen Atem in meinem Gesicht. Ich malte mir aus, wie er mich in einen Teppich wickeln, in einen Wagen legen und in die Steppe bringen würde. Ich weinte. Am Boden führte der Mann mich am Hemdkragen über den Hof vom alten zum neuen Fabrikgebäude. In der Wachstube am Eingang musste ich mich in eine Ecke setzen. Ich schrie um Hilfe und heulte. Die Arbeiter lachten, am Nachmittag ließen sie mich gehen.
Bis heute verstehe ich nicht, warum ich dem Direktor der Brotfabrik unsere richtige Telefonnummer gegeben hatte. Am Abend klingelte das Telefon. Ich lag im Bett. Vater nahm ab, hörte zu, legte auf und sprach mit Mutter. Sie riefen mich zu sich. Beide lachten. »Was hast du für Freunde, die weglaufen«, sagten sie. »Wenn du da noch einmal hingehst, nehme ich dich nicht mehr mit zum Angeln«, sagte Vater. »Ab ins Bett.«

In Deutschland klingelte die Türklingel nach dem Vorfall am Kiosk. Ich öffnete und lief weg. Der Mann, der mich festgehalten hatte, stand da mit meinem Sportbeutel in der Hand. Er sprach mit meinen Eltern und ging wieder, es war der Ehemann der Kioskbesitzerin. Diesmal lachten meine Eltern nicht. Ich musste mein Ghostbusters-Album holen. Auf dem Küchentisch lag eine Nagelschere. Vor den Augen meiner Eltern zerschnitt ich jede Seite, meine Finger schmerzten. Den Schuhkarton mit den Schnipseln musste ich in meinem Zimmer auf den Schreibtisch stellen. Später diente er als Bücherstütze im Regal und blieb da, bis ich die elterliche Wohnung verließ und nach Hannover ging, wo Mark studierte.
Mark war der erste Deutsche, der am Tisch meiner Familie gegessen hat. Es gab Zander, den ich gefangen hatte, dazu Buchweizen und eine Karotten-Zwiebel-Sahne-Soße. Mark bat um Nachschlag, aber er wollte nicht den Zander, den meine Mutter mit einer dünnen Mehlkruste knusprig gebraten hatte, sondern Buchweizen. Er hatte die braun-grauen Körner noch nie gegessen. In meiner Kindheit bekam ich sie gezuckert mit Milch oder zu Leberfrikadellen. Gretschka war ein Alltagsgericht in Kasachstan so wie Kartoffelsalat in Deutschland.
Mark und ich hatten uns in einem Schwimmverein kennengelernt. Ich erfuhr, dass er angelte, und nachdem wir viele Karpfen, Hechte und Barsche zusammen gefangen hatten, sprachen wir nicht nur über Fische, sondern auch über Familien und Freundinnen. Vor Mark musste ich nicht darauf achten, wie ich mich verhielt, er korrigierte mich nicht, wenn ich der statt das Messer sagte; wenn es regnete, saß ich unter seinem großen Angelschirm, und wenn mir ein Köder fehlte, hielt mir Mark seinen Angelkoffer hin.
Wir harrten selten an einer Stelle aus. Wir suchten die Fische, schlichen am Ufer umher oder wateten durchs Wasser. Genauso wie am fernen Balchaschsee in Kasachstan ging es auch an der Aller oder an den Kiesgruben in Velpke allein da-rum, Fische zu finden und sie mit unserem Futter zu überlisten. An der Schunter, einem kleinen Fluss westlich von Wolfsburg, haben wir uns eines Abends ins Wasser gestellt und mit Rotwürmern auf Rotaugen, Stichlinge und Barsche geangelt.
»Ich glaube, lange halte ich es hier nicht aus«, sagte Mark.
»Warum? Hier beißen sie doch.«
»Ja, aber ein Stiefel ist undicht.«
Wir lachten und kletterten wieder die Böschung hoch. Oben war Draht gespannt, dahinter stand ein halbes Dutzend Kühe. Mark begann zu muhen, laut und schnell, »Muuuh! Muuuh!« Ich lachte und wir gingen am Zaun entlang, bis Mark losschrie und auf der Stelle zu springen begann. Seine Angel war zwischen die Zaundrähte gekommen, die unter Strom standen. Mark schrie und tanzte, ich lag im Gras und lachte. Als es ihm gelang, die Angel aus dem Strom zu ziehen, fiel auch er hin und lachte.
Mit Mark am Wasser fand ich ein Stück Heimat. Mit Mark am Wasser durfte ich »ich« sein….

(c) 2017 by Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main.