Verdichtete Zeit – Zum neuen Lyrikband von Agnes Gossen „Flügelschlag der Zeit“

Ein Gastbeitrag von Melitta L. Roth

Agnes Gossens neu erschienene Gedichtsammlung befasst sich mit einem Phänomen, das unser ganzes Leben durchzieht – der Zeit. Sie nähert sich in ihren Versen dem Thema lyrisch und philosophisch und zeigt, dass Zeit nicht nur eine rein physikalische Größe ist, sondern ein großes Geheimnis.

Der neue Band der Dichterin Agnes Gossen trägt den Titel „Flügelschlag der Zeit“ und ist in Mai 2018 im Burau-Verlag erschienen. Was ihn thematisch zusammenhält, ist das Motiv der Zeit. In vier Zyklen unterteilt, breitet das Büchlein verschiedene Facetten dieses alles durchdringenden Phänomens vor uns aus und bietet Anstöße zum Nachdenken über das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige.

Die meisten Gedichte in diesem Band sind in freien Versen gehalten, gelegentlich finden sich Reime darunter. Es sind offene, klare Worte, die Schönheit oder Melancholie beschreiben, innere Monologe über Natur und Vergänglichkeit. In ihren Versen verarbeitet Agnes Gossen unter anderem die Sehnsucht nach einer vergangenen Liebe, den Verlust der Heimat und das Ankommen in einem neuen Land. Die Einsamkeit kommt darin vor ebenso wie der Wunsch, dem zermürbenden Alltag mithilfe der Poesie zu entfliehen.

Für das Verstreichen der Zeit wählt die Dichterin häufig Symbole wie den Fluss, das Meer oder den Regen. Strömend, fließend, aber auch unkontrollierbar wie das Wasser. Auch die Form ihrer Poesie selbst hat etwas Leichtes, Fließendes – wie das Wasser.

Es sind fein gesponnene Verse, mit zarter Feder festgehaltene Beobachtungen und Stimmungsskizzen. Aus einigen Zeilen ist sogar der persönliche Tonfall der Dichterin, ihre eigene Stimme herauszuhören. Es ist wohl so, dass eine, die schreibt ihre eigene Sprachmelodie, ihr Wesen mit einbringt.

In einer Zeile wie – Der Wind stimmt leise ein Herbstlied an – finden wir nichts vom Stakkato oder den intellektuellen Höhenflügen moderner Versschmiedekunst. Sie wirken leicht und fließend und überhaupt nicht konstruiert. Wir spüren hier ihre Anlehnung an asiatische, besonders japanische Dichtung, in der eine Ästhetik der Schlichtheit vorherrscht, in der vieles Unausgesprochen bleibt und die sich ganz auf den gegenwärtigen Moment bezieht:

Die Zeit fliegt davon

auf zarten Daseinsschwingen

verbrauchter Räume

(S. 43)

Aus der Asche wächst

in ausgebrannter Seele

ein Hoffnungssetzling

(S. 44)

Erinnerungsmeer …

Schwimme zu anderen Ufern

jede Nacht wieder.

(S. 44)

Im dritten Abschnitt, Strandgut der Vergangenheit, geht sie auf das Gewesene, den Verlust und die Nostalgie ein, nach Menschen, die nicht mehr da sind, nach Orten, die wir verlassen haben und Gefühlen, die sich gewandelt haben.

Die Sehnsucht nach fernen Zeiten …

Sie rauscht durch die Seele, erinnert mich

an ferne Orte, die Steppe und Weiten,

an Jugendlieder und Sommerlicht.

Barfüßiger Anlauf ins Leben,

wo alles erreichbar noch vor uns lag.

Baten Gräser im Tau uns vergebens

zu bleiben – nüchtern getrocknet vom Tag

wie Reiseträume, die wurden wahr.

Die Seele wanderte ins Exil …

Die Ferne näher, doch unerreichbar

für uns geblieben so manches Ziel.

Es ist so traurig und wunderbar

wie alte Lieder – noch immer vertraut

der Blick in die Zeiten, verträumt und klar.

Uns winken von dort die Gräser im Tau.

(S. 66)

Trotz der Tiefe der Gedanken gelingt es ihr scheinbar spielerisch, gewichtigen Inhalten die Schwere zu nehmen. Sie schafft es immer wieder, aus ‚dunklen Gedanken‘ in ‚helle Träume‘ zu gelangen und schlägt gekonnt den Bogen zu den diesen kleinen Augenblicken, lichten Momentaufnahmen, die das Leben erst lebenswert erscheinen lassen.

MEINER ENKELIN

„Oma, weißt du, dass der Mensch

aus Sternenstaub besteht?“

Der Alltag zermürbt mich zu Staub.

Ich schrumpfe in meinen Augen.

Doch höre ich deine Stimme,

leuchtet sogar der Staub

und der Sternenglanz

in deinen Augen.

(S. 74)

Auch der Aufbau und die Grafik passt sich dem Thema an. Beispielsweise sind die Seitenzahlen als Zifferblätter gestaltet. Die Titel der Verse erscheinen am Anfang eines jeden Kapitels in kräftigen Farben und bilden als buntes Sammelsurium fast schon selbst ein Gedicht aus freien Assoziationen.

Wind der Zeit, Zug des Lebens, Gezeiten des Lebens –  Agnes Gossen findet scheinbar herkömmliche Ausdrücke für innere Vorgänge. Sie besitzt ein untrügliches Gefühl für die Melodie der Sprache, fängt Stimmungen ein und komponiert aus Dingen, die wir alle kennen, ihre klangvollen Miniaturen.

Wann lassen wir uns bewusst auf das Verstreichen der Zeit ein? Besonders in einer Zeit, die von Stress und Ablenkung geprägt ist, kann Lyrik helfen, dem schnöden Alltag zu entfliehen. Und sei es nur für eine Viertelstunde oder für eine Minute am Tag: für einen Flügelschlag der Zeit eben.