1995-2025: Dreißig Jahre Literaturkreis der Deutschen aus Russland

Textwerkstatt, Festakt und Jubiläumslesung in Oerlinghausen

Der Literaturkreis der Deutschen aus Russland (LITO) feierte zusammen mit der Akademie am Tönsberg e. V. sein 30-jähriges Bestehen mit einem Programm rund um Geschichtenschreiben und interkulturelle Erzählungen.

Nach der Lesung in der Hedwigskapelle (c) LITO.

Vom 5. bis 7. September 2025 fand in den Räumen der Villa Welschen eine kreative Textwerkstatt statt, geleitet von der Paderborner Autorin Christiane Höhmann. Die Veranstaltung richtete sich an Erwachsene mit Migrationsgeschichte, insbesondere an Aussiedlerinnen und Aussiedler aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Ziel war es, persönliche Geschichten und Familienerzählungen literarisch zu verarbeiten. Höhmann gab inspirierende Schreibimpulse und begleitete die Teilnehmenden unterstützend, sodass neue Textentwürfe und Exposés entstehen konnten. Die Teilnehmenden erhielten praxisnahe Techniken, die darauf abzielen, autobiografische Texte in Literatur zu verwandeln.

Festakt mit Dank, Würdigung und Blick in die Zukunft

Heiko Hendriks beim Grußwort

Am 6. September nachmittags fand ein Festakt zum 30-jährigen Bestehendes Literaturkreisesmit geladenen Gästen statt, der Raum für Dank, Würdigung, Reflexion und Perspektiven für zukünftige Kooperationen bot. Nach der Begrüßung durch Dr. Nike Alkema, der Leiterin der Akademie am Tönsberg in Oerlinghausen (vormals: Institut für Migrations- und Aussiedlerfragen – Heimvolkshochschule St. Hedwigs-Haus), richtete Heiko Hendriks, Beauftragter für Vertriebenen- und Aussiedlerfragen in NRW, ein Grußwort an die Anwesenden.

Artur Böpple, Vorsitzender des Literaturkreises, skizzierte in einer Festrede die Entwicklung der russlanddeutschen Literaturszene in den 30 Jahren. Ferner wurden vier langjährige Mitglieder des Literaturkreises mit Urkunden und Blumen für ihr ehrenamtliches Engagement gewürdigt; Agnes Gossen und Larissa Ulyanenko erhielten Ehrenmitgliedschaften.

Im Rahmen der anschließenden Podiumsdiskussion, die von Dr. Nike Alkema moderiert wurde, sprachen Heiko Hendriks, Dr. Katharina Dück, Georg Smirnov, Melitta L. Roth und Artur Böpple u. a. über die Rolle der Literatur sowie ehrenamtliche und Zeitzeugenarbeit im Hinblick auf die tragische Geschichte der deutschen Vertriebenen und Spätaussiedler. Sichtbarkeit von Kultur- und Geschichte dieser Bevölkerungsgruppe war ebenfalls einer der zentralen Punkte bei dieser Diskussion. Die Veranstaltung hob u. a. die enge Verknüpfung von Literatur und Kulturpolitik hervor und zeigte Potenziale für weitere Netzwerke auf.

Podiumsgespräch. V.l.n.r.: Dr. Nike Alkema, Artur Böpple, Georg Smirnov, Dr. Katharina Dück, Melitta L. Roth und Heiko Hendriks (c) LITO.

Lesung in der Hedwigskapelle

Am gleichen Abend fand in der Hedwigskapelle (Hermannstraße 86) eine öffentliche Lesung mit ausgewählten Autorinnen und Autoren statt. Katharina Dück, Melitta L. Roth, Georg Smirnov und Agnes Gossen stellten den aktuellen Almanach des Literaturkreises unter dem Titel „Unser Schnee von heute“ vor. Max Schatz präsentierte abschließend seinen neuen Erzählband „Sonnen und Kometen“ (beide Bücher erschienen 2025 im BKDR Verlag).

Katharina Dück, Lesung (c) LITO.

Die musikalische Umrahmung übernahm ein Quartett des August-Hermann-Francke-Musikzentrums (Detmold) unter der Leitung von Dr. Matthias Lang. Es setzte atmosphärische Akzente mit Stücken von Piazzolla, Jenkins und Chaplin. Die vorgetragenen Texte verarbeiteten Erinnerungen, Identität und transkulturelle Lebenswelten, wodurch die Lesung als Abschluss des Jubiläumsprogramms eine verbindende Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlug.

Kooperation, Förderung und regionaler Kontext

Das Jubiläumtreffen sowie das Kulturprogramm demonstrierten die erfolgreiche Zusammenarbeit von Literaturverein und Weiterbildungsinstitution wie die Akademie am Tönsberg. Die Textwerkstatt, Festakt und Lesung wurden u. a. durch Fördermittel der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie des Kulturreferats für Russlanddeutsche in Detmold unterstützt. Das gesamte Programm stand im Rahmen des durch das Land NRW geförderten Weiterbildungsprogramms der Akademie am Tönsberg e. V.

Durch Kooperationen mit regionalen und überregionalen Kulturinstitutionen schafft der Literaturkreis Räume für Nachwuchsförderung, Lesungen, Workshops und Realisierung von Buchprojekten. Das Jubiläumsprogramm in Oerlinghausen verdeutlichte die fortlaufende Relevanz transkultureller Perspektiven in der bundesdeutschen Kulturlandschaft und die Bedeutung einer lebendigen Literaturszene.

Ein Blick in die Geschichte des Vereins – mit 14 Mitgliedern fing es an

Der Literaturkreis der Deutschen aus Russland verbindet seit drei Jahrzehnten deutschsprachige Gegenwartsliteratur mit Lebenswelten der Deutschen aus den Staaten der ehemaligen UdSSR. Er fungiert als Plattform für Autorinnen und Autoren mit russlanddeutscher Migrationsgeschichte, um Austausch, Publikation und Vermittlung zu fördern.

Textwerkstatt (c) LITO.

Literatur als wichtiger, untrennbarer Teil der russlanddeutschen Kulturgeschichte sollte als Brücke zur Verständigung dienen und den russlanddeutschen Autoren bei der Neuorientierung oder auch dem Neustart im Land der Vorfahren helfen. Zahlreiche Wegbereiter, Mitglieder und Unterstützer des Literaturkreises haben sich in diesen drei Jahrzehnten darum bemüht, dass diese Vision in vielerlei Hinsicht Wirklichkeit wird. Unter den etwa 2,7 Millionen Deutschen aus dem postsowjetischen Raum gibt es eine Reihe von Autorinnen und Autoren, die sowohl auf Deutsch als auch auf Russisch schreibt.

Vertreter der älteren Generation, einige von ihnen gehörten zu den Gründern des Vereins 1995, hatten zum Teil bereits zu Sowjetzeiten dem Schriftstellerverband der UdSSR angehört und können hochwertige literarische Werke vorweisen, sowohl im Genre Lyrik als auch Prosa. Die bekanntesten Namen der Gründergeneration sind u. a. Nora Pfeffer, Viktor Heinz, Johann Warkentin, Nelli Kossko, Viktor Schnittke, Wendelin Mangold, Agnes Gossen, Waldemar Weber, Robert Weber, Nelly Däs.

Am 14. Oktober 1995, nach einer Lesung in Bonn mit vielen Gästen, wurde nach einer Autorensitzung beschlossen, den Literaturkreis der Deutschen aus Russland zu gründen, als eine Art neue literarische Heimat für die russlanddeutschen Autorinnen und Autoren aus der den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – ursprünglich mit 14 Mitgliedern. Bis 2007 leitete Agnes Gossen (Giesbrecht) engagiert den Verein, der weitgehend von den privaten Initiativen der Mitglieder lebte. Im ersten Vorstand wirkten neben Agnes Gossen auch Nelli Kossko (stellv. Vorsitzende), Johann Bär und Dimitri German mit. Zum Redaktionsteam gehörten lange Jahre unter anderen Viktor Heinz, Wendelin Mangold, Waldemar Hermann und Lore Reimer.

Aktuelle Bücher des Vereins, eine Auswahl (c) LITO und BKDR.

2007 waren insgesamt 96 Mitglieder im Verein aktiv – in einigen Bundesländern waren regionale Vereinsgliederungen entstanden, die in Kooperation mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. und anderen Vereinen und Institutionen das Kulturleben der zugewanderten Deutschen aufmischten. Publikationen (Literaturkalender, Almanache, Sammel- und Einzelwerke), Seminare, Lesungen sowie Beteiligungen an integrativen Kulturveranstaltungen und Buchmessen (Leipzig, Frankfurt/Main) gehören nach wie vor zu den Aktivitäten des Literaturkreises. 2014 wurde der Literaturkreis der Deutschen aus Russland e.V. mit dem Förderpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.

Die Kinder- und Enkelgeneration auf dem Vormarsch

Die zweite Gruppe des Vereins besteht aus jüngeren Autorinnen und Autoren, die vorwiegend in den 1990er-Jahren und später nach Deutschland eingereist, teils hier aufgewachsen sind und in ihren literarischen Arbeiten verstärkt auch Themen wie Integration und Ankommen in der für sie fremden Welt aufgreifen. Dabei berichten sie nicht nur von Schwierigkeiten ihres Einlebens in die deutsche Gesellschaft, sondern ebenso von heiteren Seiten, von Missverständnissen und Fettnäpfchen bei Begegnungen mit der neuen Heimat. Die Verarbeitung ihrer eigener Familiengeschichten bleibt dabei selbstverständlich nach wie vor eines ihrer wichtigsten Anliegen. Während einige von ihnen bereits in zahlreichen Anthologien, sowohl deutschsprachigen als auch russischsprachigen Literaturzeitschriften veröffentlicht haben und von diversen Medien rezensiert und erwähnt wurden, sind andere noch auf dem Weg dorthin.

Spricht man heutzutage über die Literatur der deutschen Autorinnen und Autoren aus den Ländern der ehemaligen UdSSR bzw. über die „russlanddeutsche Literatur“ der Gegenwart, so kommt man nicht um solche Namen umhin wie Eleonora Hummel (u. a. Chamisso-Preisträgerin), Ella Zeiss (Kindle Storyteller-Award-Gewinnerin 2018), Elena Seifert (Russlanddeutscher Kulturpreis von Baden-Württemberg 2010), Andreas A. Peters (u. a. Preisträger des SCIVIAS-Literaturwettbewerbs 2019), aber auch solche wie Ira Peter, Viktor Funk, Elina Penner, Artur Weigandt, Katharina Martin-Virolainen, Artur Rosenstern, Melitta L. Roth, Max Schatz, Irene Langemann, Katharina Dück, Georg Smirnov oder Elli Unruh.

Einige dieser Autorinnen und Autoren haben in jüngster Zeit resonanzstarke Bücher in deutschen Publikumsverlagen veröffentlicht. Zwar sind nicht alle diese Autorinnen und Autoren aktive Mitglieder der Literaturvereinigung, doch finden sich ihre Texte – Lyrik und Prosa – regelmäßig in den Almanachen des Vereins und geben auch der jüngeren Generation der Russlanddeutschen eine würdevolle Stimme. Das wiederum unterstreicht den ursprünglichen Gründungsgedanken: Durch vielfältige Aktivitäten des Vereins die Literatur, ein untrennbarer Teil der russlanddeutschen Kulturgeschichte und Brücke zur Verständigung, fördern und die Lebenswelten der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion mit der deutschen Gegenwartsliteratur verbinden.

Vorstand des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e. V.