Artur Rosensterns „Die Rache der Baba Jaga“ – eine Rezension

Begegnet man in der heutigen Welt einer leibhaftigen Hexe, so handelt es sich um die Schwiegermutter – so erging es zumindest Gisbert. Eher stolpernd als schreitend wird er zum Helden des deutsch-ukrainischen Liebesromans aus der Feder von Artur Rosenstern. Ein köstliches Lesevergnügen mit  hohem Fremdschäm-Faktor…

Ein Gastbeitrag von Tatjana Schmalz

In Liebesfragen sind keine sinnvollen Ratschläge einzuholen. Andernfalls ließe sich doch die Koexistenz zweier grundverschiedener Spruchweisheiten erklären: „Gleich und gleich gesellt sich gern“ und „Gegensätze ziehen sich an“. Voller Gegensätze steckt auch die Beziehung zwischen dem Versager Gisbert und der ukrainischen Überfliegerin Julia. Dass ein Mann überhaupt auf eine Maid weit oberhalb seiner Liga schielt, kennt man sonst nur aus russischen Volksmärchen. Darin erobert der Bauernsohn Iwan-Dummkopf auf wundersame Weise die wunderschöne und weise Königstochter, doch der Weg dahin ist natürlich niemals asphaltiert …


Gisberts und Julias Liebesgeschichte entspinnt sich an dem wohl sagenumwobensten aller deutschen Orte, in Bielefeld – erst im vergangenen Jahr 2019 beging die sogenannte Bielefeld-Verschwörung ihr 25. Jubiläum! https://www.bielefeldmillion.de/bielefeld-verschwoerung/

Die Romanhandlung spielt im Jahr 2003 als der Protagonist bereits im 20. Semester Slawistik studiert, ohne auch nur in die Nähe von einem Abschluss zu gelangen. Doch mit Julias Einzug in die Männer-WG steht Gisberts Leben plötzlich Kopf. Und dass die hübsche Doktorandin Julia seinem Buhlen im wahrsten Wortsinn erliegt, mutet überaus märchenhaft an. Vielleicht leidet Julia bloß unter dem Helfer-Syndrom? Jedenfalls endet die Idylle beim Kennenlernen mit Julias Eltern. Während der Vater recht umgänglich ist, entpuppt sich die Mutter als die Reinkarnation der Waldhexe Baba Jaga. In Wahrheit liegt es nicht (nur) an Gisbert selbst, da hier zwei Welten aufeinanderprallen. Zwei Kulturen, zwei Erziehungsstile und zwei Geschlechterstereotype. So ist der gutherzig naive Gisbert in den Augen von Julias Mutter kein richtiger Mann. Aber er bekommt die Gelegenheit, einer zu werden, indem er den Sommerurlaub nutzt, um Julias Herkunftsland, Verwandtschaft und deren Kultur kennenzulernen.


Gemeinsam mit einem befreundeten Geistlichen bestreitet Gisbert den waghalsigen Roadtrip von Bielefeld in das zivilisationsferne ukrainische Dorf Olixandriwka. Auf ihrer Reise und am Zielort kommt es im Hotel, in der Banja, im Wald, auf dem Friedhof und im Gefängnis zu allerlei klamaukigen Szenen, die einem die Haare zu Berge stehen oder mit der Hand an Mund oder Stirn greifen lassen. Gewiss würde eine Verfilmung die Menschen scharenweise ins Kino locken!

Gisbert ist ein Held zum Fremdschämen, über dem man getrost seine Schadenfreude ergießt und den man wohl auch bemitleidete, wenn er nicht jedes sich andeutende Fettnäpfchen zielsicher aufspürte und mit einer „Arschbombe“ trockenlegte. Gisbert ist ein „Held unserer Zeit“ (wie in der gleichnamigen Erzählung von Michail Lermontov), der von Versagensängsten geplagt wird. Nur dank seines guten Herzens erobert er doch noch die richtige Frau und erhält die Chance auf ein strukturiertes Leben. Ob er dadurch zum Spießer wird?

Das Buch hat nicht nur Verfilmungs- sondern auch Fortsetzungspotenzial. Etliche Fragen bleiben offen: Was wird aus Julias Geschwistern? Mischt sich die garstige Schwiegermutter in die Ehe und Kindererziehung ein? Und wird Julia ihrer Mutter mit der Zeit immer ähnlicher, sodass Gisbert eines Morgens neben einer gleichaltrigen und ungemein attraktiveren Version seiner Schwiegermutter erwacht? Ausreichend Stoff für weitere Fettnäpfchen würde die deutsch-ukrainische Liebesbeziehung ja bieten. Einzig hinderlich erscheint mir da nur der Buchtitel: „Die Rache der Baba Jaga“ könnte dahingehend fehlinterpretiert werden, dass es sich bereits um die Fortsetzung eines Werks handelt. Wie aber hieße die Fortsetzung der Nicht-Fortsetzung? Womöglich „Die Rache der Baba Jaga – Genesis“, wo in einem Wechsel der Erzählperspektive Julias persönliche Baba-Jaga-Werdung mit Rückblenden zum Lebensweg ihrer Mutter versetzt und tiefenpsychologisch durchleuchtet wird. Ein derartiger Werktitel schreit förmlich nach dem Finale als Trilogie! „Die Rache der Baba Jaga – Origin“, wo das Schicksal von Julias Bruder nachverfolgt wird und Gisbert plötzlich in kriminelle Strukturen hineingerät, als der verschollene Bruder aus dem ukrainischen Gefängnis ausbricht und sich nach Bielefeld absetzt…
Damit schließe ich mit einem Zitat aus dem Liederrepertoire des Musikkünstlers Udo Lindenberg: „Und sehen wir uns nicht in dieser Welt, dann sehen wir uns in Bielefeld!“


Artur Rosenstern: Die Rache der Baba Jaga. 1. Auflage 2020, erschienen im Verlag Monika Fuchs: https://verlag-monikafuchs.de/product/die-rache-der-baba-jaga/


An dieser Stelle bedanke ich mich herzlich beim Verlag Monika Fuchs für das wunderschöne Rezensionsexemplar! Es war eine kurzweilige und beflügelnde Lektüre!