Die Autorinnen Nina Paulsen und Agnes Gossen im Interview
(Die Fragen stellte die Journalistin und Autorin Katharina Martin-Virolainen, VadW)
Katharina Martin-Virolainen: Vor einiger Zeit ist beim BKDR- Verlag der Sammelband „Begegnungen: Russlanddeutsche Autoren im Gespräch und Porträt“ erschienen. Wie ist die Idee dazu entstanden, Interviews und Porträts von russlanddeutschen Autoren in einem Buch zu sammeln?
Nina Paulsen: Mein vertieftes Interesse für die russlanddeutsche Literatur und ihre Akteure ist in über 40 Jahren zur Herzensangelegenheit mit viel Forschungsdrang geworden. In meinem mehr als 20-jährigen Berufsleben bei der deutschsprachigen Zeitung „Rote Fahne“ / „Zeitung für Dich“ in Slawgorod, Altairegion, waren es Alexander Beck, Waldemar Spaar, Andreas Kramer und Edmund Günther, mit denen ich mehrere Jahre zusammengearbeitet habe. Woldemar Herdt, Friedrich Bolger und Ewald Katzenstein, aber auch Johann Warkentin, Dominik Hollmann oder Ernst Kontschak habe ich bei Autorenseminaren und Dichterlesungen erlebt. Schon damals sind einige Interviews und Porträts entstanden, die für die vorliegende Publikation aktualisiert und ergänzt wurden. Viel intensiver ist es dann in Deutschland geworden, wo ich seit 2000 lebe und seit 2002 Redakteurin bei der Landsmannschaft bin. Hier hatte ich das Glück, mit weiteren russlanddeutschen Autoren in Kontakt zu treten und sie für aufschlussreiche Interviews zu gewinnen.Zahlreiche Gespräche und literarische Porträts bekannter und weniger bekannter russlanddeutscher Autoren aus allen Generationen sind in der Verbandszeitung „Volk auf dem Weg“, in den Heimatbüchern der LmDR, aber auch im Wandbildkalender des Historischen Forschungsvereins oder im Almanach des Literaturkreises der Deutschen aus Russland erschienen.
Verstreut über Jahrzehnte und allerhand Publikationen, ist dieser Lesestoff, der in seiner Gesamtheit eine vielschichtige und kenntnisreiche Dokumentation der Entwicklungen im literarischen Bereich der Russlanddeutschen darstellt, mit der Zeit auch für interessierte Leser nicht immer zugänglich. In einem regen Austausch mit Agnes Gossen, die in den vergangenen Jahren ebenfalls mit vielen russlanddeutschen Autoren Gespräche geführt hat, kam irgendwann die Idee, das alles unter einem Dach in Buchform zusammenzufassen. Schnell war auch der Titel gefunden: Begegnungen.
Agnes Gossen: Ich kannte die russlanddeutsche Literatur vor meiner Umsiedlung nach Deutschland 1989 nur aus den deutschen Lehrbüchern für den erweiterten Deutschunterricht in den Schulen, aus der Zeitung „Neues Leben“ und den Zeitschriften „Heimatliche Weiten“ und „Phönix“. Ein paar Jahre später in Deutschland lernte ich auf meinem ersten Autorenseminar, das von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am Bodensee organisiert wurde, mehrere bekannte Vertreter dieser Literatur kennen. Fünf Jahre später wählte mich ein Teil dieser Autoren zur Vorsitzenden des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e. V., der in den zwölf Jahren meiner Tätigkeit von 14 Mitgliedern am Anfang bis auf 96 Mitglieder anwuchs. In dieser Zeit und auch später habe ich viele Gespräche mit russlanddeutschen Autoren geführt, Interviews gemacht und Rezensionen geschrieben, habe von ihnen sehr viele Briefe und Texte für die Autorenseminare und Almanache bekommen, später auch fast hundert Bücher mit Autorenwidmungen. Also war es auch für mich sehr wichtig, diese Zeitdokumente – viele der vor Jahren interviewten Autoren leben nicht mehr – in Buchform zu veröffentlichen, damit mit der Zeit aus diesen kleinen Mosaiksteinchen ein mehr oder weniger vollständiges Bild der Literaturszene der Deutschen aus Russland entstehen kann. Im Buch wird ein Ausblick auf den zweiten Band gewagt. Dieser wird Interviews und Porträts von russlanddeutschen Autoren beinhalten, die erst in Deutschland schriftstellerisch tätig geworden sind.
K. M. V.: War die Idee zum zweiten Band von Anfang an da, oder hatte sich diese im Laufe der Entstehung des ersten Bands entwickelt?
N. P.: Eigentlich sollten sämtliche Interviews und Porträts in einem Band erscheinen, nun ist daraus auf Vorschlag des Verlags ein Doppelband geworden. Im Januar 2021 ist Band 1 der „Begegnungen“ erschienen, der Gespräche mit Literaturwissenschaftlern, Literaturkritikern und Autoren zusammenfasst, die bereits in der ehemaligen Sowjetunion literarisch aktiv waren. Eingeleitet werden die Interviews durch literaturkritische Aufsätze, die „Einblicke in die Vergangenheit und Gegenwart der russlanddeutschen Literatur“ (Nina Paulsen) bieten und die Entwicklungen um den „Literaturkreis und seine Aktivitäten, die Zusammenarbeit mit Verlegern und Förderung junger Autoren“ (Agnes Gossen) beleuchten.
Noch in diesem Jahr soll auch Band 2 erscheinen, der sich mit Autoren beschäftigt, die erst in Deutschland literarisch aktiv geworden sind. Die ausgewählten Porträts stellen russlanddeutsche Autoren aus allen Generationen vor: solche, die in der Sowjetunion zu den führenden Vertretern und Mitgestaltern der russlanddeutschen Literatur gehörten, und solche, die erst in Deutschland zur literarischen Tätigkeit gefunden haben – darunter Vertreter der älteren und der jüngeren Autorengeneration.
A. G.: Ich muss zugeben, dass unser Projekt etwas „ausgeufert“ ist. Zuerst waren nur Interview mit Kurzbiografien vorgesehen. Dann kamen die literarischen Porträts dazu, wobei ich meine zurückgezogen habe, als wir bei 600 Seiten waren. Angedacht war zuerst ein Band im DIN-A4-Format. Als der BKDR Verlag uns vorschlug, das Buch in seinem üblichen Format für literarische Werke zu veröffentlichen und es damit auf zwei Bände zu verteilen, waren wir einverstanden, zumal es thematisch möglich war.
K. M. V: Was ist das Ziel dieses Projekts?
N. P.: Das Buch ist eine Dokumentation mit O-Tönen bereits verstorbener Autoren und solcher, die die Literatur der Russlanddeutschen hier und heute mitgestalten. In die Publikation sind Interviews und Porträts eingegangen, die zwar überwiegend in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden sind, inhaltlich aber eine Zeitspanne abdecken, die von literarischen Bemühungen in der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit über die Anfänge der deutschen Literatur bzw. des deutschen Schrifttums nach dem Krieg ab dem Ende der 1950er Jahre bis in die neueste Zeit in Deutschland reicht. Die Geschichte der russlanddeutschen Literatur gleicht einem großen Mosaik, das noch im Entstehen begriffen ist. Trotz einiger aufschlussreicher Forschungsarbeiten und Publikationen der letzten Jahrzehnte, die verschiedenste Aspekte dieser Literatur vielfältig und differenziert beleuchten, gibt es immer noch zu viele Themen, die unberührt geblieben sind und auf engagierte Forscher warten. Durch Interviews mit russlanddeutschen Autoren, Literaturwissenschaftlern und -kritikern sowie ausgewählte Porträts von Literaten, die die Entwicklung der deutschen Literatur der Nachkriegszeit in der Sowjetunion als Weggestalter und Wegbegleiter in verschiedenem Maße mitgeprägt haben und dies immer noch tun, soll das Bild der russlanddeutschen Literatur durch persönliche Einblicke und Erfahrungen, weitere aufschlussreiche Facetten und unterschiedliche Sichtweisen ergänzt und bereichert werden. Dazu sollen das bereits erschienene Buch und der darauffolgende Band 2 beitragen.
A. G.: Das Ziel ist, unsere Autoren bekannter zu machen und gegen das Vergessen der mittlerweile von uns gegangenen Literaturschaffenden anzukämpfen. Wir wollten zuerst unsere Interviews unter einem Buchdeckel vereinen. Ich fand diese Selbstauskünfte unserer russlanddeutschen Autoren wichtig und interessant, weil sie ein wichtiger Teil der Geschichte der russlanddeutschen Literatur sind und auch mit dem Schicksal unseres „Volkes auf dem Weg“ eng verbunden sind. Wie bei der älteren Generation in Russland so auch als Dokument unserer Anfänge in Deutschland in den 1990er Jahren, als viele Autoren in ihre historische Heimat umsiedelten, darunter auch viele junge Lyriker, Liedermacher und angehende Prosaschriftsteller. 2010 bekam ich die Ehrengabe des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg für Literatur und Literaturwissenschaft für die Förderung junger russlanddeutscher Autoren in Deutschland als Vorsitzende des Literaturkreises der Deutschen aus Russland. Ich hatte damals eine 120 Seiten dicke Mappe mit meinen Interviews, Rezensionen und Artikeln über unsere Aktivitäten gesammelt und wollte sie dem Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte Detmold überlassen, damit die Anfänge und Aktivitäten des Literaturkreises dort aufbewahrt wurden. Dann landeten diese Texte in siebenfacher Anfertigung auch bei der Jury des Russlanddeutschen Kulturpreises. Ich empfand es als Wink des Schicksals, dass sie veröffentlicht werden müssen und nicht im Museum verstauben.
K. M. V.: Warum ist das so wichtig, dass wir als Deutsche aus Russland unsere „eigene“ Literatur und deren Schöpfer kennen?
N. P.: Die Literatur der Russlanddeutschen ist ein wichtiger, untrennbarer Teil der russlanddeutschen Kulturgeschichte. Diese Literatur, qualitativ sehr unterschiedlich, thematisiert die Vergangenheit und Gegenwart der Russlanddeutschen – in persönlichen Berichten und Geschichten, Gedichten und Poemen, Erzählungen und Romanen. Die „russlanddeutsche Geschichte ist gut aufgehoben in ‚russlanddeutscher Literatur‘“, um es mit den Worten der bundesdeutschen Literaturwissenschaftlerin Annelore Engel-Braunschmidt zu sagen. Die Werke vieler russlanddeutscher Autoren in Deutschland stehen stellvertretend für die literarischen Rückblicke auf die schicksalhaften Erlebnisse der Russlanddeutschen. Sowohl in der Zwischenkriegszeit, als die Entfaltungsdauer der „sowjetdeutschen“ Literatur in den städtischen Zentren Engels (Wolga) sowie Odessa und Charkow (Ukraine) knapp bemessen war, als auch in den Nachkriegsjahrzehnten, als sie sich nicht frei entfalten konnte, hatte diese Literatur nie eine massenhafte Verbreitung, nicht zuletzt aufgrund des rasanten Sprachverlusts der verbannten und verstreuten Deutschen in der Sowjetunion der Nachkriegszeit, der politisch gewollt war. Unter den Verhältnissen der staatlich organisierten Assimilierung war die deutsche Muttersprache jahrzehntelang auch ein Sorgenkind der „sowjetdeutschen“ Literatur. Inzwischen findet die Literatur der Russlanddeutschen schon seit fast drei Jahrzehnten hierzulande statt. Autoren aus dem Kreis der Russlanddeutschen greifen Themen der Geschichte, aber auch der Gegenwart mit den komplexen Befindlichkeiten der russlanddeutschen Aussiedler in Deutschland auf. Auch die sprachlichen Voraussetzungen sind hier und heute andere. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch der Literatur der Russlanddeutschen, gehören zusammen. Diese Erkenntnis fehlt zwar noch den meisten, ist aber nicht hoffnungslos.
A. G.: Die Literaturszene hat sich sehr verändert, weil sehr viele Autoren der mittleren und jüngeren Generation in Erscheinung getreten sind, neue Themen und andere Erfahrungen und kreative Ideen mitgebracht haben – die deutsche Gegenwart tritt langsam in unsere russlanddeutsche Literatur ein. Unsere Autoren sind das Sprachrohr der Deutschen aus Russland: Wenn unsere Bücher gelesen werden, können die Einheimischen uns besser verstehen und weniger Vorurteile uns gegenüber haben. Der wichtigste Teil des Buches sind die Selbstauskünfte der Autoren, die ihre literarische Entwicklung, ihre Arbeitsweise und ihre Gedanken widerspiegeln. Da es wahrscheinlich auch für unsere Nachkommen interessant sein wird, mehr über das Leben ihrer Vorfahren im 20. Jahrhundert in Russland und ihren großen Exodus nach Deutschland Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts zu erfahren, wird zweifellos auch die Literatur der Zeitzeugen später von großer Bedeutung sein, ebenso wie unsere Erzählungen, Gedichte und Romane sowie die Literaturkritik. Für mich war es auch wichtig, einige junge Autoren und Liedermacher, die jahrelang im Literaturkreis aktiv waren und der zu ihrer geistigen Heimat wurde, vorzustellen. Zunehmend erlebt die Literatur der Russlanddeutschen eine gewisse Nachfrage seitens der Literaturwissenschaftler und Historiker, es gibt bereits ein Dutzend mir bekannte Dissertationen zum Thema „Russlanddeutsche Literatur und Integration“. Viele Interessenten beklagen den Mangel an Quellen und den schwierigen Zugang zu den Büchern, die in kleinen Auflagen bei kleinen Verlagen erscheinen. Es mangelt auch an Literaturkritik und Buchbesprechungen von Büchern deutscher Autoren aus Russland.
Katharina Martin-Virolainen: Was ist das Besondere an unserer Literatur und ihren Schaffern? Was können wir tun, damit die russlanddeutsche Literatur und unsere Schreibenden in der gesamtdeutschen Literaturlandschaft bekannter und sichtbarer werden?
Nina Paulsen: Das Besondere der Literatur der Russlanddeutschen gründet vor allem in den historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen rund um die russlanddeutsche Volksgruppe. Ebenso wie die Tatsache, warum diese Entwicklungen, größtenteils dramatisch und schicksalhaft, sich erst Jahrzehnte danach in ihrem Schrifttum niederschlugen. Die Angst nach den grauenhaften Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit saß mitunter so tief im Nacken, dass sie die Deutschen noch jahrzehntelang nicht losließ. Statt des offenen Widerstandes standen die deutschen Autoren und ihre deutsch geschriebene Literatur mehrheitlich eher in einer „sprachlichen Opposition“ zur Macht. Auch wenn die Anzahl der russlanddeutschen Autoren der Nachkriegsjahrzehnte eher übersichtlich war und die Literatur als solche keine massenhafte Verbreitung fand – für die Deutschen in der Sowjetunion hatte ihre deutsch geschriebene Literatur einen nicht zu unterschätzenden Wert im Bemühen um ihre sprachlich-kulturelle und historische Identität. Die deutsche Muttersprache, mehr war den Russlanddeutschen nach dem stalinistischen Genozid nicht geblieben, wurde als Rückgrat der Identität empfunden. Die Literatur war einer der Wege, sie zu fördern. Dafür haben viele russlanddeutsche Schriftsteller plädiert und gelebt. Mit der Massenauswanderung ab Ende der 1980er und vor allem Anfang der 1990er Jahre gingen der russlanddeutschen Literatur im postsowjetischen Raum die Leser weg, ihnen folgten schließlich die Autoren. Inzwischen ist in Deutschland so etwas wie eine eigenständige russlanddeutsche Nachwende-Memoirenliteratur entstanden. Zahlreiche Publikationen sind in deutschen Verlagen, bei kirchlichen Einrichtungen oder auch in Selbstverlagen erschienen. Zunehmend treten jüngere Autoren – die Kinder und Enkel der Zeitzeugengeneration – mit ihren Werken auf den Plan und damit auch die Hoffnung, dass die Literatur der Russlanddeutschen aus dem eigenen Schatten heraustritt und sichtbarer wird. Auf die Frage, wie die Literatur der Deutschen aus Russland sein sollte, damit sie die Nische der Bedeutungslosigkeit verlässt und wahrgenommen wird, findet sich in dem Buch eine Aussage des namhaften Schriftstellers und Wegbegleiters der russlanddeutschen Literatur, Herold Belger (1934-2015):
„Die Erinnerungsliteratur ist zweifelsohne nach wie vor berechtigt – das Leid und der Schmerz, die sich in der Volksgruppe jahrzehntelang aufgestaut haben, müssen raus… Ihren nationalen Schmerz haben die russlanddeutschen Autoren, denke ich, noch nicht völlig ausgeschöpft, nicht zu Ende erzählt. Aber nicht alles, was schwarz auf weiß steht, ist Literatur. Und Literatur ist kein Hobby, das man in der Nachtschicht oder zwischendurch aus Spaß erledigen kann… Auch für die russlanddeutschen Autoren ist es Zeit, eine neue qualitative Ebene des künstlerischen Ausdrucks zu erschließen und ein Verständnis für das reale Schicksal unserer Ethnie zu entwickeln. Nur in der Vergangenheit leben und von Erinnerungen zehren, heißt auf der Stelle treten, zurückbleiben und geistig stagnieren. Dabei hat sich das Leben der Russlanddeutschen in Deutschland entscheidend geändert, neue Generationen sind herangewachsen, die Empfindungen und Vorstellungen haben neue Farben bekommen. Es ist Zeit, in die heutige Realität einzutauchen und hartnäckig neue Höhen anzustreben. Die ältere Generation hat ihre Mission erfüllt, und die Stimmen der Jüngeren sollen auf neue Art erklingen. Das ist das Gebot der Zeit.“
Agnes Gossen: Ja, was können wir tun, damit die russlanddeutsche Literatur und unsere Schreibenden in der gesamtdeutschen Literaturlandschaft bekannter und sichtbarer werden? Darüber diskutieren wir schon seit Jahren. Unser kleines leidgeprüftes Völkchen ist kein Staub im Winde und hat das Recht darauf, dass unsere Geschichte und Literatur, die sein Schicksal widerspiegelt, ein Teil der gesamtdeutschen Geschichte und Literatur wird. Leider mangelt es an Publikationsmöglichkeiten, an objektiver Literaturkritik und an Erfahrungen in der Vermarktung auf dem übersättigten deutschen Büchermarkt. Wir brauchen ein Literaturinstitut, um unsere literarischen Aktivitäten auf eine professionelle Basis zu stellen – Sponsoren suchen, ein interessiertes Publikum für die Präsentation neuer Bücher gewinnen, bessere Vernetzung und Präsenz in den digitalen Medien entwickeln. Das Beispiel des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland zeigt, dass das viel eher möglich gewesen wäre, wenn unsere Wissenschaftler und Literaten viel früher die notwendige finanzielle Unterstützung bekommen hätten. Das bayerische Beispiel eines Kulturzentrums für Deutsche aus Russland sollte in anderen Bundesländern Schule machen, damit unsere Geschichte und Literatur sichtbarer und präsenter werden könnten. Frieda Banik hat es zum Beispiel in Bremen geschafft, dass eine von ihr vorgeschlagene Literaturliste mit einem Dutzend Bücher russlanddeutscher Autoren als Empfehlung des Bildungsministers für Schulen verbreitet wurde. Es wäre vielleicht auch an der Zeit, Lesebücher mit ausgewählten Texten unserer besten Autoren zusammenzustellen, wie das Wendelin Mangold vor 20 Jahren gemacht hat. Und zwar nicht nur Lesebücher für interessierte erwachsene Leser oder Forscher, sondern auch für Schüler verschiedener Altersgruppen mit Werken aus Kinderbüchern von Nora Pfeffer, Reinhold Leis, Nadja Runde, Waldemar Schulz und vielen anderen, die gelegentlich Kindergedichte und Märchen geschrieben haben. Wir sollten mehr Lesereisen organisieren und auch digital aktiver werden, wie das seit Corona immer öfter in den Sozialen Medien geschieht. Es gab gewiss sehr viele unvergessliche Begegnungen oder besondere Aussagen, die euch in Erinnerung geblieben sind: Welche waren das?
N. P.: Praktisch in jedem Interview gibt es Aussagen und Beschreibungen, die durch ihre Emotionalität und persönliche Betroffenheit unter die Haut gehen oder auch aufschlussreiche Ansätze bieten. Die tragische, unlösbare Problematik der russlanddeutschen Literatur der Nachkriegszeit beschreibt der Schriftsteller und Literaturhistoriker Hugo Wormsbecher aus Moskau folgendermaßen:
„Das entscheidende Problem unserer Literatur gründete in der ungerechten Lage des Volkes… Die Existenz der sowjetdeutschen Literatur nach 47 Jahren einer überaus schwierigen, ungleichberechtigten Stellung des sowjetdeutschen Volkes ist an sich ein bewundernswertes Phänomen; ihre Existenz an sich stellt auch ihre höchste Leistung dar…“
Die Literaturwissenschaftlerin Elena Seifert aus Moskau formuliert es ähnlich:
„Die fatale Lage, in die unsere Literatur aufgrund der Kriegsfolgenentwicklungen geraten war, sollte sie zu einer Fiktion verkümmern lassen, hat sie aber in ein Phänomen verwandelt. Das sowjetische Dogma hat die Literatur der Sowjetdeutschen zwar nicht vernichtet, aber doch entschieden verstümmelt.“
Zu der viel und kontrovers diskutierten Zweisprachigkeit russlanddeutscher Autoren ist bei Waldemar Weber (Augsburg) nachzulesen:
„Erstens muss festgestellt werden: Die Literatur, die hier, in Deutschland, auf Russisch von Russlanddeutschen geschrieben wird, kann nicht als russlanddeutsche Literatur gelten, das ist russische Literatur, deren Autoren russlanddeutscher Herkunft sind. Literatur orientiert sich nicht an der Ethnie, sondern an der Sprache. Diejenigen Literaten, die weiter deutsch schreiben, mit Minderwertigkeitskomplexen oder auch ohne, sind deutsche Schriftsteller und haben gegen die hiesige Konkurrenz zu bestehen. Wenn sie es nicht schaffen, ist das ein Faktum ihres Schicksals, mehr nicht. Jüngere, die hier aufgewachsen sind und es geschafft haben, sind schlicht deutsche Schriftsteller mit russlanddeutschen Wurzeln.“
Mit tiefer Genugtuung kann ich feststellen, dass es uns beiden in den vergangenen Jahren gelungen ist, einige bedeutende russlanddeutsche Autoren, die nicht mehr unter uns sind, zu befragen und ihre Gedanken und Sichtweisen in aufschlussreichen und kenntnisreichen Gesprächen einzufangen. Und ebenso tief ist mein Bedauern, dass es bei einigen Autoren aus unterschiedlichen Gründen nicht geklappt hat. So ist dann auch das imaginäre Interview mit Johann Warkentin nach seinem Buch „Geschichte der russlanddeutschen Literatur“ (Hg. Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Stuttgart 1999) entstanden. Dieses imaginäre Gespräch ist voll von Gedanken, die zwar vor über 20 Jahren festgehalten wurden, aber immer noch brandaktuell und zukunftsweisend sind. Wie etwa dieses Zitat:
„Die russlanddeutsche Literatur hat zwei Endstationen: Dort liegt sie heute in den letzten Zuckungen und Krämpfen und verendet nächstens mangels Masse… Hier wagt sie zuversichtlich einen Neubeginn, wächst zahlenmäßig ‚auf Sibiriens Kosten‘, und, so störrisch manch einer den Selbstwert unsrer Eigenart beschwört, so wandlungsscheu er auch im Alther-Mitgebrachten verharrt – sie hat realiter, das heißt in schlichter Wirklichkeit, den großen Aufholspurt jetzt schon begonnen. Zielsetzung, Themenkreis, Gestaltungsweise, Sprachform – alles wird sich ändern, ob wir’s wahrhaben wollen oder nicht…“
A. G.: Wenn ich meine Interviews mit Nora Pfeffer, Viktor Heinz und Eugen Warkentin, die im Band 1 erschienen sind, lese, erinnere ich mich an viele unserer Treffen und Gespräche, ich höre buchstäblich die unverwechselbaren Stimmen dieser meiner ersten literarischen Freunde, die mich so unterstützt und ermuntert haben, in Deutsch zu schreiben, aber leider schon von uns ins Jenseits gewechselt haben. Trotzdem bin ich glücklich, dass ich sie kennenlernen durfte und unsere Gespräche zu Papier gebracht habe. Bei Nora Pfeffer, mit der ich über zwölf Jahre in Deutschland befreundet war, dauerten unsere Gespräche zu ihrem letzten Interview ein halbes Jahr, als sie schon immer schwächer wurde. Ich denke, dass sie und die anderen Autoren in ihren Büchern und in unserem kollektiven Gedächtnis weiterleben sollen, dass sie es wert sind, nicht vergessen zu werden.
K. M. V.: Wenn es einen dritten Band geben sollte – wie könnte dieser aussehen? Worauf würden Sie in Bezug auf die russlanddeutsche Literatur noch gern eingehen wollen?
N. P.: Eine direkte Fortsetzung des Doppelbandes ist nicht vorgesehen. Aber mir schwebt ein Sammelband vor, der Interviews mit russlanddeutschen Autoren und Kulturträgern einerseits und mit einheimischen Autoren und Literaturwissenschaftlern andererseits unter einem Buchdeckel zusammenfasst. Unter dem Arbeitstitel „Literatur der Russlanddeutschen: Innen- und Außenansichten“ würde sich die Edition in erster Linie mit der Problematik, Verbreitung und Wahrnehmung der Literatur der Russlanddeutschen in Deutschland (DDR und Bundesrepublik) beschäftigen. Für die Außenansichten könnten Gespräche verschiedener Autoren etwa mit Annelore Engel-Braunschmidt, Carsten Gansel, Gusel Jachina, Ulla Lachauer oder Tim Tichatzki stehen. Die Innenansichten wären in Interviews mit Artur Böpple, Victor Herdt, Wendelin Mangold, Eleonora Hummel, Hugo Wormsbecher, Nelli Kossko oder Melitta L. Roth zu verfolgen. Auch diese Interviews sind bereits in verschiedenen Publikationen erschienen oder warten noch darauf. In einem Sammelband wären sie sichtbarer und erhielten womöglich einen Perspektivwechsel. Ergänzend würde ein umfassender literaturkritischer Aufsatz mit vergleichender Betrachtung die Problematik aus mehreren Blickwinkeln durchleuchten. Auch die vorhin gestellte Frage „Was können wir tun, damit die russlanddeutsche Literatur und unsere Schreibenden in der gesamtdeutschen Literaturlandschaft bekannter und sichtbarer werden?“ wäre sicher einer der zentralen Punkte.
A. G.: Wir haben beide in unseren Archiven noch sehr viele Fotos und Briefe russlanddeutscher Autoren, auch Buchrezensionen zu zahlreichen Neuerscheinungen. Mir hat man schon öfters gesagt, zuletzt Annelore Engel-Braunschmidt, dass ich über meine Erinnerungen an viele Autoren, mit denen sich meine Wege kreuzten, schreiben sollte. Ich denke darüber auch schon länger nach, habe viele Notizen in verschiedenen Jahren gemacht, an Fotos mangelt es ebenfalls nicht. Es ist jedoch ein sehr zeitraubendes Unterfangen, aber ich will dranbleiben.
Anm. der Red.: Band 2 der „Begegnungen …“ ist im Dez. 2022 im BKDR Verlag erschienen. Beide Bände können Sie sowohl über den Verlag als auch im regulären Buchhandel erwerben. Mehr über den BKDR Verlag erfahren Sie auf: www.bkdr.de