Zur Neuerscheinung des Romans „In den Fängen der Zeit“ von Nelli Kossko (Verlag ratio-books), eine Rezension von Artur Rosenstern
„Ich weiß, es ist grausam, ein kleines Mädchen wie dich in all diese schrecklichen Dinge einzuweisen, aber ich habe sonst niemanden, mit dem ich mein Leid teilen könnte. Vergib mir, mein Kind!“ (…) Wir machten in dieser Nacht kein Auge zu, und als es dann zu dämmern begann, verließ Mama mit einem kleinen Bündel über der Schulter das Dorf. Ich hasste die NKWD-Leute, zu denen sie jetzt ging, den Kommandanten, den Krieg, die Russen und die Deutschen, ich hasste die ganze Welt und mich selber am meisten, denn schließlich war ich an allem schuld …“
Emmi Wagner ist noch keine zehn Jahre alt. Sie lebt in einem kleinen ländlichen Ort bei Kostroma in Russland. In einem Verbannungsort, wie es so viele während des Zweiten Weltkrieges und der Jahre danach gab – für einige Minderheiten, die sich der Kollaboration mit dem faschistischen Deutschland auch nur verdächtig gemacht hatten, für politische und sozial „unzuverlässige Elemente“, für Gefangene jeglicher Couleur, kurzum für Volksverräter, als die man sie zuweilen unvermittelt beschimpfte. Emmi lebt dort … nein, fristet ihr Leben und hungert zusammen mit ihrer Mutter. Der Vater wurde direkt nach Emmis Geburt in den 30er-Jahren aufgrund einer fadenscheinigen Anklage vom allseits gefürchteten NKWD abgeführt und ist nie wieder zurückgekommen. Später erfahren wir: Er wurde erschossen. Zwei ältere Brüder von Emmi gelten als verschollen. Die Mutter hat sie während der Verschleppung aus ihrer Heimat bei Odessa verloren – im durch ein Bombardement hervorgerufenen Chaos.
Emmi will nichts weiter, als gleichberechtigt behandelt zu werden. Doch weil sie zu einer verhassten Minderheit gehört, bleibt ihr dies in den meisten Fällen verwehrt. Leider nicht nur unmittelbar nach dem Krieg wird sie immer aufs Neue daran erinnert, welcher Abstammung sie ist und was für Blut in ihren Adern fließt. Bei den wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens – sei es in der Liebe, bei der Wahl der Ausbildung bzw. des Studiums oder später bei den vergeblichen Versuchen, in ihrem Beruf weiterzukommen, trifft sie auf Funktionäre und Karrieristen, die kein Blatt vor den Mund nehmen und ihr offen ins Gesicht sagen, dass sie ein „unzuverlässiges Element“ sei, kurzum ein Feind des Volkes! Das ist der Grundkonflikt der Geschichte, der den Spannungsbogen durchgehend nährt.
Doch Emmi ist sich keiner Schuld bewusst. Sie hat nichts verbrochen, weder jemanden ermordet noch ausgeraubt. Vielmehr verbiegt sie sich als Schulkind und tut beinahe alles, was man von ihr verlangt. Als beste Schülerin der Klasse hat sie sogar vor, die herrschende Gesinnung des Sowjetstaates zu übernehmen und dem Komsomol beizutreten. Sie will für die vermeintlich progressiven Ideen der sozialistischen Gesellschaft kämpfen und sich ihnen und dem Staat opfern. Dem Staat, der sie ihrer Heimat und der glücklichen Kindheit beraubt hat. All das tut sie, um sich bloß nicht als Fremde zu fühlen, sondern als eine unter ihresgleichen anerkannt zu werden. Eigentlich ein elementares Grundbedürfnis, ein plausibler Wunsch, den jeder nachvollziehen kann, der sich je als Kind von seinen Spielkameraden ausgeschlossen gefühlt hat. Doch man legt ihr Steine in den Weg, auch später – sie sei aufgrund ihrer Abstammung einer Mitgliedschaft im Komsomol nicht würdig! Ein Stigma, das sie ihr Leben lang begleitet. Als junge Erwachsene durchschaut sie die Augenwischerei, die Heuchelei und die Doppelmoral der kommunistischen Funktionäre, aber vor allem durchblickt sie bald die Schwächen des Systems und glaubt deshalb nicht an den Sieg des Kommunismus. Das bringt sie mehrfach in beinahe unüberwindbare Schwierigkeiten.
Der dreiteilige Roman von Nelli Kossko ist eine Familienchronik, die auf wahren Begebenheiten beruht und unter den Büchern der russlanddeutschen Autoren ihresgleichen sucht. Autobiografien oder biografieähnliche Berichte über schwere Schicksale der Aussiedler gibt es bereits zur Genüge, weniger hingegen literarisch wertvolle und öffentlichkeitswirksame Romane, die den Leser mittels kunstvoller Verfremdung, ausgeklügelten Spannungsbögen, stilistischer Reife, unglaublichen Detailreichtums oder einfach nur mittels ästhetisch schöner Sprache in ihren Bann zu ziehen vermögen. So, dass man das Buch nach drei Seiten nicht mehr aus der Hand legen möchte. Nicht nur rhythmisch ist der Roman hervorragend komponiert: kalte, knappe, floskelfreie Sätze, wo es darum geht, die Grausamkeit des Systems und dessen treuer Diener zu zeigen, und im Gegensatz dazu wohlüberlegte, retardierende und zum Nachdenken animierende Passagen, wenn dies die Handlung erfordert – wenn die Autorin z. B. eine bestimmte Szene aufgrund ihrer Bedeutsamkeit hervorheben bzw. heranzoomen möchte.
Was dieses Buch jedoch wesentlich mehr ausmacht, ist seine permanent durchschimmernde Authentizität. Man kann getrost davon ausgehen, dass die indessen einundachtzigjährige Autorin die im Roman geschilderten Ereignisse selbst erlebt hat und sozusagen unmittelbar aus erster Hand berichtet. Kaum zu glauben – aufgrund der Fülle an kontrastreichen Erlebnissen –, dass die kleine Emmi trotz aller Hindernisse, des Hungers und der Erniedrigungen überlebt und zu einer starken Frau, gar einer autarken Persönlichkeit, heranwächst und unermüdlich für die Gerechtigkeit kämpft. Es ist, als hätte dieser Mensch fünf Leben hinter sich.
Bei all dem erlebten Leid und Schmerz rückt das Klagen über das unermesslich schwere Los allerdings selten in den Vordergrund und wird nie zum Leitmotiv der Trilogie. Objektiv und ausgewogen, tiefgründig reflektiert und analysiert kommt die Geschichte daher. Menschen sind eben Menschen, sie machen Fehler, ob Russen oder Deutsche. Schuld an der Grausamkeit ist viel mehr das jeweilige System. Das macht die einzelnen Individuen zuweilen zu Unmenschen. Emmi, die Protagonistin, kämpft unentwegt gegen das fratzenhafte, „langsam mahlende“ und seinen Idealen Tausende von Menschen opfernde sowjetische System an, gibt nie auf (obschon sie manchmal abgrundtief verzweifelt ist). Dabei fordert sie eigentlich nur ein ihr zustehendes Grundrecht ein.
Louis Aragon schrieb vor rund sechzig Jahren im Nachwort zur französischen Ausgabe der „Dshamilja“ von Tschingis Aitmatow resümierend Folgendes: „Und dann gibt es am Fluß Kurkurёu, zwischen China und Tadschikistan, einen Jungen, der dreißig Jahre früher ein Dshigit wie alle anderen geworden wäre, er schaut uns an und spricht, und man will nur noch schweigen und zuhören. Dank sei Dir, mein Gott, an den ich nicht glaube, für diese Augustnacht, an die ich glaube mit all meinem Glauben an die Liebe.“ (übersetzt von Alex Bischof)
Daran anlehnend wage ich, meine Besprechung des Buches „In den Fängen der Zeit“, das mich zutiefst berührt hat, mit folgenden Worten zu schließen: Dank sei Dir, mein Gott, an den ich glaube, für jene stürmische Nacht, in der das Mädchen Emmi während der haarsträubenden Fährüberfahrt von Wladiwostok nach Kolyma überlebt hat und dass sie bei all dem ihr widerfahrenen Leid den Glauben an das Gute im Menschen und an die Liebe nicht verloren hat.
Quelle: Moskauer Deutsche Zeitung, Literaturrundschau 01/2019