Seit kurzem haben wir hier eine neue Kategorie „Leseproben“ eingeführt. Hier finden Sie eine Leseprobe aus „Planet Germania“ von A. Rosenstern:
„… Einen echten Wald zu sehen war ihm noch nicht vergönnt gewesen. Überwiegend trockene, weite Steppen prägten das Bild der südkasachischen Landschaften, dort, wo er die Welt als kleiner Wurm erblickt hatte. Dazu gab es vierzig Grad im Schatten, einen kristallklaren, hellblauen Himmel und die unerbittliche Sonne über den ganzen Sommer hinweg. Umso mehr faszinierten ihn die fremdartigen Naturbilder, die sich nun seinem Blick boten. Ihm drängte sich die Frage auf, ob die Menschen und das Leben in diesem Land ebenso anders waren wie die Landschaften. Einerseits blickte er mit Spannung und Freude dem Neuen entgegen, spürte aber zugleich tief im Inneren ein unerklärliches, geradezu beklemmendes Gefühl aufsteigen. Würde sich seine Seele, die gerade dabei war, um sechstausend Kilometer westwärts verpflanzt zu werden, hier wohl fühlen? Würde sie in diesem andersartigen Boden gedeihen?
Unzählige dunkelgrüne Tannenbäume zeigten sich ihm in ihrer vollen Pracht. Sie schienen sich mit ihren langen Ästen zu umarmen, ihre spitzen Wipfel ragten stolz und verschwörerisch in den bläulich weißen Himmel. Als wäre er in einem Märchen gelandet: Genau so hatte er sich als Kind einen Zauberwald vorgestellt, einen Wald, in dem allerlei Geister hausten, die alte Baba-Jaga und Koschtschej der Unsterbliche sich um Reviere stritten. An diesem Tag schaute zwar auch die Sonne auf Deutschland hinunter, doch kam sie Andrej wie ausgetauscht vor. Als wäre sie verschleiert, als traute sie sich nicht richtig, Menschen direkt in die Augen zu blicken. Aber es ist schließlich kein Sommer, sagte sich Andrej, es ist zu früh, sich darüber Gedanken zu machen.
„Hascht du viele PS, bischt du was, hascht du wenig PS, bischt du nix!“, hallte in seinen Ohren die Stimme des Onkels nach wie eine lästige Melodie eines trivialen, zufällig gehörten Liedes. Es kam ihm bekannt vor. Bereits vor vielen Jahren war er auf ein Zitat gestoßen, das ähnlich lautete. Er wusste nicht mehr, von wem es war, und nahm sich vor, irgendwann der Sache nachzugehen. Vielleicht hatte er sogar das Zitat in eines seiner Notizbücher geschrieben. Als guter Schüler hatte er nämlich die Gewohnheit gehabt, originelle Gedanken in ein Notizheft zu übertragen. Das Problem war einzig, er hatte die alten Notizbücher nicht dabei. Auf diese Reise mussten schließlich wichtigere Dinge mitgenommen werden …
Die Weisheit des Onkels über die vielen PS verfolgte Andrej den ganzen restlichen Tag und die darauffolgende Nacht, ließ ihn nicht ruhig schlafen. Dass das Leben in Deutschland anders sein würde, hatte Andrej selbstverständlich geahnt. Dass er allerdings mit solchen existentiell wichtigen Fragen bereits am ersten Tag konfrontiert würde, hätte er sich niemals vorstellen können. In seiner Heimat hatte man sich zu der Zeit noch keinen Kopf an dieser Weisheit zerbrochen. Die Mehrheit hatte die gleichen Dinge besessen und dieselben Autos gefahren. Nur wenige Menschen konnten sich von der Masse mit wirklich außergewöhnlichen Dingen oder Autos mit vielen PS abheben. Daher gab es für viele keinen Grund, sich mit derartigen Themen auseinanderzusetzen.
Die ersten Wochen in Deutschland saugte Andrej alles mit Dankbarkeit auf, was ihm die vollends integrierten Bürger über die westdeutschen Sitten berichteten. Bisher kannte er ja dieses Land überwiegend aus Briefen und Zeitungen, aber auch aus Erzählungen des (auch in Kasachstan!) bekannten Schriftstellers Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Und was hatten schon die überzogenen Berichte der begeisterten Perestroika-Reporter mit dem wirklichen Leben zu tun? Womöglich hatten sie nur ein paar Tage hier zugebracht, gut umsorgt in den besten Hotels. Was hatten schließlich die fabelhaften Geschichten von E.T.A. Hoffmann mit dem modernen Deutschland gemeinsam, das gerade so eindrucksvoll der Welt präsentiert hatte, wie man weltentrennende Mauern niederreißt, um eine neue, bessere Welt zu erschaffen? …“
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