„Ein ganzer Mann“ von Melitta L. Roth (Leseprobe)

Kurzgeschichte aus dem Buch „Gesammelte Scherben“

–  Ach komm, nur ein Schlückchen!

–  Nur ein kleines Gläschen, das schadet doch nicht. Wodka tötet alle Bakterien, das weiß man doch!

–  Auf unsere Freundschaft.

–  Auf deine Frau.

–  Auf alle unsere Frauen. Was für Schönheiten ihr doch seid!

–  Auf uns!

–  Auf die Gesundheit. Was, du willst noch nicht mal auf meine Gesundheit trinken, das nehme ich dir übel, mein Freund, sehr übel.

Wenn du in Russland oder auch in Sibirien – oder im fernen Osten wie Kolyma oder Kamtschatka – als Frau ein Gläschen ablehnst, wird es nach einigen nervigen Frageattacken irgendwann akzeptiert. Als Mann hast du keine Chance. Du wirst so lange überredet, dass es fast an Nötigung grenzt. Das hat sich in den letzten Jahren möglicherweise geändert, seit die Gesetze strenger geworden sind und es ab 23 Uhr nichts Hochprozentiges mehr zu kaufen gibt und jetzt sogar Bier per Gesetz zu einem alkoholischen Getränk erklärt worden ist. Doch vor über als vierzig Jahren standest du hinter dem Eisernen Vorhang als ein abstinenter Mann auf verlorenem Posten.

Damals befand sich Otto Adolfowitsch Reimer in der Blüte seiner Jahre. Er arbeitete als Ingenieur in einem Chemiewerk einer größeren sibirischen Stadt, war verheiratet. Und trank nicht. Auch später nicht. Genau genommen rühmte er sich, bis zu seinem 53. Lebensjahr keinen Tropfen angerührt zu haben. Nicht bei seiner eigenen Hochzeit, nicht bei Beerdigungen, und noch nicht einmal, um die Geburt seiner beiden Töchter zu begießen. Er blieb im Land des personifizierten Wodka-Klischees stets abstinent, und das will schon was heißen.

O. A. Reimer mochte einfach keinen Alkohol. Bereits als kleiner Junge hat er beobachten können, wie viel Leid daraus entstanden ist. Doch das allein kann nicht der Grund gewesen sein. Andere haben das gleiche erlebt, und es hat sie nicht daran gehindert, regelmäßig zu saufen. Wollte Otto Reimer anders sein als die anderen? Oder mochte er einfach nur nicht die Kontrolle verlieren. Jedenfalls beschloss er, kein Alkasch sein zu wollen, nicht besoffen wie eine Schuhsohle irgendwo herumzuliegen, nicht die „Kondition“ erreichen, die notwendig war, um als ganzer Mann zu gelten. Dafür zahlte er einen hohen Preis.

Was bist du nur für ein Mensch? sagten sie und meinten: Was bist du nur für ein Mann? Es ist nicht so, dass Otto der einzige Einwohner im Sowjetreich war, der nicht trank oder nur ganz wenig. Er war beileibe kein Einzelfall. Dennoch, im In- und Ausland galt die These und sie gilt noch heute, der Russe ist nicht nur einer, der Birken liebt, sondern vor allem einer, der Wodka säuft, und zwar bis zur Besinnungslosigkeit. Ein Russe ist einer, der noch mit 3,5 Promille eine siebenstündige Operation am offenen Herzen durchführen oder eine Iljuschin in feindliches Gebiet fliegen kann. Und heil wieder zurück. Der Duft des russischen Mannes ist der nach Rasierwasser. Unter der Bedingung, dass er dieses Rasierwasser innerlich anwendet und nicht äußerlich. Damit, dass er keinen Wodka trank, war Otto Adolfowitsch Reimer wirklich so etwas wie ein Unikum. Eine Absonderlichkeit, so wie ein Exponat aus dem Kuriositätenkabinett von Zar Peter des Großen. Nein, nicht ganz, denn einige dieser Präparate schwammen ja in einem Gemisch aus hochprozentigem Alkohol und anderen Substanzen, die von den frühen Meistern der Plastination streng geheim gehalten wurden. Also durchaus trinkbar. Theoretisch.

–  Was willst du damit beweisen? Deine moralische Überlegenheit?

Es schmeckt mir einfach nicht.

–  Und wie es schmeckt. Komm, ich zeig dir, wie gut das schmeckt. Gib mir mal dein Glas.

–  Auch kein Bier? Keinen Wein? Ich habe oben auf dem Schrank noch Glas Kirschen, in Spiritus eingelegt. Das ist wie Wein, hat eine schöne rote Farbe. Lecker Kirschwein, wie wärs?

–  Auch nicht mit einem Hering als Zubrot?

–  Und wenn du in der Sauna bist, trinkst du dann etwa auch nicht?

Otto ging einfach nicht gern in die Sauna, zu heiß, zu viele Leute, zu viel Nähe an einem viel zu engen Ort. Er duschte lieber, für sich, zuhause. Aber Sauna war auch so ein Gemeinschaftsding. Man hatte es gut zu finden. Wie das Saufen. Das Schnippen von Zeigefinger und Daumen an den Hals ist in Russland schon lange ein untrügliches Zeichen für: Gluck, Gluck, Gluck. Dafür, gleich was zu picheln, zu bechern, sich volllaufen zu lassen. Eine pan-national bekannte Geste für die Einnahme von klarem Weizendestillat. Auch ohne Worte allgemein verständlich.

–  Heute ist der Tag des Sieges, da sagst du doch nicht nein?

Doch.

–  Was ist los, warum will der nicht mit uns auf den Sieg über Hitlerdeutschland anstoßen?

–  Der ist eben einer von denen.

–  Sag mal, Adolfowitsch, ihr könnt wohl nicht saufen, ihr Fritzen?

–  Hört ihr, die Faschisten haben den Krieg verloren und halten sich dennoch für was Besseres.

–  Nee, der gehört nicht zu uns. So einen wollen wir hier nicht.

Nun, dieser Adolfowitsch sah sich wirklich nicht als einen Russen. Als Sohn deutscher Kolonisten wuchs er in einer Sondersiedlung in Sibirien auf und ist dort auch zur Schule gegangen, gemeinsam mit anderen Verbannten. Tschetschenen, Polen oder Krimtataren – nicht nur Deutschen. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass man ihn, nur weil er trank, für einen vollwertigen Sowjetmenschen halten würde. Oder gar für einen echten Russen. Da wurden feine Unterschiede gemacht. Wozu also trinken?

–  Wenigstens ein Tröpfchen. Was sind schon hundert Gramm?

–  Meine Oma hat ohne auch mit der Wimper zu zucken, zweihundert Gramm auf einmal hinuntergekippt. Das schaffst du auch!

–  Sei kein Spielverderber.

–  Deine Frau lässt dich wohl nicht.

Seine Frau, Valentina Petrowna Reimer, geborene Mahlerwein, war übrigens ganz und gar nicht begeistert von seiner Geisteshaltung.
„Mein Ottka trinkt nicht“, beteuerte sie, wenn sie darauf angesprochen wurde. „Dabei ist er eher schwermütig und ernst, das ist sein Charakter. Ich wünschte mir, er würde sich einmal so richtig betrinken, seinen Schmerz in Wodka ersaufen oder von mir aus eben in Wein. Das würde ihm wenigstens etwas Erleichterung bringen. Aber er bleibt nüchtern. Jede Minute, die er wach ist. Es ist schon nicht leicht mit ihm.“

Dennoch würde sie auf keinen Fall mit einer Frau tauschen wollen, die einen Trunkenbold zum Mann hatte. Sie wusste sehr genau, wie gut sie es mit Otto getroffen hatte. Sie wusste genau, was für eine Ausnahme er war. Trotz der Schwermut, die ihn von Zeit zur Zeit befiel.
Wenn Otto abgelenkt war, gossen sie ihm trotzdem Wodka in sein Birkensaftglas. Aber er merkte es und ließ das Glas stehen. Begab sich früh in eine Art innere Isolation. Er saß dabei, schaute zu, wie sich die anderen immer mehr betranken oder ging einfach, wenns ihm zu bunt wurde. Mit der Zeit konnte er beobachten, dass es drei Sorten von Trinkern gab. Die einen waren fast die ganze Zeit lustig, sangen, tanzten, waren gelöst, andere wurden schnell aggressiv und wieder andere wurden einfach nur weinerlich und wollten ihm ihre Lebensgeschichte erzählen und wie übel ihr Schicksal ihnen mitgespielt hatte. Sie patschten ihn an, hängten sich an seinen Hals und sabberten ihm früher oder später die Aufschläge seines Jacketts voll. Doch egal zu welcher der drei Gruppen sie gehörten, seine Verweigerungshaltung stellte für sie alle eine Bedrohung dar.

–  Willst du mich beleidigen?

–  Hast du einen schwachen Magen?

–  Was bist du für ein Jammerlappen?

–  Bist du am Ende kein echter Mann, sondern nur ein Waschweib?

–  Spinnst du, ein Waschweib verträgt mehr als der!

Kopfschütteln oder ungläubige Blicke war das Harmloseste, das er zu erwarten hatte. Überall löste er Befremden aus. Kein Mann, der was auf sich hielt, ließ diese Ablehnung der männlichen Privilegien auf sich sitzen. Frauen übrigens auch nicht. Nicht selten wurden ihm Prügel angedroht. Es gab Nächte, da sind die Trinker sogar handgreiflich geworden. Aber es nützte nichts. Er blieb standhaft. Er ließ sich nicht erweichen, nicht bedrohen, nicht unter Druck setzen. Vielleicht weil der schon immer ein Sturkopf war. Oder weil er sich für einen feinsinnigen und gebildeten Menschen hielt. Egal, die anderen konnten sich querstellen, er blieb bei seinem Entschluss.

Nein. Nicht doch. Njet.

Wie der blonde Mann auf diesem sowjetischen Propaganda-Plakat, der zu seinem Steak mit Kartoffeln das Gläschen Klares mit einer entschiedenen Geste ablehnt.

Danke, aber nein Danke.

Fünf Jahrzehnte lang rührte Otto Adolfowitsch Reimer keinen Tropfen Alkohol an. Doch der Abend zu seinem 53. Geburtstag sollte das ändern. Da lebte er schon lange in Deutschland, doch die Kommentare bezüglich seiner konsequenten Haltung dem Alkohol gegenüber hörten nicht auf.

–  Was bist du nur für ein Russe?

–  Wodka habt ihr bei euch drüben doch sicher schon mit der Muttermilch eingesogen!

–  Was ist falsch mit dir?

Auch seine eigenen Leute, die anderen Aussiedler und die Verwandtschaft konnten mit seiner Abstinenz nicht viel anfangen. Bis er schließlich kaum noch Familienfeiern oder andere Festivitäten mehr besuchte, die feucht fröhlich endeten.

Irgendwann haben es alle, auch die Mitglieder seiner Familie, endgültig akzeptiert, dass er nichts mit Prozenten trank. Alkoholfreies Bier oder Sekt waren damals noch nicht auf dem Markt. Ihm blieben Wasser, Limo, Milch oder sein geliebter Birkensaft. Und Kaffee natürlich. In Deutschland tranken alle Kaffee. Und zwar viel. Als integrationswilliger Mensch fing er also an, Kaffee zu trinken. Otto gefiel sich in der Rolle des nüchternen, zivilisierten Menschen, eines aufgeklärten Europäers und Laienphilosophen. Mit Halstuch und Weste. Wie ein englischer oder französischer Gentleman. Nur eben einer aus einer längst verflossenen Epoche. Lange trug er sogar eine silberne Taschenuhr mit sich, für die er extra eine Weste mit Taschen anzog. Diese Uhr war mit Blumen verziert und gab beim Öffnen eine liebliche Melodie von sich. Doch nach einigen Jahren war sie leider stehengeblieben und wanderte in eine Schublade. Seit er im Westen lebte, betrachtete sich Otto noch mehr als einen sublimen Europäer. Ein Bild, das er aus Kunst und Literatur bezog und dem seit mindestens einem Jahrhundert kaum mehr ein Europäer entsprach.

Sie kamen nach Deutschland als Frank Elstner „Wetten, dass..?“ moderierte, später wurde er von Gottschalk abgelöst. Bundesweit saß am Samstag Abend die gesamte Familie auf dem Sofa, vor sich kleine Schalen mit Nüsschen auf dem Wohnzimmertisch. Besonders aufmerksam verfolgte Otto Reimer die dazwischengeschaltete Werbung. Weichgespülte Menschen in angenehmen Interieurs. Die Spots, in denen gediegene Herren gediegene Zigarren rauchten oder Cognac-Gläser schwenkten haben es ihm besonders angetan. Das, was die sowjetischen Saufkumpane über Jahrzehnte nicht geschafft hatten, das bewerkstelligte die sanfte Verführung der abendlichen Werbeblöcke. Er fing nicht an, Zigarren zu rauchen. Nein, soweit ging die Manipulation dann doch nicht. Aber er beschloss, sich zu seinem Geburtstag eine Flasche mit einem edlen Tropfen zu besorgen und sich nach einem guten Mahl mit seiner Familie ein oder zwei Gläschen – er wollte ja nicht übertreiben – zu genehmigen. Nur im Kreise seiner Kernfamilie. Ohne die weitläufige Verwandtschaft, die hinterher über ihn herziehen würde. Sein Einknicken wäre ganz sicher ein großer Triumph für etliche Onkel und Großonkel und Vettern dritten Grades und die Schwager seiner Brüder gewesen, das wusste er ganz genau. Allerdings war er mittlerweile mit ihnen allen so zerstritten, dass sie ihn eh nicht besuchen kamen. Seinen ersten Schluck würde er in Ruhe und ohne überflüssige Zeugen genießen.

Es sollte provençalischen Rehrücken geben. Wie so oft, stellte er sich zu besonderen Anlässen selbst an den Herd. An Feiertagen verwöhnte er seine Familie mit gefüllten Cannelloni, mit original Königsberger Klöpsen oder brachte einen mit Maronen gefüllten Vogel auf den Tisch. Für Manty, Pelmeni oder Borsch‘ war seine Gattin zuständig. Das war Alltagsküche. Mit russischen und mittelasiatischen Rezepten wollte er eh nichts mehr zu tun haben, er bevorzugte Madras Curry und Quiche Lorraine.

Otto besorgte sich alle Zutaten in der Innenstadt, die französischen Kräuter, die Minikartöffelchen, das mediterrane Gemüse für die Beilage und eine gute und sehr teure Flasche erlesenen Weinbrands. Nicht irgendeinen, sondern einen echten, guten Kognac, aus Frankreich. Dafür ließ er sich von einem freundlichen Verkäufer im Weinladen ausführlich beraten. Ach und zwei passende Kognac-Schwenker kaufte er bei dieser Gelegenheit auch noch dazu. Billig war das nicht. Aber sein erstes Mal sollte ja auch etwas besonderes werden. Die Lebensmitte war längst überschritten, er hatte fast immer gearbeitet, aufs Rauchen verzichtet und Urlaube nur auf Balkonien oder im Schwarzwald verbracht. Geld war also da.

Das Gute ist: Wenn du 53 Jahre deines Lebens aktive Abstinenz gelebt hast, braucht es keine großen Mengen Alkohol, um einen gewünschten Effekt zu erzielen.

„Du willst was? Dich besaufen?“, fragte seine Frau, als er ihr seinen Plan eröffnete, „jetzt auf einmal?“

„Nein darum geht’s mir nicht. Ich will nur …“

Ja, was eigentlich? Ein Glas schwenken, gegens Licht halten, seine Nase hineinhalten und die Blume riechen, dann genüsslich nippen, wie ein Connaisseur? Sich wie ein französischer Gourmet fühlen? Wie ein englischer Lebemann, allerdings wie einer, der sein Leben lang Mäßigung praktiziert hat?

„Das schmeckt doch nicht“, beschwerte sich Valentina, die süße Likörweine bevorzugte.

„Du musst ja nicht mittrinken. Ich zwinge niemanden.“

Im Kreise seiner Familie, nach einem guten und reichhaltigen Essen – der Rehrücken war ihm vorzüglich gelungen – genehmigte sich Otto Adolfowitsch Reimer am Abend des 30. März, an seinem 53. Geburtstag, einen guten Tropfen. Und gleich noch einen, weils so schön war.

Und fiel um.

Er sackte einfach vom Sessel, lag ausgestreckt auf dem Teppich vor dem laufenden Fernseher und war nicht mehr ansprechbar. Valentina war in heller Aufregung, denn der Atem ihres Mannes ging sehr flach und er war blass, totenblass. Die beiden Sanitäter, die Ottos jüngste Tochter geistesgegenwärtig gerufen hatte, staunten nicht schlecht. Eine Alkoholvergiftung mit nur 0,015 Promille, bei einem ausgewachsenen Mann. Dazu noch einem Deutschrussen. Das hatten sie noch nie erlebt.

Das Buch ist erschienen im ostbooks Verlag (2020)

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