Kurzgeschichte aus dem Buch „Gesammelte Scherben“
– Ach komm, nur ein Schlückchen!
– Nur ein kleines Gläschen, das schadet doch nicht. Wodka tötet alle Bakterien, das weiß man doch!
– Auf unsere Freundschaft.
– Auf deine Frau.
– Auf alle unsere Frauen. Was für Schönheiten ihr doch seid!
– Auf uns!
– Auf die Gesundheit. Was, du willst noch nicht mal auf meine Gesundheit trinken, das nehme ich dir übel, mein Freund, sehr übel.
Wenn du in Russland oder auch in Sibirien – oder im fernen Osten wie Kolyma oder Kamtschatka – als Frau ein Gläschen ablehnst, wird es nach einigen nervigen Frageattacken irgendwann akzeptiert. Als Mann hast du keine Chance. Du wirst so lange überredet, dass es fast an Nötigung grenzt. Das hat sich in den letzten Jahren möglicherweise geändert, seit die Gesetze strenger geworden sind und es ab 23 Uhr nichts Hochprozentiges mehr zu kaufen gibt und jetzt sogar Bier per Gesetz zu einem alkoholischen Getränk erklärt worden ist. Doch vor über als vierzig Jahren standest du hinter dem Eisernen Vorhang als ein abstinenter Mann auf verlorenem Posten.
Damals befand sich Otto Adolfowitsch Reimer in der Blüte seiner Jahre. Er arbeitete als Ingenieur in einem Chemiewerk einer größeren sibirischen Stadt, war verheiratet. Und trank nicht. Auch später nicht. Genau genommen rühmte er sich, bis zu seinem 53. Lebensjahr keinen Tropfen angerührt zu haben. Nicht bei seiner eigenen Hochzeit, nicht bei Beerdigungen, und noch nicht einmal, um die Geburt seiner beiden Töchter zu begießen. Er blieb im Land des personifizierten Wodka-Klischees stets abstinent, und das will schon was heißen.
„„Ein ganzer Mann“ von Melitta L. Roth (Leseprobe)“ weiterlesen