Zu Wendelin Mangolds Buch „Die Wahrheit hinter der Lüge: Lyrik‐Prosa‐Dramatik“, Geest‐Verlag 2014, 230 S., ISBN 978‐3‐86685‐458‐1, 12,00 €
Wendelin Mangold wurde 1940 im Gebiet Odessa geboren, seit 1990 lebt er in der Bundesrepublik. Seine ersten Schreibversuche unternahm er Ende der Fünfzigerjahre, noch als Germanistikstudent. Von 1967 bis zu seiner Ausreise lehrte er die deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Koktschetaw (Kasachstan). Er schreibt Gedichte, Artikel, Rezensionen. Seit den frühen 70er Jahren veröffentlichte er seine Werke in der periodischen deutschsprachigen Presse und in Sammelbänden der russlanddeutschen Schriftsteller. 1988 wurde er Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR. Nach seiner Übersiedlung nach Deutschland im Jahr 1990 arbeitete er 17 Jahre bei der Seelsorge für Spätaussiedler aus den GUS-Staaten als Sozialarbeiter. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e.V., wo er im Redaktionsteam bei der Herausgabe des Almanachs „Literaturblätter deutscher Autoren aus Russland“ tätig war. Seine Gedichtbände „Rund um das Leben“, „Deutschland, hin und zurück“, „Zu sich wandern“, „Sprung ins Wasser“ verdeutlichen durch sprachliche und gedankliche Verdichtung, durch Auseinandersetzung mit Integrationsproblemen in der neuen Heimat die Gefühlslage der russlanddeutschen Aussiedler. Für seine Tragikomödie „Vom Schicksal gezeichnet und geadelt“ wurde er 2013 mit dem Hessischen Preis „Flucht, Vertreibung, Integration“ ausgezeichnet. Sein Handwerk beherrscht Wendelin Mangold meisterhaft und ist bisher unübertroffen in seiner Kreativität unter den russlanddeutschen Dichtern. Man mag seine Schreibweise mögen oder nicht, aber seine Lyrik ist Ausdruck der Gratwanderung zwischen zwei Welten, der der Russlanddeutschen und der der eingeborenen Deutschen.
Sein neues Buch „Die Wahrheit hinter den Lüge. Lyrik, Prosa, Dramatik“ hat ihm bereits folgendes Lob des Verlegers Alfred Büngen eingebracht: „Im vorliegenden Band bringt der Autor seine besondere Begabung des kurzen, engagierten, kreativen und originellen Schreibens in den verschiedensten literarischen Gattungen weit über die Aussiedlerproblematik hinaus zum Ausdruck, schafft ein inhaltliches und sprachliches Feuerwerk, das man nicht mehr aus der Hand legen mag. Literatur, die die Wahrheit hinter der Lüge entlarvt.“
Der Buchtitel wird mit einigen Zitaten, literarische Lügen seien in höherem Sinne Wahrheiten, erklärt, was offensichtlich als Echo Goethes Gedanken über Dichtung und Wahrheit zu sehen ist. Ein Thema, das seit Jahrhunderten aktuell ist und immer wieder diskutiert wird. Statt eines Vorworts präsentiert der Autor ein Märchen von einem widerspenstigen Gänseblümchen und spricht somit, wie gesagt, durch die Blume. Das Gänseblümchen verwechselt aus Neugier Tag und Nacht und macht dadurch poetische Entdeckungen, was symbolisch für den Dichterblick steht, fast nach dem romantischen Prinzip, in allen Dingen schlafe ein Lied.
So wie ein Schauspieler auf der Bühne eine andere Person darstellt, dabei aber auch einen Teil von sich selbst preisgibt, so stellt Wendelin Mangold aktuelle Probleme der Gegenwart, die oft ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben, aus verschiedenen Blickwinkeln in seinen Texten dar. Er schlüpft in verschiedene Rollen, um sie anschaulicher und nachdenklicher zu machen. Besonders burlesk wirkt sein Prosatext „Alles Lügen“, ein Panegyrikus. Hier zeigt er, wie man das tragische Schicksal der Russlanddeutschen, von dem man in Deutschland nur wenig weiß und es des öfteren mit Skepsis wahrnimmt – nur das sieht, was man sehen will, und dadurch die Vorurteile gegenüber dieser Ethnie oftmals bis zur Absurdität treibt. Mangold schildert die traumatischen Erlebnisse meistens ironisch-optimistisch, was bei seinen Landsleuten einen bitteren Seufzer und zugleich ein Lächeln hervorzurufen vermag, nach dem Prinzip, die Tragödie liege unweit von der Komödie, mit einem weinenden und lachenden Auge zugleich.
So treibt er das Thema „Heimat“ auf die Spitze, indem er die Ahnungslosigkeit der Neuankömmlinge aus Russland bildhaft offenlegt und die Ursachen dafür klärt. Besonders gelungen ist ihm das im Theaterstück „Im Kreise der Lieben“, wo er auf diese Weise die Wahrheit hinter der Lüge zum Ausdruck bringt. In diesem Bühnenstück, dem Theaterregisseur Bolat Atabayev gewidmet, analysiert und entlarvt Mangold die gegenseitigen Vorurteile der Russlanddeutschen und der Einheimischen. Es ist ein Versuch, Geschichte und Gegenwart, die Integrationsproblematik szenisch satirisch-ironisch-humoristisch zu reflektieren.
Mit seinem neuen Buch erweist sich Mangold wieder einmal als Meister verschiedener literarischer Formen und Gattungen und bleibt seinem individuellen Stil der Knappheit und Lakonie (fast nach der Redewendung „In der Kürze liegt die Würze“), der Ironie und des Humors treu. Er schreibt vorwiegend kurze Gedichte und in der letzten Zeit sogar Haikus, die er scherzhaft „Haiküsse“ nennt und meistens thematisch betitelt, im Unterschied zu der ursprünglichen Haiku-Gedichtform aus Japan. Beachtenswert sind seine Reiseimpressionen, aber auch kleine Beobachtungen und Gedanken bei täglichen Spaziergängen. Es ist immer interessant, die Spuren der „literarischen Küche“ zu entdecken, die Impulse zu verfolgen, die als Anstoß für bestimmte Texte gedient haben und in welche Form die Gedanken „verpackt“ sind. Dieses Buch gleicht hierin einer offenen Werkstatt, da Mangold nicht nur sehr viele Hinweise, bekannte Zitate oder Aussagen gebraucht, sondern auch direkt in den Fußnoten seine Meinung zu gelesenen Büchern und aktuellen Geschehnissen preisgibt, Informationen zu Persönlichkeiten, ob Politiker oder Autoren (weltbekannt oder wenig bekannt), mitliefert. Indem er dem Leser das Verstehen von bestimmten Zusammenhängen erleichtert, öffnet er seine eigene Gedankenwelt. Einige Texte sind Bolat Atabajew, dem Theaterregisseur und Menschenrechtler und Leiter des Deutschen Theaters in Kasachstan, gewidmet, der zurzeit in Köln lebt und arbeitet.
Das Buch ist eine Art lyrisches Tagebuch mit vielen kleinen Beobachtungen und großen Gedanken über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aber auch über den „Ist-Stand“ der russlanddeutschen Aussiedler in der deutschen Gesellschaft, über ihre Irrungen und Wirrungen, hierzulande heimisch zu werden. Nicht weniger beeindruckend ist seine Kurzprosa, die ihn als einen aufmerksamen Beobachter des Alltags, aber auch des politischen Geschehens ausweist, wobei er wiederum stark Ironie als stilistisches Mittel einsetzt.
Es bleibt Wendelin Mangold ein breites Leserinteresse für sein neues Buch weit über den Kreis der Russlanddeutschen zu wünschen. Er ist einer der deutschen Dichter aus Russland mit unverwechselbarer Stimme und großer Themenbreite, der zweifelsohne stilistisch sehr nahe der neuen Strömung des modernen Realismus hierzulande steht.
Agnes Gossen-Giesbrecht