Andreas Andrej Peters: Gedichte gegen den Krieg
(Eine Rezension von Nina Paulsen)
Nichts braucht ein Frieden dringender als den Aufstand gegen den Krieg. Andreas Andrej Peters ergreift Partei für alle Opfer von Kriegen, gedenkt der Gefechte um Leningrad im Zweiten Weltkrieg und erinnert an die aktuelle Situation in der Ukraine. Mit eindringlichen Bildern der Zerstörung, vehementen Flüchen auf die Kriegstreiber und ergreifenden Klagen für die Gefallenen dokumentiert und kommentiert der Dichter die Weltlage und ist das Sprachrohr für das Unbehagen aller Friedfertigen. Ein wichtiges, ein zorniges Buch im Großformat!“
Mit diesen Worten beschreibt der Schriftsteller, Literaturkritiker und Herausgeber der edition offenes feld (eof), Jürgen Brôcan, das jüngste Werk von Andreas Andrej Peters, das im November 2023 unter dem Titel „Liebe & Hunger. Ein Leningrader Poem. Wasser schöpfen im Schwarzen Meer mit einem Flügel. Gedichte gegen den Krieg“ erschienen ist.
Unter den russlanddeutschen Autoren, die in der bundesdeutschen Literaturlandschaft angekommen sind, steht der Lyriker, Erzähler, Kinderbuchautor, Übersetzer und Liedermacher Andreas Andrej Peters mit inzwischen 30 verfassten Büchern weit vorne. Die inhaltliche Bandbreite, die Peters in seinen wort- und bildstarken lyrischen und Prosawerken anspricht, ist komplex, vielfältig und vielschichtig, wobei die Achse Gott – Mensch dominiert – Gott und die Welt begegnen sich stets im Namen der Menschlichkeit.
Nicht anders ist es in seinem 30. Buch, das er selbst als sein Lebenswerk bezeichnet. Schon bevor das „zornige Buch im Großformat“ erschien, war es Peters gelungen, dem Thema öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. So ging der Autorenpreis des 24. „Irseer Pegasus“ 2022 an Andreas A. Peters für eine Auswahl an Gedichten aus „Liebe & Hunger – ein Leningrader Poem“. Mit einem Auszug aus „Liebe & Hunger“ wurde er für das Finale beim 14. Dresdner Lyrikpreis 2022 nominiert.
Mit einer Auswahl von Gedichten aus dem Band wurde Peters zum Gewinner des „Bad Godesberger Literaturpreises 2022“ gekürt. In der Laudatio heißt es:
„Auch wenn Dichter keinen Krieg verhindern können, so haben sie doch einen großen Wert. Im Gegensatz zur Presse und Politik richten sie ihren Blick auf das menschliche Leid von Soldaten und Zivilbevölkerung, geben den Ängsten, der Verzweiflung, den seelischen und körperlichen Verwundungen sowie dem einsamen und grausamen Sterben eine Sprache. Den Getöteten, den Kindern und allen, deren Leiden sich in unhörbarer Stelle vollzieht, gehört ihre Stimme.“
Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Autoren mit Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet, darunter Andreas Andrej Peters, der mit „Namenlose Stimme aus Liebe und Hunger“ die Jury beeindruckte und ein Arbeitsstipendium erhielt.
Die Journalistin und Publizistin Christine Knödler sagte als Jury-Mitglied in ihrer Laudatio:
„Das Leningrader Poem von Andreas Andrej Peters ist ein gewagtes Unterfangen: Nichts und niemanden zu vergessen ist einer der An-Sprüche – Sprich-Wörter, Sprach-Bilder, Gedanken-Sprünge ergeben ein spannungsgeladenes Bezugssystem … und eröffnen Freiräume für das Unaussprechliche und das Unausgesprochene. Sie sind zugleich Abbild des assoziativen Einkreisens von Erinnerung, dieses kunstvoll-artifiziellen Auf-Lesens historischer Leiderfahrung. Denn für engellose Zeiten braucht es die Engelszungen der Lyrik, auch und gerade derer, die dabei waren und gegen das Entsetzen anschrieben – etwa einer Anna Achmatowa oder Olga Bergholz. Mit ihnen tritt der Dichter in Dialog, um den Toten der Leningrader Blockade (s)eine Stimme zu geben. Im Rück-Blick in und mit Gedichten entstehen neue Gedichte und Ein-Sichten.“
Seit seiner Reise nach St. Petersburg in den 1990er Jahren beschäftigt sich Peters immer wieder mit den erschütternden Einzelschicksalen der Menschen während der Leningrader Blockade im Zweiten Weltkrieg. Damals wurden Gedichte geschrieben und aufgenommen wie Nahrung, an der es fehlte. Mit ihrer unzerstörbaren geistigen Intension, mit der Kraft des Wortes halfen sie zu überleben.
Sein zweigeteiltes Buch (Liebe & Hunger. Ein Leningrader Poem / Wasser schöpfen im Schwarzen Meer mit einem Flügel. Gedichte gegen den Krieg) ist inhaltlich zwar in mehrere Zyklen gegliedert, bildet aber in seiner Ausdruckskraft eine Einheit:
„Nur weit weg von den eigenen Gräbern“;
„Das Wort, das den Tod besiegte“;
„Den Tod gibt es nicht“;
„Bircha, die gescheckte Schmerzrinde“;
„Wer konnte den Weizen jemals besiegen?“;
„Können Engel auf Minen treten?“;
„Können uns Panzer nicht aus den Rippen schneiden“;
„Heute konnte ich nicht atmen“;
„Der König ist tot“;
Anstelle eines Nachworts.
Das „Leningrader Poem“ ist überschrieben mit den Zitaten „Liebe und Hunger regieren die Welt“ von Friedrich Schiller und „Deus conservat omnia“ / „Gott bewahrt alles“ (Wahlspruch im Torwappen des Hauses, in dem Anna Achmatowa wohnte, als sie das „Poem ohne Held“ verfasste), die den tieferen Sinn und die Quintessenz des Lebens im Krieg auf den Punkt bringen.
Mit eigenen Übersetzungen von Gedichten von Olga Bergholz und Anna Achmatowa sowie Ausschnitten aus den Tagebüchern von Georgij Knjasew und Jura Rjabinkin gibt Peters den Opfern des Zweiten Weltkrieges und der Leningrader Blockade eine Stimme.
In seinen Gedichten steigt Peters in die Niederungen eines Krieges ab und spürt der Ohnmacht, der Verzweiflung und dem Leid der Menschen nach, die tagtäglich dem Tod in die Augen schauen – sei es im Zweiten Weltkrieg mitten in der Zerstörung und der unvorstellbaren Hungersnot („Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg auszuradieren vom Angesicht der Erde …“; Nürnberger Prozess) oder im aktuellen Krieg in der Ukraine, der ebenfalls schon Hunderttausende Opfer gefordert hat.
Mit dem zweiten Teil „wasser schöpfen im schwarzen meer mit einem Flügel – Gedichte gegen den Krieg“ verleiht Peters vor allem den Opfern und Leidtragenden des seit nahezu zwei Jahren tobenden Krieges in der Ukraine eine Stimme, indem er „in beeindruckender Weise für das Unsagbare im russischen Angriffskrieg Worte“ findet. Seine Gedichte erschüttern, verstören, ergreifen und lassen verstummen.
In seinen metaphorischen Darstellungen des Krieges und seiner Folgen lässt sich Peters nicht nur von den Schicksalen noch lebender oder bereits dem Krieg zum Opfer gefallenen Ukrainer inspirieren, sondern auch von Gedanken aus Evangelien, Psalmen oder von Dichtern wie Ossip Mandelstam („Und Schwalben flogen nach / Ägypten den Wasserweg. / Vier Tage hingen sie, ohne mit der / Schwinge das Wasser zu schöpfen“; „Stein“, 1915), Ingeborg Bachmann mit ihrem Antikriegsgedicht „Alle Tage“ oder Christian Morgenstern mit seinem Gedicht „Die weggeworfene Flinte“.
Der erschütternde Inhalt der wort- und bildstarken Gedichte wird durch das wirkungsvolle Zusammenspiel von Versform und Aussage vertieft. Dafür nutzt Peters vielfältige lyrische Stilmittel. Fragmentarisch verkürzte Sätze stehen für den zerstörerischen Charakter des Krieges. Verschachtelte, lange Sätze und Zeilensprünge verweisen auf das unfassbare Leid, das trotz Hunderttausender Opfer nicht enden will. Die Fragen an Pyrrhus und an den Fürsten Wladimir strotzen von entlarvender Ironie und Bitterkeit. Der Refrain „können engel auf minen treten?“ („Für Viktor & Oksana, die Engel (der Ukraine)“) treibt die Ironie angesichts der Absurdität und des Grauens des Krieges auf die Spitze.
Bei all der Vielfalt der inhaltlichen und emotionalen Ansätze scheut sich Andreas A. Peters nicht, „die eigene Zerrissenheit seiner deutsch-russischen Herkunft offenzulegen und daraus ein vielstimmiges wie intertextuell versiertes Requiem zu schaffen“. Auch in seinem jüngsten Buch greift er Themen der eigenen Vergangenheit bzw. der russlanddeutschen Volksgruppe auf, die in die Gegenwart hier wie dort ihre langen Schatten werfen.
Leseproben
aus dem Gedichtband:
Winnyzja
wie heißt du, fragte die rakete ein
vierjähriges mädchen, unterwegs mit
dem kinderwagen und der mama.
wo wohnst du, fragte die rakete das
down-syndrom kind. winnyzja, sagte
das mädchen & ich wohne zu hause.
was für ein schöner name, sagte die
rakete. das „haus der offiziere“, sagte
die mutter, ist unser zweites zuhause,
es ist ein konzertsaal, wo man singt & tanzt.
die rakete hörte die letzten silben nicht,
sie war zu schnell für worte, sie hatte das
militärische objekt im auge. die mutter
konnte nicht auf einem bein tanzen & ein
chromosom fehlte ihr seitdem in winnyzja,
einer Stadt,
mit einem schönen Mädchennamen.
Olga Bergholz
… Und es kam,
gekleidet in Blut und Eis,
das Jahr 42, unbewältigtes Jahr.
Ein Jahr der Härte und der Beharrlichkeit!
Bis auf den Tod,
bis zum Tode standen wir.
Das Jahr Leningrads,
das Jahr seines Winters,
das Jahr des Stalingrader Zweikampfes.
… Der Alltag wich zurück in jenen Tagen.
Und mutig meldete das Sein seine Rechte an.
(Übersetzung A. A. Peters)
Das Spiel der Neuntöter mit dem Feuer
der vierjährige bub fährt
dreirad in gummersbach, den
bernberg hinunter, ruft: ne ubiwajte,
ja tosche tschelowek! [1]
wo hat er das her, wo
hat er das gehört?
er heißt sascha, kommt vielleicht aus
saporischschja, der alten heimat meiner
eltern-großeltern in saporoschschje,
mit den dörfern petershagen, rudnerweide.
sie wurden auch in die flucht geschlagen,
versprengt in alle 4
himmelsrichtungen,
wie nach einer AKW-Explosion.
[1] Tötet mich nicht. Ich bin auch ein Mensch!
Die Stadt hieß für ein paar Tage
wieder Stalingrad
wir haben jetzt ein halbes jahr
krieg hinter uns, wie ihn weder
eure großväter noch urgroßväter
erlebt haben, sagte jewgenij, im
vergleich zu den kämpfen um
soledar sei die schlacht der roten
armee um stalingrad im jahr 1942
gegen die deutsche wehrmacht eher
ein urlaub gewesen, sagte der wagner
chef am heck eines transportflugzeuges,
der schwarzen tulpe mit der ladung 200.
Anm. der Red.: Eine weitere Rezension von David Westphal finden Sie auf dem Blog einer der führenden deutschen Literaturzeitschriften „Das Gedicht“.