An das erste Mal, als ich diese Aufforderung gelesen habe, kann ich mich noch gut erinnern. Es war auf dem Display eines Kinderfahrzeugs, und dort wurden die lieben Kleinen aufgefordert: „Werfe eine Münze in den Geldschlitz!“ Im ersten Moment wusste ich nicht, welches Gefühl bei mir stärker war: Panik („Hilfe, wo ist die Lautverschiebung geblieben?“) oder Wut („Wie können die zulassen, dass Kinder so etwas Falsches lesen?“).
Zugegeben, gehört hatte ich Imperativformen dieser Art schon öfter, hatte das aber zunächst auf den mich umgebenden Berliner Dialekt und später auf die sprachliche Nachlässigkeit der jeweiligen Sprecher geschoben, die übrigens von Intellekt und Bildungsstand gänzlich unabhängig ist. Nach und nach begegneten mir derart verschandelte Verbformen immer öfter – häufig leider auch in geschriebener Form.
Bisweilen habe ich den Verdacht, dass Übernahmen aus dem Englischen eine Mitschuld an dieser Missachtung grammatischer Regeln tragen, denn gerade im Internet und auf Spielplattformen verfügbare Übersetzungen werden nicht immer einer so gründlichen Korrektur unterzogen, wie es die Sorgfalt für Veröffentlichungen eigentlich gebieten würde. Dennoch läuft es mir immer wieder kalt den Rücken herunter, wenn ich Varianten wie „lese“, „trete“, „gebe“ und Ähnliches als Aufforderung lesen muss.
Im Unterschied zur Stammvokaländerung von a zu ä („ich fahre“/„du fährst“, aber „fahr bitte dorthin“) wird die Vokalverschiebung von e zu i („ich esse“/„du isst“, „ich lese“/„du liest“) nämlich auch im Imperativ beibehalten: „Iss!“ „Lies!“, „Tritt ein!“, „Bitte hilf mir!“ – und das zumindest nach den geltenden Regeln kategorisch!
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich lehne mich nicht dagegen auf, im Dialekt die jeweils lokal eingebürgerten Varianten zu benutzen und diese – wenn es dem Kolorit eines Textes, zum Beispiel in der direkten Rede, dient – auch schriftlich darzustellen. Allerdings widerstrebt es mir, dass (auch mit Hilfe von Autoren, bisweilen selbst muttersprachlichen) diese falschen Formen immer weiter in unseren allgemeinen Sprachgebrauch einsickern und so die eigentlichen Regeln praktisch aushöhlen. Denn was man oft genug hört oder liest, hält man am Ende vielleicht selbst sogar für richtig.
Dafür, dass das nicht ohne Not passiert, sehe ich auch Autoren in der Verantwortung. Deshalb meine Bitte: Wenn Sie in Ihren Texten, ob literarisch oder nicht, jemanden zu etwas auffordern, denken Sie bitte nicht nur darüber nach, ob die Aufforderung selbst gerechtfertigt ist, sondern auch darüber, ob sie richtig formuliert ist!
Carola Jürchott