Reflexiv oder nicht?

Ist es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auch schon passiert, dass Sie einen Satz gelesen und sich zunächst gefragt haben, ob er richtig ist oder nicht, um dann festzustellen, dass Sie selbst auf dem Holzweg waren?

Mir ist es kürzlich so ergangen, als ich in einem Roman las, dass zwei Menschen beim Essen etwas abseits saßen und „sich die Münder mit Stoffservietten abtupften“. Da es sich bei den beiden Protagonisten um ein Ehepaar handelte, hatte ich sofort ein Bild im Kopf, wie sie sich gegenseitig betupften. Ich wollte diese Vorstellung gerade rührend finden, als mir mein Denkfehler klar wurde: Natürlich war jeder mit seiner eigenen Serviette beschäftigt, schließlich stand dort nicht, dass sie „einander die Münder abtupften“.

Genau hier liegt der sprichwörtliche Hund begraben: Dadurch, dass man in der Umgangssprache „einander“ gern durch „sich“ ersetzt und das mittlerweile auch in den Medien nicht selten zu finden ist, entstehen mitunter Missverständnisse an Stellen, wo sie gar nicht nötig wären. Wie gesagt, in diesem Fall lag der Fehler bei mir, doch damit Ihnen nicht Ähnliches widerfährt, möchte ich noch einmal kurz darauf eingehen, wann man das reflexive „sich“ benutzt und wann man es besser vermeiden sollte.

„Sich“ ist immer dann angebracht, wenn es sich auf die agierende Person selbst bezieht. Besteht das Agens des Satzes wie im oben genannten Beispiel aus mehreren Personen, ist jede von ihnen einzeln zu betrachten. Sobald eine Handlung gegenseitig ausgeführt wird, ist jede Form von „einander“ die bessere Wahl, um Missverständnisse auszuschließen. Sollte das aus irgendeinem Grund nicht möglich sein – vielleicht, weil man eine Wortwiederholung vermeiden möchte -, empfiehlt es sich dennoch, den Leser mit der Entscheidung „wer wen?“ nicht allein zu lassen. Dafür kann man selbst bei der Verwendung von „sich“ immer noch auf den Zusatz „gegenseitig“ zurückgreifen, der in der Kombination mit „einander“ allerdings zu einer Tautologie führen würde.

Da ich davon ausgehe, dass die meisten von Ihnen diesen Blog allein vor ihrem Computer lesen, konnte ich somit im ersten Satz wirklich davon ausgehen, dass Sie sich gefragt haben, ob der eine oder andere Satz richtig ist. Beim nächsten Autorenseminar könnten wir uns das zwar auch fragen, aber ich freue mich schon darauf, dass wir diese Fragen dann einander stellen und uns so gegenseitig weiterbringen.

Carola Jürchott

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