Monika J. Mannel und Agnes Gossen blicken in einem Buch auf ihre ersten Jahre zurück. Dabei spielt der Dialekt eine wichtige Rolle.
Von Ebba Hagenberg-Miliu, 03.11.2018
Ängstlich stehen die beiden kleinen Mädchen in den 1950er Jahren im rheinischen Lebensmittelladen. Die dicke Frau an der Theke schüttelt den Kopf. Ob denn ihre Mama nicht wisse, dass sie schon den letzten Einkauf nicht bezahlt habe, seufzt die Verkäuferin zu den Kindern hinunter. „Sag dingem Vate, er soll net so vell sufe, dan is och Jäld do“, spielt die Dicke auf die Familiensituation der Mädels an. Woraufhin Maria, die Ältere, jämmerlich zu weinen beginnt – und die Ware doch noch erhält, genau wie es die Mutter geplant hatte. „Dat es dat letzte Mol“, droht die Dicke zwar. Aber Maria stürzt nebst Ware und Schwesterchen wieselflink aus dem Laden.
„Wir waren halt ärm Lücks Pänz, armer Leute Kinder“, sagt die Lengsdorfer Autorin Monika J. Mannel, die als ausgebildete Poesiepädagogin seit 1997 die „Kreative Schreibwerkstatt Bonn“ leitet. Die plastisch und humorvoll beschriebene Szene stammt aus ihrem neusten Buch, aus dem sie mit ihrer Co-Autorin Agnes Gossen auf Lesereise ist. Aus Einblicken in Mannels Jugend in Lengsdorf besteht die eine Hälfte des Buchs „Kindheiten in Deutschland und Russland“, aus Momentaufnahmen ihrer Schreibwerkstatt-Kollegin Gossen die andere. Die wuchs nämlich zur selben Zeit in einer russlanddeutschen Familie in der damaligen Sowjetunion auf, kam 1989 nach Deutschland und arbeitet seither als Bibliothekarin an der Universitätsbibliothek Bonn. Ihre Kindheitsszenen spielen ebenfalls im Dorf, aber eben nicht in einem der Adenauer-Ära am Rhein, sondern im nachstalinistischen Russland. In dem versucht die deutsche Minderheit, irgendwie dann doch ihre Sprache zu erhalten. „Jret kocke“ bedeutete da „Grütze kochen“, „wajchschmiete“ sagte die Großmutter für „wegschmeißen“, erinnert sich Gossen.
„Unser Dialekt spielt eine wichtige Rolle für unsere Kindheit“, sagt Mannel. Erst hätten sie versucht, nur hochdeutsch zu schreiben. „Aber da war dann das Atmosphärische nicht mehr da“. Die Autorinnen schätzen sich seit langem. „Wir haben uns vor vielen Jahren im Literatur-Treff des Frauenmuseums kennengelernt“, erinnert sich Mannel. Gossen las Gedichte. „Und mich berührten ihre poetischen Bilder. Agnes Fantasie ist unerschöpflich wie die Wassertropfen einer Quelle“, so Mannel. Gossen gefielen die Erzählungen und Gedichte der Kollegin ebenso gut. Sie verschaffte ihr Eintritt in den Literaturkreis der Deutschen aus Russland. Mannel wiederum gab Anthologien der Kreativen Schreibwerkstatt Bonn wie „Immer raus aus der Sprache“, „SchreibReisen“ oder „Dienstags wird geschrieben“ heraus. Gossen war mit „an Bord“.
Nun also der gemeinsame Blick in die Kindheiten. Fast lyrisch beschreibt Gossen den Wechsel der Jahreszeiten in ihrem Heimatdorf in der unendlichen Steppe des Süd-Urals. Bei extremem Frost durften die Kinder nicht draußen spielen. Die Kälte hatte die Blumen, den Farn und die Bäume exotisch erstarrt. Die Kinder hauchten Löcher in die bereiften Fenster und malten sich Fantasiebilder auf die Scheiben. Aus dem gesamten Buch spricht eine zu Herzen gehende Sehnsucht nach der fernen Kindheit. Und der Leser ertappt sich dabei, wie er zwischen den beiden Hälften hin und her blättert, um das Leben zweier kleiner Mädchen am Rhein und am Ural parallel zu verfolgen, das dann plötzlich viele Gemeinsamkeiten aufweist.