Nicht das Ende einer Tradition, sondern ein neuer Anfang

Bericht von der Lesung und Podiumsdiskussion mit Eleonora Hummel und Artur Rosenstern in Berlin am 3. Dezember 2018

von Carola Jürchott

Eleonora Hummel (Copyright: C. Jürchott)

Wie unterschiedlich Wahrnehmungen doch sein können! Dieses Gefühl wurde bei mir wieder wachgerufen, als ich einen Rundfunkbeitrag über die Lesung der russlanddeutschen Schriftsteller Eleonora Hummel und Artur Rosenstern in Berlin hörte. Der Autor des Berichts beklagte ein „geringes Interesse“, weil „nicht einmal 30 Leute“ zu eben dieser Lesung erschienen seien. Ich dagegen war heilfroh gewesen, als ich in den nicht eben großen, aber gut gefüllten Saal in der Chausseestraße gekommen war, weil ich weiß, dass es an jedem Abend in Berlin zigtausend Veranstaltungen gibt, um deren Besucher man dann konkurriert. Gerade Autorenlesungen haben es in diesem Umfeld nach meiner Erfahrung immer schwer mit der Massenwirksamkeit. Deshalb fand ich, dass über 20 Zuhörer bei einer Lesung an einem Montagabend mitten in der Adventszeit durchaus einen Erfolg darstellen – erst recht in einem so traditionsreichen Ambiente wie dem ehemaligen Wohnhaus von Bertolt Brecht und Helene Weigel.

Die Lesung wurde mit Unterstützung des Deutschen Kulturforums östliches Europa veranstaltet, und Edwin Warkentin, der Kulturreferent für Russlanddeutsche am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, führte durch den Abend. Dieser war Teil einer Lesereise mehrerer russlanddeutscher Autoren, die unter anderem auch noch in Hamburg die Anthologie des Literaturkreises der Deutschen aus Russland „Und zur Nähe wird die Ferne“ vorstellten.

Im Mittelpunkt der Lesung standen jedoch eigenständige Werke der beiden Autoren, und schon durch deren Auswahl bekamen die Zuhörer einen Eindruck von der Vielfalt der modernen russlanddeutschen Literatur. Eine Kurzgeschichte, Gedichte und Ausschnitte aus einem in der Entstehung begriffenen Roman – mehr kann man von einem Abend nicht verlangen! Wenn außerdem noch neue Erkenntnisse hinzukommen, umso besser!

Für die ersten Aha-Erlebnisse sorgte Artur Rosenstern, der sowohl einen Prosatext als auch einige Gedichte vorbereitet hatte. In seiner Kurzgeschichte „Der alte Mann und die Stadt“ nahm er die Anwesenden quasi mit auf eine Reise nach Bischkek. Dort hat er selbst mehrere Jahre seiner Jugend verbracht und nun literarisch die Eindrücke von einem Besuch mehrere Jahrzehnte danach verarbeitet, wobei der Titel der Erzählung wohl eher als Metapher zu sehen ist. Farben und andere Sinneswahrnehmungen in dieser Stadt ließ er vor dem geistigen Auge des Lesers, bzw. in diesem Fall des Zuhörers, auferstehen und zog Parallelen zu Tschingis Aitmatow und der alten Seidenstraße. Dass nicht nur ich dabei begonnen habe, einiges mit ganz anderen Augen zu sehen, bestätigte mir Edwin Warkentin, als er anschließend davon sprach, dass man bei dem Begriff der „Russlanddeutschen“ gemeinhin immer nur an zwei Kulturen denkt, die russische und die deutsche. Dass aufgrund der in Zentralasien verbrachten Jahrzehnte bei vielen von ihnen auch diese Einflüsse mehr als prägend waren, macht man sich zumindest in Deutschland wohl nur in den allerseltensten Fällen bewusst. Diese Facette der überaus vielschichtigen russlanddeutschen Kultur verdient es sicher, in den nächsten Jahren eingehender betrachtet zu werden.

Eleonora Hummel, Artur Rosenstern und Edwin Warkentin bei der Podiumsdiskussion (Copyright: C. Jürchott)

Die andere Erkenntnis war eine rein literarische, als Artur Rosenstern davon sprach, dass er es bisher nicht vermocht hat, sich der Tragödie der Russlanddeutschen in einem Prosatext zu nähern. Das passende Genre seien in seinem Schaffen dafür eher die Gedichte. Es ist also offenbar eine ganz persönliche und sehr emotionale Entscheidung, welche Art von Texten man auswählt, um das auszudrücken, wofür anderen, wie Eleonora Hummel später bemerkte, vielleicht ganz die Worte fehlen. Sie erzählte, dass ihr „Erweckungserlebnis“, wie sie es nannte, die Tatsache war, dass ihr Vater immer sagte, er habe keine Worte für das, was er erlebt hat.

Ihr literarischer Beitrag ließ mich Parallelen zu einer Veranstaltung ziehen, die zehn Monate zurücklag und ebenfalls in Berlin stattgefunden hatte. Damals hatte Rose Steinmark ihr Buch „Das Schicksal eines Theaters“ vorgestellt, in dem die Geschichte des deutschen Theaters in Temirtau dokumentarisch aufgearbeitet wurde. An diesem Abend im Dezember nun las Eleonora Hummel Ausschnitte aus ihrem Roman „Temirtau“, der sich desselben Themas in belletristischer Form annimmt. Ich erinnerte mich daran, wie ich sie vor mehr als zwei Jahren das erste Mal getroffen und sie von diesem Projekt erzählt hatte, und war nun mehr als gespannt darauf, die ersten Textpassagen zu hören. Ich wurde nicht enttäuscht.

Sehr plastisch führt die Autorin in ihrem ersten Kapitel dem Leser die Situation in der Sowjetunion der 1970er-Jahre vor Augen, als auf oberstes Geheiß mitten in der Steppe Kasachstans junge Leute gesucht wurden, die Deutsch konnten und sich für ein Schauspielstudium in Moskau begeistern ließen. Mancher von ihnen wäre selbst sicher nicht auf die Idee gekommen, sein Leben dem Theater zu widmen, doch letztendlich haben sie damit Geschichte geschrieben. Geschickt wurden hier Fiktion und Wirklichkeit miteinander verwoben und gleichzeitig der Beweis angetreten, dass sich die russlanddeutsche Literatur von heute nicht ausschließlich mit den dunkelsten Kapiteln der Geschichte dieses Volkes befasst.

Die anschließende Podiumsdiskussion griff dann auch genau diese Frage wieder auf. Liegt die postulierte schlechte Wahrnehmbarkeit der russlanddeutschen Autoren möglicherweise an den Themen, mit denen sie sich befassen? Sicher, auch das wurde deutlich hervorgehoben, es ist bei Weitem keine leichte Kost, die einem in der immer noch sehr stark vertretenen Erinnerungsliteratur angeboten wird. Aber all das, was mehrere Jahrzehnte lang nicht gesagt, geschweige denn geschrieben werden durfte und dann aufgrund des erzwungenen Sprachwechsels häufig nicht publiziert werden konnte, muss nun auch erst einmal nachgeholt werden. Auch das, so die Meinung der Mitwirkenden, sei die Verantwortung der literarisch tätigen älteren und mittleren Generation, um dieses Wissen nicht dem Vergessen preiszugeben.

Dennoch gibt es aber, wie auch dieser Abend eindrucksvoll zeigte, andere Themen und neue Autoren, die sich der Literatur der Deutschen aus Russland verschrieben haben. Sie treten, wenn auch noch vereinzelt, so doch zunehmend bemerkbar, auch mit Hilfe von Preisen und Stipendien, ins Rampenlicht und tragen so dazu bei, dass wir uns, wie Edwin Warkentin abschließend bemerkte, derzeit nicht am Ende einer Tradition befinden, sondern Zeugen davon werden, wie ein neuer Anfang entsteht.

Mehr über die Autoren E. Hummel und A. Rosenstern erfahren Sie auf ihren Autorenwebseiten:

www.eleonora-hummel.de

www.artur-rosenstern.de

Quelle: Novye Zemljaki, Ausgabe 01/2019