„Du, mein geliebter ‚Russe‘“ – der neue Roman von Nelli Kossko

Eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte

Ein Gastbeitrag von Nina Paulsen

Über 75 Jahre liegt der Zweite Weltkrieg schon zurück, doch nicht alle Wunden sind verheilt, nicht alle Opfer betrauert. Der Krieg hatte die Leben vieler Menschen unbarmherzig zermalmt, darunter auch die der jungen Deutschen in der Ukraine, die mit dem Einmarsch der deutschen Truppen als sogenannte Volksdeutsche zur Wehrmacht einberufen und an die Front geschickt wurden und nach Kriegsende mit entsprechenden Konsequenzen den Sowjets in die Hände fielen. Als Opfer zweier verbrecherischer Systeme – des Hitlerregimes und der Stalindiktatur – mussten sie die Schuld Hitler-Deutschlands bis in ihre letzten Tage sühnen, sie und ihre Kinder.

In ihrem eben erschienenen Roman „Du, mein geliebter ‚Russe‘. Eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte“ (ratio-books Verlag) erzählt die bekannte russlanddeutsche Schriftstellerin Nelli Kossko eine Geschichte, die sich in beiden Ländern abspielt und sowohl tief in menschliche Abgründe blicken lässt als auch die Kraft der Liebe, die die Menschen aufs „Innerste zusammenhält“, bestätigt. Das Buch trägt einen Titel, der gerade in der heutigen Zeit fast provokant klingt, aber auch eine Spannung verspricht, die voller Kontroversen ist. Die Autorin lässt in ihr neues Buch erneut eigene Erfahrungen in reichem Maße einfließen. Weil sich ihre Vergangenheit, die sie immer wieder einholt, nicht verdrängen lässt, teilt Nelli Kossko ihre bitteren wie glücklichen Erfahrungen mit dem Leser und erzählt von denen, für die die Verbannung zur „ewigen Ruhe“ bestimmt war, und von denen, die sich aus dieser Hölle befreien konnten.

Die 1937 in Marienheim, Odessa, geborene Nelli Kossko gelangt 1944 im Zuge der „administrativen Umsiedlung“ in den Warthegau, Polen, wird 1945 in das Gebiet Kostroma „repatriiert“ und bald darauf in die berüchtigte Kolyma deportiert. Trotz widriger Umstände gelingt es ihr, Abitur zu machen und nach Aufhebung der Kommandantur Germanistik in Swerdlowsk zu studieren. Anschließend unterrichtet sie an den pädagogischen Hochschulen Tiraspol, Belcy und Nishnij Tagil. Als an der Hochschule bekannt wird, dass sie ausreisen will, muss sie Repressionen wie Entlassung, Berufsverbot, Isolation und Rechtlosigkeit am eigenen Leibe erfahren. Diese Erfahrungen werden noch viele Jahre danach ihre Identität und ihr Selbstbewusstsein prägen.

1975 reist sie nach anstrengenden Bemühungen mit ihrer Familie (Ehemann und zwei Töchter) nach Deutschland aus. Da ihr Diplom nicht anerkannt wird, muss sie mit 38 noch einmal auf die Universität. Danach arbeitet sie 18 Jahre als Übersetzerin und Sprecherin bei der „Deutschen Welle“ in Köln.
Von 1995 bis 2001 ist Nelli Kossko Chefredakteurin der russischsprachigen Zeitung „Ost-Express“, einer der ersten Aussiedlerzeitungen auf dem deutschen Markt. Als sie die Zeitung wegen finanzieller Schwierigkeiten 2001 aufgeben muss, kümmert sie sich um die Aussiedler im Umkreis von Altenkirchen, Rheinland-Pfalz, engagiert sich im Kommunalen Netzwerk Integration und organisiert Tage der russlanddeutschen Kultur, Ausstellungen, zweisprachige Literaturabende und Lesungen.


Für ihren langjährigen Einsatz in der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland auf Bundesebene wird ihr 2007 die Goldene Ehrennadel des Verbandes verliehen. Für ihr beispielhaftes Engagement wird sie 2008 mit dem Bundesverdienstorden am Bande ausgezeichnet. Jahrzehntelang engagiert sich Nelli Kossko für eine bessere Verständigung zwischen Deutschen aus Russland und einheimischen Deutschen. Das ist auch ihre Motivation für das Entstehen ihrer Bücher „Die geraubte Kindheit“ (1998), „Am anderen Ende der Welt“ (2004) und „Wo ist das Land…“ (2007), die 2018 unter dem Titel „In den Fängen der Zeit. Wege und Irrwege einer Deutschen aus Russland“ in einer Sammelausgabe erschienen sind. Auch das Buch „Wie Sand zwischen meinen Fingern. Streiflichter einer Epoche“ (2020) stellt eine Quintessenz ihres Lebens dar – mit aufschlussreichen persönlichen und gesellschaftspolitisch relevanten Einblicken in den „steinigen Weg zum Glück“ einer Deutschen aus Russland.

Auch der jüngste Roman „Du, mein geliebter ‚Russe‘“ speist sich weitgehend aus ihren persönlichen Erfahrungen, wenn sie das tragische Schicksal eines Liebespaares schildert. Der russlanddeutsche Junge Arthur Gerber und das reichsdeutsche Mädchen Liesel Möller begegnen sich kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges. In der felsenfesten Überzeugung, sich niemals zu trennen, glauben sie, dass die Liebe ihre kleine Welt für ewig zusammenhalten wird. In 17 kurzen Kapiteln beschreibt die Schriftstellerin die Geschehnisse des Jahres 1945 und verfolgt abwechselnd den Lebensweg ihrer Helden: den von Arthur, der zunächst in Magadan, der „Hauptstadt des Planeten der Gefangenen“, landete und den von Liesel in Deutschland. Arthur Gerbers Schicksal ist nur eines von vielen, aber es ist beispielhaft für das von Tausenden jungen Russlanddeutschen, die von der Kriegsmaschinerie vernichtet wurden. Nelli Kossko schreibt:

„Er ist kein Täter, er ist ein Opfer seiner Zeit, der böswilligen Kräfte, die willkürlich über Menschenschicksale entschieden. Arthur Gerber hat seine Liebe nicht verraten, hat sie in seinem Herzen bewahrt und durch sein ganzes Leben getragen, aber er hat versucht zu überleben – unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen. Und dieser Versuch forderte seinen Preis. Wer in die Versuchung kommen sollte, ihn zu verurteilen, der stelle sich selbst die Frage, wie er unter diesen Umständen gehandelt hätte, und gebe darauf eine ehrliche Antwort.“


Es wird Jahrzehnte dauern, bis sich Liesel und Arthur wiedersehen – ein Wiedersehen, von dem sie beide einst schwärmten, war es nicht. Das Glück, zusammen in Liebe zu altern, war ihnen nicht beschieden:
Arthur, der als Russlanddeutscher zum Volksdeutschen wurde und doch nicht „arisch genug war“, wurde einer „Umerziehung“ unterzogen und zum Opfer zweier Diktaturen. Die Gestapo und ihr sowjetisches Ebenbild, der NKWD, ließen ihn lange nicht aus den Augen. Auch Liesel traf es schlimm, aber sie gab nicht auf, weil sie nicht aufhören konnte, auf ihren „geliebten Russen, den Gutsten“ zu warten. Um ihre Sehnsucht nach dem „Unerfüllten“ zu stillen, schrieb sie ihrem „geliebten Russen“ Briefe, in denen sie ihre Liebesgefühle ausschüttete, doch sie sollten den Empfänger erst ein halbes Jahrhundert später erreichen …


Im Vorwort zu dem Buch „Was die Welt im Innersten zusammenhält“ schreibt die Kulturpublizistin Rose Steinmark (Münster):

„Auch in diesem Werk bleibt die Autorin ihrem Thema treu, sie kann die Vergangenheit nicht der Vergangenheit überlassen und einen dicken Strich darunter ziehen, denn das ‚verpfuschte Leben‘ von Millionen Opfern, die diese grausame Zeit in alle Winde verweht hat, kann sie nicht einfach abschütteln. Ihr Leben wurde auch von Ängsten und dem ‚reichhaltigen Instrumentarium der Inquisitoren‘ geprägt. Verbote, Kündigungen und Missachtung sind keine leeren Begriffe – sie zeichneten sich als rote und grüne Linien auch in ihrem Leben ab und hinterließen eine lange Schleife von Trauer und Schmerz. Davon hat sie eine raue Menge gesammelt. Aber auch Freude und Glück haben sich in ihrem Leben wie Sand am Meer angehäuft und dessen sonnenüberströmten Körnchen ist sie gern bereit, ihren Mitmenschen zu schenken, denn sie glaubt fest daran, dass es nicht Wertvolleres auf der Erde gibt als die Liebe, die Menschen aufs ‚Innerste zusammenhält‘.“