Andreas A. Peters über Georg Smirnovs Lyrikdebüt „Zurichtungen“

Eine Rezension als persönlicher Brief an einen neugeborenen Dichter.

Lieber Georg, ist es ok, mein Du? So ist es einfacher und persönlicher.

Gestern zum dritten Mal die „Zurichtungen“ zu Gemüte geführt, manche tiefe Schicht aufgedeckt, aufwühlend … Diese Migrationserfahrungen waren mir sehr vertraut, manche weniger, ich bin Ende 1977 mit meinen Eltern ausgereist, da war die Luft, die Atmosphäre noch irgendwie freundlicher, willkommener seitens der Behörden und auch untereinander.

Lieber Georg, der Gedichtband „Zurichtungen“ ist dir sehr gelungen (schon der Titel spricht Bände!), „Zurichtungen“ ist mehr als eine Nachbearbeitung eines vorhandenen Rohzustandes der Seele, auch wenn nur „geschliffene Diamanten den Namen Brillanten tragen“. Deine brillante Idee, anhand von Vornamen die Kindheitserfahrungen poetisch und als Poesie in Prosa zu verarbeiten, durchzubuchstabieren, hat mich total angesprochen.

In „Andrej“ sind die Orte Leningrad, Dachau, Berdytschiw, Luhansk auf die Weltkarte geworfen und die Kriegshistorie leuchtet unbarmherzig auf. „ich nässe mich ein // ich scheiße mich zu // ich blute ich krampfe // du kommst nicht zur Ruh“. So kann ich zitieren und wiederholen und komme auch nicht zur Ruh. Du hast wieder in mir etwas aufgewühlt, das ich lange nicht an mich ranließ. „Reinhold“: „ich bin ein sowjetisches Kind // ein russischsprechender Junge // meine Hundeschule des Lebens // fängt gerade erst an“.

„Gennadij“: „ich war ein sowjetischer Welpe // ein russischsprechender Hund“. Dann wird die Heimat zur Frosterde: „meine frostige Heimat // ist dieser grausige // für mich nie erreichbare // für immer verschlossene Ort“. Was ist aus unserer Heimat geworden: wir lernten sie kennen (wir glaubten sie zu kennen!), wir verleibten uns die Sprache ein: jetzt sitzen „die Worte als Knochen im Mund“.

Zum Vergleich Ossip Mandelstam, Band „Tristia“. In meiner Übersetzung gebe ich ihm den Untertitel einer seiner Gedichtzeilen: „Zehn Himmel kostete uns diese Frosterde“.

Auch der zweite Teil deines Bandes spricht für sich, spricht mich an. Wie stark das Gedicht „Standesamt“, deine Verwandlung von Jegor zu Georg, meine Metamorphose von Andrej zu Andreas. Führe jetzt Andrej als Künstlernamen in meinen Büchern, diesen „unsichtbaren Zwilling“, diesen „Schatten an der Hand“. Unübertroffen die „Chirurgie“: „er schabt an meinen Knochen // ich kann sie deutlich singen hören“. Diese „operativen Angleichungen unserer Körper“. Meine Haare an den Händen richten sich auf … So könnte ich weiterfahren.

Dein „Nachwort“ ist sehr aufschlussreich, detailliert und informationsreich. Das gehört in den Gedichtband, auch in der Länge. Dein Stottern hat etwas Mystisches an sich: „ich entwickelte ein Stottern, das symptomatisch war für das System, in dem ich aufwuchs“. Die Verschwiegenheit und Unausgesprochenheit lassen die Sprache stolpern, stottern, stoppen … Dann kamen die Gedichte und sie ermöglichten es dir, „alles sagen zu können, ohne Barrieren, ohne Blockaden, wenn auch nur auf Papier und nur für mich selbst dekodierbar“. Wie schön und schmerzhaft bis dahin. Danke Georg für diese Mitteilungen. Wie wäre es auszuprobieren, das Stottern als Genre, als Brüchigkeit in Worten, Sätzen darzustellen, kennst du da Vorbilder aus der Literatur, mir fällt gerade nichts ein …

Ich bin froh, dass du mich kontaktiert hast mit Gedichten wie „Knochen im Mund“, von wegen die Zunge hat keine Knochen. „Und kein Knochen wurde ihm gebrochen“, heißt es im Evangelium von Jesus Christus am Kreuz.

Sei ganz herzlich gegrüßt, ein Dichter aus Tokmak, ein Nachbarort von Stanzija Iwanowka, wie herrlich! Zwei Nester und Brutstätten zweier Dichter aus dem Lande Tschingis Aitmatows, dem Nestor und Geschichtenerzähler Kirgistans.

Herzlich Andreas/Andrej Peters

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