Der Nominativ ist aller anderen Fälle Tod

Zu diesem, einem bekannten Buchtitel entlehnten, Schluss könnte man kommen, wenn man ein wenig den Gesprächen an der Supermarktkasse oder unter Schülern lauscht.
„Wie viel kostet das?“
„Ein Euro achtundvierzig.“
Warum „ein Euro“ und nicht „einen Euro“? Was ist aus dem guten alten Akkusativ geworden?
„Bei wem habt ihr Mathe?“
„Bei Herr Müller.“
Nanu? Seit wann verlangt denn die Präposition „bei“ keinen Dativ mehr? Oder ist der Dativ von „Herr“ inzwischen nicht mehr „Herrn“? Weit gefehlt – zumindest laut dem guten alten Duden.
Auch dem Genitiv geht es nicht besser. So findet man auf der Webseite einer Gesamtschule die höchst fragwürdige Überschrift: „Herr Müller’s Abschied“. Abgesehen vom Apostroph, über dessen Überflüssigkeit in einer solchen Formulierung an dieser Stelle und anderenorts schon vieles geschrieben wurde, ist hier wohl nicht einmal den Deutschlehrern der entsprechenden Schule aufgefallen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, Herrn Müllers Abschied sprachlich korrekt zu begehen.


Leider schleifen sich diese Nachlässigkeiten immer weiter ein, und nicht einmal die seriösen Medien sind davor gefeit. So hörte ich kürzlich in einem Verbrauchermagazin des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu meiner großen Verwunderung den Satz: „Wir sprechen darüber mit Markenexperte XY.“
Habe ich etwas nicht mitbekommen? Sind Berufs- und Funktionsbezeichnungen wie „Markenexperte“ inzwischen Namensbestandteile und werden deshalb nicht mehr dekliniert?
Hört man bei der ARD genauer zu, könnte man dieser Vermutung erliegen, denn auch dort fallen Sätze wie: „Das Programm wird wissenschaftlich begleitet von Infektiologe YZ.“
Dennoch ist nicht alles, was sprachökonomisch komfortabel daherkommt, auch wirklich grammatisch zulässig. Natürlich ist „ein Euro“ kürzer als „einen Euro“, allerdings ist der Euro im Deutschen nun einmal ein Maskulinum, und damit ist hier der Akkusativ ebenso „einen“ wie bei der im Internet in diesem Zusammenhang häufig hinterfragten Formulierung: „Sie ist einen Meter siebzig groß.“
Ebenso verhält es sich mit den Berufsbezeichnungen. Zweifellos ist der Gebrauch des Nominativs ohne einen Artikel kürzer. Aber kann man diesen deshalb wirklich schadlos auslassen? Im journalistisch-schlagwortartigen Sprachgebrauch vielleicht, aber dann sollte zumindest die Endung des Marketingexperten und des Infektiologen stimmen und auf den hier verlangten Dativ hinweisen. Dies ist natürlich besonders schwierig, wenn sich die Dativendung nicht von der im Nominativ unterscheidet. Dann sollte man meines Erachtens auf jeden Fall den bestimmten Artikel verwenden und nicht sagen: „Dafür treffen wir uns im Klinikum mit Sportmediziner AB“, sondern „mit dem Sportmediziner AB“.
Natürlich ist es auch in den anderen erwähnten Fällen schöner zu sagen: „Wir sprechen mit dem Markenexperten XY“ oder „Das Programm wird begleitet vom / von dem Infektiologen YZ.“

Carola Jürchott
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