Eigentlich sollte es eine schnelle Sache werden: In das Inhaltsverzeichnis und die Autorenbiografien reinschauen, Buch durchblättern, kurze Annonce für „Volk auf dem Weg“ schreiben. Beim „Durchblättern“ bin ich dann doch hängengeblieben und den neuen Almanach 2017 / 2018 des Literaturkreises der Deutschen aus Russland „Und zur Nähe wird die Ferne“ bis zur letzten Seite gelesen. Dabei habe ich so manchen Autor(in) um den ausgereiften und kreativen sprachlichen Ausdruck beneidet, war von der thematischen Vielfalt angetan, musste hin und wieder zum Taschentuch greifen und eine Nachdenkpause einlegen. Alles in einem eine aufschlussreiche, vielschichtige und berührende Lektüre. Und jeder Beitrag wird dem Motto „Und zur Nähe wird die Ferne“ in unterschiedlicher Art und Weise gerecht.
Denn gerade die russlanddeutschen Autoren, die die Erfahrung der Entwurzelung, des Fremdseins in der Heimat und der Identitätssuche in der Fremde aus der eigenen Biografie oder den Erzählungen der Eltern und Großeltern kennen, dürften den Gedanken von Theodor Fontane „Und zur Fremde wird die Heimat, / Und zur Nähe wird die Ferne.“, der dem Almanach den Titel gibt, in besonderem Maße verinnerlicht haben. So gesehen, ist der Almanach auch eine Lektüre, die gleichzeitig einen tieferen Einblick in die Seele eines Russlanddeutschen (DORT wie HIER) gewährt und begreiflich macht, was es mit dem Titel „Und zur Nähe wird die Ferne“ auf sich hat – auch wenn unter die Autoren mit russlanddeutschen Wurzeln der eine oder der andere Einheimische sehr zum Vorteil der Publikation gemischt hat.
Dabei sind nahezu alle Generationen zwischen fast 90 und 20 Jahren vertreten. Die Bandbreite reicht von freien Schriftstellern mit Schreiberfahrung und mehreren Buchpublikationen bis angehenden Schreibern, die Hoffnung machen. Neben den bereits etablierten und teilweise preisgekrönten Autoren wie Nelli Kossko, Eleonora Hummel, Elena Seifert, Andreas Peters, Wendelin Mangold, Heinrich Rahn, Sergej Tenjatnikow, Agnes Gossen, Artur Rosenstern, Rose Steinmark u. a. findet der Leser in diesem Buch ebenfalls lesenswerte Beiträge von neuen, teils noch jungen, Autoren wie Viktor Funk, Melitta L. Roth, Katharina Martin-Virolainen, Jürgen Hafner, Christine Zeides oder Dorothea Enß.
Angesichts der lesenswerten und vielfältigen Inhalte ist auch die Frage „Braucht jemand die Russlanddeutsche Literatur?“ im Editorial von Artur Böpple, des Vorsitzenden des Literaturkreises und Herausgebers des Almanachs, zu bejahen. Ebenso wie die Forderung bzw. der Ruf nach der Gründung eines „Instituts für russlanddeutsche Literatur“ oder zumindest eines Literaturbüros zwecks Koordinierung von „dringenden“ Projekten.
Die Fragestellung, ob die russlanddeutsche Literatur staatlich gefördert werden soll, z.B. in Form eines eigenen Literaturinstituts, wurde bereits bei der dritten Fachtagung für schreibende Kreative „Feder – Kuli – Tastatur“ (2017) der Landesgruppe Bayern der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Nürnberg heiß diskutiert. Die Diskussion wurde vom Lyriker Wendelin Mangold initiiert und thematisierte mehrere Schwerpunkte der Gegenwart und Zukunft der russlanddeutschen Literatur. Darunter: die Neuausgabe von Werken bekannter russlanddeutscher Autoren der Vor- und Nachkriegszeit, Begründung eines Instituts für russlanddeutsche Literatur und eines Literaturarchivs, digitale Archivierung der Werke und Nachlässe russlanddeutscher Autoren, Herausgabe eines Jahrbuchs russlanddeutscher Literatur, Förderung junger Literaturtalente aus den Reihen der Russlanddeutschen sowie Lesungen und Tagungen mit russlanddeutschen Schreibenden. Mit der Slawistin und Kennerin der russlanddeutschen Literatur, Prof. Dr. Annelore Engel-Braunschmidt (Hamburg), hatte man bei dieser Tagung eine prominente Literaturwissenschaftlerin mit an Bord, die für die Autoren einen Rat parat hatte: „…Der Kreis, der sich hierzulande für Osteuropa interessiert, ist klein. Ihr müsst selbst den Kreis durchbrechen.“
Trotz einiger Bemühungen ist die Literatur der russlanddeutschen Autoren, die sich weitgehend mit der Vergangenheit der Volksgruppe beschäftigt, dem bundesdeutschen Leser nach wie vor weitgehend unbekannt – auch wenn es einige wenige Ausnahmen gibt. Das gilt sowohl für die potenziellen Leser aus den eigenen Reihen als auch für die Leserschaft bundesweit. Warum fällt das Interesse, wenn überhaupt, so mager aus? Weil die Deutschen aus Russland außer ihrem persönlichen Schicksal nichts zu erzählen hatten und haben? Weil die Literatur der Russlanddeutschen zwangsweise auch an der deutschen Vergangenheit aneckt? Weil die russlanddeutsche Literatur auch in der Literaturwissenschaft seit Jahren ein „Nischenthema“ ist? Weil Literatur aus Osteuropa (im Vergleich zu der aus den USA, Kanada, Skandinavien, Großbritannien oder Irland) es „generell schwer hat, über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung zu finden, trotz exzellenter Übersetzungen“? Und schließlich: Liegt das Desinteresse an den russlanddeutschen Autoren hauptsächlich an der sprachlichen Qualität der Werke? Oder sind die Ursachen doch woanders bzw. tiefer zu suchen?
Antworten darauf versucht der Einleitungsbeitrag „Das Schlüsselloch im Suppenteller“ (Eleonora Hummel / Artur Rosenstern) zu geben. Abseits der systematischen Beraubung der deutschen Muttersprache in der Sowjetunion und folglich der denkbar schlechten Startbedingungen in Deutschland plädieren die Autoren für die Unterstützung aller Beteiligten, „um für die russlanddeutsche Literatur zu werben und ihr mehr Geltung zu verschaffen. Ihre Themen sind als literarischer Stoff einzigartig und in ihrer Tiefe und Vielschichtigkeit unerschöpflich. Sie stellt Verbindungen zwischen Ländern und Nationalitäten her, zwischen alten und neuen Heimaten, zwischen Sprachen und Kulturen. Sie hütet einen Erfahrungsschatz, den sonst niemand hat.“
In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass junge Autoren mit russlanddeutschen Wurzeln, die Deutsch genauso stilsicher beherrschen wie ihre bundesdeutschen Kollegen, die Verschmelzung mit der gesamtdeutschen Literatur anstreben. „Dies kann zur Folge haben, dass die für uns relevanten Themen vernachlässigt werden und diese Literatur quasi gänzlich ausstirbt. Um dem entgegenzuwirken, bedarf es dringender Maßnahmen mit expliziter Langzeitwirkung. Vor allem jungen Autoren sollen die Möglichkeiten geboten werden, ihre Werke in prestigestarken Sammelbänden zu publizieren. Sie brauchen eine nachhaltige Förderung“, so die Begründung der Notwendigkeit eines Literaturbüros bzw. einer Koordinierungsstelle, die literaturfördernde Maßnahmen (Lesungen, Literaturfestivals, Wettbewerb-Ausschreibungen, Autorenberatung etc.) für russlanddeutsche Literatur in die Wege leitet.
Dass die künstlerische Ver- und Aufarbeitung der Geschichte und Gegenwart der Russlanddeutschen und ihrer Erfahrungen DORT und HIER die russlanddeutschen Autoren nach wie vor umtreibt und literarische Formen hervorbringt, die auch für die bundesdeutsche Allgemeinheit einen nicht zu unterschätzenden Erkenntniswert haben, bestätigt der aktuelle Almanach „Und zur Nähe wird die Fremde“. Ein Blick in die Inhalte (Prosa, Lyrik, Erinnerungen/Zeitzeugen- und Reiseberichte, Rezensionen und Interviews/Porträts) lohnt sich allemal.
Die Prosabeiträge vermitteln ein vielschichtiges, buntes und erkenntnisreiches Bild aus der alten und neuen Heimat, ohne in den viel bemängelten „Opferstatus“ zu verfallen oder nur in der „Vergangenheit gefangen“ zu sein. Auch bei den nicht minder kritisierten „Rückblicken“ reicht die Bandbreite von sprachlich-stilistisch beeindruckend über satirisch-witzig und erfrischend bis hin zu berührend und gefühlsvoll. Wie etwa „Eine Geschichte in drei Koffern“ von Melitta L. Roth (geb. in Omsk/Russland), in der sie den erzwungenen und freiwilligen Wanderwegen der eigenen Familie – sprachlich vortrefflich auf den Punkt gebracht – nachspürt.
Über die Anfänge eines Elfjährigen in Deutschland erzählt nicht ohne verhaltenen Humor Viktor Funk (geb. 1978 in Kasachstan) in „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“, einem Auszug aus dem gleichnamigen Roman, der 2017 erschienen ist. Sein Buch hat er bereits bei den jüngsten Buchmessen in Frankfurt/Main und Leipzig vorgestellt.
Von Integration mit hellen und dunklen Zeiten im Leben, geprägt von Liebe, Selbstvertrauen, Mut, aber auch Einsamkeit, handelt die Geschichte „Hals über Kopf“ von Nelli Kossko (geb. 1937 in Marienheim/Odessa). Es ist die „Lebensbeichte einer starken Frau“, die auch mal „schwach“ sein möchte.
Auch Larissa Dyck (geb. 1962 in Russland) erzählt in „Staub“ eine nicht untypische Integrationsgeschichte einer russlanddeutschen Akademikerin mit all ihren positiven und negativen Aspekten – mit sarkastischem Humor, aber auch mit Wehmut. Die Protagonistin Valentina, eine Diplom-Bibliothekarin und lange Jahre Leiterin der Stadtteilbücherei in Karaganda/Kasachstan, hat in Deutschland Kinder großgezogen und dem Mann den Rücken freigehalten. Ihr eigenes berufliches Engagement ist dabei auf der Strecke geblieben – sie geht putzen, einige Einsätze am Tag. Beim Lesen sinniert sie über einen Spruch für ihren Grabstein: „Hier ruht Valentina, die dazu berufen war, den Staub zu bekämpfen.“
Die einheimische Autorin Monika Mannel (geb. 1949 in Bonn) geht in ihrer allegorischen Geschichte „Ich, der Stein“ der Herausforderung Wie kann Fremde zur Heimat werden? nach, indem sie in die Rolle eines Steins schlüpft, der aus dem Dunkeln des Vulkankraters („Heimat“) nach draußen ins Sonnenlicht („Fremde“) geschleudert wird. Die bunte Welt mit all ihren Jahreszeiten, Farben und Gefühlen muss er erst kennen lernen. Ein Baum teilt mit ihm seine Erfahrungen mit weisen Worten: „Werde nicht ungeduldig. Gefühle zu spüren, braucht Geduld. Denke aber daran – nicht nur du hast Gefühle, sondern alle anderen Dinge um dich herum haben auch welche, und was dir Schmerzen bereitet, schmerzt die anderen auch. Verkrieche dich nicht in deine Gefühle. Das Leben ist ein Miteinanderleben, ein ständiges Geben und Nehmen.“
Mit „Die Anzeige“ (gemeint ist eine Anzeige in der deutschsprachigen Moskauer Zeitung „Neues Leben“, die junge, talentierte Deutsche zum Vorsprechen für ein deutsches Theater auffordert) – einem Auszug aus dem unveröffentlichten Roman über das Deutsche Theater in Temirtau/Kasachstan in den 1980er Jahren – präsentiert die Schriftstellerin Eleonora Hummel (geb. 1970 in Kasachstan) einen literarisch verarbeiteten „Rückblick“ auf einen wichtigen Aspekt der russlanddeutschen Kulturgeschichte. Auf den Roman darf der Leser schon jetzt gespannt sein.
Auch Heinrich Rahn (geb. 1943 in der Ukraine) zeigt in „Marie und Robert“, einem Ausschnitt aus dem unveröffentlichten Roman „Die Birkeninsel“, ein Stück russlanddeutscher Geschichte auf – es geht um das Leben der repatriierten Russlanddeutschen im russischen Norden in der Nachkriegszeit.
Einen Rückblick aus der Gegenwart in die Vergangenheit wagt Katharina Martin-Virolainen (geb. 1986 in Petrosawodsk/Karelien/ Russland) in „Lebensspiel mit allen Sinnen“, wobei sie der sinnlichen Wahrnehmung der Düfte, Klänge und Farben ihrer Heimaten (Kasachstan, Karelien und Deutschland) und die ihrer Eltern und Großeltern nachspürt – als Kind und als erwachsene Frau. Dabei macht sie die Erfahrung, dass „das Herz sich auch teilen kann“ und viel mehr Platz bietet, als man sich vorstellen kann.
Artur Rosenstern (geb. 1968 in Kasachstan) wirft in „Jenseits der Grenzen“ einen Blick hinter die Kulissen der Zeitgrenze und nimmt den Leser auf die Jahrtausend-Umkehrung mit, um den Stimmen der Steine und dem Klagelied einer Mutter zu lauschen, die „ihre gefallenen Söhne beweint“. Um den Zeichen des Schöpfers, der Seuchen, Kriege, Naturkatastrophen, Dürren und Hungerplagen geschehen lässt, auf die Spur zu kommen, um dem Phantombild des Friedens nachzujagen, um schließlich zu sich selbst zu finden. Auch die Kurzgeschichte „Bäume und Bücher“ von Dorothea Enß (geb. 1998 in Bonn) regt zum Nachdenken an – über den Lauf der Weltgeschichte und der Menschheit und der Rolle des Individuums dabei mit dem Resümee: „Die Zungen der Flammen sind der Feind der Bücher und die Axt der Feind des Baumes…“.
Der Lyrikteil mit Gedichten bekannter und weniger bekannter Autoren setzt sich ebenfalls mit allen möglichen Fragen auseinander – mit beeindruckenden, nachdenklichen und mitunter skurrilen Wortbildern.
„…Am leichtesten lassen sich aber / Menschen an der Leine führen. – Birken hier / Sind Exoten / In Weiß gekleidet / Wie die Toten“, heißt es bei Wendelin Mangold (geb. 1940 bei Odessa).
„…Kristalle brauchen Platz, / diese Platzhirsche. Nur die Schneeglöckchen / lassen alles schmelzen zu ihren Füßchen und / hängen die Tropfen nicht an die Glocke“ („Die Schäden sind flächendeckend“), weiß Andreas Peters, geb. 1958 in Tscheljabinsk/Russland.
„… Was Fremde und was Heimat ist / weiß man erst / wenn man ihr näher kommt.“ und „Vielleicht ist Heimat das Bild / aus dem wir geschnitten wurden / entfremdet in eine Großstadt-Collage / In der wir verloren gehen…“ beschreibt Christine Zeides (geb. 1995 in Rostock) ihr Empfinden von Fremde und Heimat in „Begegnung“ und „Unscharf“.
„Vor Jahren / war der Regen leiser, / wenn wir höher flogen, / bis die Schaukel knarzte. / Um unsere Gedanken / trugen wir Jacken, / so dicht, / dass das Wetter nicht / hineindrang. / Heute bleibt mir nur, / Kiesel zu sammeln, / geschliffen vom Sprachfluss. / Aus einem windigen Laut / greife ich Blätter / und falle / ins Wort. / Man sagt, Erinnerungen / wechseln / die Kleider“ (in: „Erinnerung trägt selten Violett“) – damit spricht Sigune Schnabel (geb. 1981 in Filderstadt) auch vielen Russlanddeutschen aus der Seele.
„Im neuen Leben nehm ich in Kauf, / dass der Wind hier nicht immer sanft / und Vorurteile gibt es zu Hauf – / meine Wurzeln geben mir Kraft. / Der Baum, der mit mir jetzt spricht, / versteht meine Sprache, / Wenn du zuhörst – auch dich“ (in: „In einem anderen Land“) und „Kirchblüten / wie Schneeflocken / entlang der Straße / im Traum aus der Jugend / in einem anderen Land / mit langen Wintern. / Hier ist es in Wirklichkeit – / ein früher Frühling / mit Mandeln- und Kirschblüten, / ein langer Sommer, / viel Arbeit und Hoffnung / inmitten der Sorgen / um die sichere Zukunft / nicht meines Lebensabends, / sondern der hier / geborenen Enkeln.“ (in: „Kirschblüten“), sagt nicht ohne Wehmut Agnes Gossen (geb. 1953 in Gebiet Orenburg).
„mein Opa konnte bis etwa zu seinem / dreizehnten Lebensjahr kein Russisch. / „und die Schule?“, wunderte ich mich. / „war Krieg. hatte keine Filzstiefel.“ / „und wo hast du das Russische so gelernt?“ / haben Vieh gehütet. / Hirte hebt einen Stein / und sagt: Kamen. / und ich wiederhole“, so der Rückblick von Sergej Tenjatnikow (geb. 1981 in Krasnojarsk).
Auch in Erinnerungen und Reiseberichten wandert der Leser auf beiden Seiten der Grenze – in Ost und West – und macht gemeinsam mit den Protagonisten erkenntnisreiche, bewegende oder auch befremdliche Erfahrungen.
Wie in der Geschichte „Die Stadt meiner Träume“ von Alexander Schwabauer (geb. 1950 in Kasachstan). Aus der Sicht eines Jugendlichen erzählt, offenbart die mit sarkastischem Humor erzählte Begebenheit aus den 1960er Jahren die ganze Absurdität der damaligen „Normalität“ unter dem Sowjetregime, das den Alltag der Menschen, und der Deutschen insbesondere, fest im Griff hatte. Dem Protagonisten fällt durch Zufall ein altes Küchenmesser mit abgebrochenem Griff in die Hände. Es stammt aus deutscher Produktion mit dem Markenzeichen „J. H. Henckels A. G. Zwillingswerk Solingen“ – anscheinend einst Beute eines Frontsoldaten, später weggeworfen und auf dem Misthaufen gelandet. Seitdem wird Solingen zur Stadt seiner kühnsten Träume und Schwärmereien. Und als im Russischunterricht der Aufsatz „Die Stadt meiner Träume“ angekündigt wird, schreibt der 14-Jährige logischerweise über Solingen an der Wupper in der Bundesrepublik Deutschland – in aller Ausführlichkeit und in den buntesten Farben. Das Drama danach mit allen möglichen Unannehmlichkeiten für den Protagonisten und seine Eltern ist vorprogrammiert: Wie kommt ein Jungpionier und jetziger Komsomolze zu „Fantasien über Deutschland“? Der „feindliche, ausländische Ausrutscher“ kann letztendlich durch geschicktes Vorgehen des Vaters, der den Ehemann der Direktorin zum Kumpel hatte, aus der Welt geschafft werden.
Sonja Janke (geb. 1954 in Kasachstan) und Sabine Roß (geb. 1960 in Deutschland) erzählen die Geschichte der Auswanderung aus Russland und des Ankommens einer russlanddeutschen Familie in Deutschland – mit Humor und Witz, aber auch mit Wehmut – den zugewanderten „Fremden“ weht nicht selten ein eisiger Wind entgegen. Die Protagonistin, deren Diplom nicht anerkannt wird, muss sich Respekt und Achtung während eines Praktikums im Altenheim buchstäblich erkämpfen. Dabei stellt sie fest, dass es wichtig ist, auf andere zuzugehen und den Dialog zu suchen. Neben vielen anderen positiven und negativen Erfahrungen muss sie eine machen, die ihr zum inneren Gleichgewicht verhilft: Es ist ihr völlig egal, „wie andere über meine Nationalität denken. Die Hauptsache ist: Ich weiß, dass ich Deutsche bin!“
Albina Baumann (geb. 1961 in Karaganda/Kasachstan) nimmt in „Heimat meines Gaumens“ den Leser auf eine Reise ganz anderer Art mit, in die Welt der Düfte und Geschmäcke der Kindheit und der Heimat – der alten im Schwarzmeergebiet (der Großeltern) und in Kasachstan, und der neuen im Schwabenland und in Unterfranken. Und sie stellt fest, dass die schwäbische Küche ihrer Großeltern Jahrzehnte überdauert hat, in der kasachischen Verbannung, und auch im Land der Vorfahren fast unbeschadet als heimisch schmeckt und wahrgenommen wird. Auch dadurch entsteht das Gefühl der Heimat und des Angekommenseins: „Mein Gaumen hat seine Heimat gefunden! Und das ist wichtiger als die Vergangenheit und mir mehr wert als alles Geld der Welt!“
Wie schwer die Umstellung und das Einleben in einem anderen Kulturkreis fallen, weiß auch Marina Rempel (geb. 1965 in Russland) in „Wer Liebe sät…“. Nicht nur Worte, sondern auch Gefühle können übersetzt werden – bei der Integration spielen Empfindungen, Gefühle und Wahrnehmungen eine große Rolle.
Über Integration geht es auch in der gleichnamigen Geschichte von Martin Thielmann (geb. 1929 in Bergtal/Kirgisien), der die Anfänge des Literaturkreises der Deutschen aus Russland 1995 miterlebt und mitgeprägt hat.
In ihrer berührenden Geschichte „Die letzte Bitte“ über das Schicksal einer russischen Frau im Zweiten Weltkrieg, deren Mutter von einem deutschen Wehrmacht-Arzt vor sicherem Tod gerettet wurde, zeigt die Autorin Elena Dumrauf-Schröder (geb. 1955 in Russland, Altairegion) auf, dass wahre Barmherzigkeit und Menschlichkeit auf beiden Seiten der Front anzutreffen war, mitten im Hass, Mord und Krieg. Auch im Beitrag „Zweimal fünfzehn Kilometer Moskau“ der Autorin und Übersetzerin Carola Jürchott (geb. 1970 in Berlin) geht es um Russland. Sie entführt die Leser in die russische Hauptstadt und erkundet die Metropole zu Fuß und mit dem Fahrrad – mit einem unvoreingenommenen Blick in den Moskauer Alltag zeigt sie, wie reich Moskau an kulturellen „Stolpersteinen“ jeglicher Art ist. Dabei vermittelt sie vielfältige Impressionen über geschichtsträchtige Orte, Menschen und Gepflogenheiten.
In Rezensionen werden der Roman „vorüberGestern“ (BMV Verlag Robert Burau) von Lydia Rosin, die „Antiken Gedichte“ von Elena Seifert in Übersetzung aus dem Russischen von Wendelin Mangold sowie der Lyrikband „schmerz-wort-tropfen“ (ostbooks Verlag) von Artur Rosenstern vorgestellt. Der Almanach wird abgerundet mit dem Interview mit der Autorin Nelli Kossko über ihren Weg nach Deutschland und die schriftstellerische Tätigkeit, geführt von Agnes Gossen, und einem Porträt der Publizistin Nina Paulsen, verfasst von Rose Steinmark (geb. 1951 in Russland). Zu den sämtliche Autoren gibt es biografische Notizen. Nicht zu vergessen sind die künstlerischen Beiträge, die den Almanach optisch wie inhaltlich vorteilhaft ergänzen: Die symbolträchtigen Malereien und Bildcollagen von Nikolaus Rode (geb. 1940 in Eigental/Ukraine, auch das Titelbild stammt von ihm), der der russlanddeutschen Identität in beiden Heimaten nachspürt, und die metaphorischen Fotografien von Tatjana Bleich (geb. 1986 in Kustanai, Autorin und Fotografin).
Alles in allem hinterlässt das Buch einen ganzen Rucksack an gespeichertem Wissen und Erkenntnissen, aber auch Gefühle und Denkansätze, die im tiefsten Inneren nachwirken. Und nicht zuletzt gute Laune – so manches erscheint aus der Zeitperspektive und durch Perspektivwechsel unheimlich komisch, auch wenn die Dinge damals, manche auch heute noch, nicht zum Lachen sind. Ein Leser mit dem sogenannten Migrationshintergrund wird den einen oder anderen Beitrag, sei es Prosa oder Lyrik, an den eigenen Erfahrungen und Gedanken messen. Ein einheimischer Leser (vorausgesetzt das Buch fällt ihm durch Zufall in die Hände) wird über die eine oder die andere Geschichte ungläubig den Kopf schütteln, aber auch berührt sein, und seine vermeintlich „fremden“ Nachbarn dann vielleicht besser verstehen. Und vielleicht auch feststellen, wie viel Gemeinsames doch beide haben – und wie wenig, was trennt. Auch darin liegt der Sinn der Erkenntnis des Sammelbandes „Und zur Nähe wird die Ferne“.
Nina Schein, Nürnberg
PS: Zu beziehen ist das Buch über den ostbooks Verlag.