„Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“

Autorenlesung und Diskussion – emotional und persönlich, konstruktiv und von Verständnis geprägt

von Nina Paulsen

„Meine Mitschüler, meine Kommilitonen und Mark waren erzogen worden, ihr Glück vom Leben einzufordern; ich war in Deutschland dazu erzogen worden, nicht aufzufallen und niemanden zu stören“, sagt der Ich-Erzähler im Viktor Funks Buch „Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ (Größenwahn Verlag Frankfurt/Main 2017). Eine Beschreibung, die auf die zerrissene Mentalität vieler Russlanddeutscher auf ihrer Suche nach Identität und Beheimatung genau zutrifft – in ihrer neuen Heimat Deutschland nicht anders als zuvor in der Sowjetunion. Am 22. November 2018 las der Autor auf Einladung des Nürnberger Kulturbeirats zugewanderter Deutscher, der die kulturellen Belange der deutschen Aussiedler und Vertriebenen in Nürnberg vertritt, im Zeitungs-Cafe Hermann Kesten in Nürnberg aus seinem Debütroman. Die Lesung mit dem Frankfurter Autor und Journalisten wurde in Kooperation mit dem Bildungscampus Nürnberg veranstaltet.

Moderiert wurde der Abend von Katharina Sperber, freiberufliche Autorin, Moderatorin und Kommunikationsberaterin aus Frankfurt, die das Entstehen des Buches begleitet hat und mit Viktor Funk mehrfach auf Lesungen gewesen ist – unter anderem bei den jüngsten Buchmessen in Frankfurt/Main und Leipzig. Die Veranstalter freuten sich über neue Gäste aus der Stadt und Umgebung – nicht zuletzt hatte zusätzlich zur Ankündigung des Kulturbeirats auch die kurze Buchbesprechung von Ella Schindler im „Stadtanzeiger“, die selbst Russlanddeutsche aus der Ukraine und seit Jahren Redakteurin der „Nürnberger Zeitung“ ist, Interessierte in das Zeitungs-Cafe gelockt.

Die Versammelten wurden von Dagmar Seck (Projektleiterin des Kulturbeirats zugewanderter Deutscher) und Susanne Schneehorst (Stadtbibliothek Nürnberg) begrüßt. Als sie in der Frankfurter Rundschau auf den Titel des Buches von Viktor Funk gestoßen sei, habe sie sich gefragt, „was das für Leute sind, deren Leben in Deutschland mit einem Stück Bienenstich beginnt“, bemerkte Schneehorst unter anderem.

Als Viktor Funks Debütroman im vorigen Jahr erschien, nahm die Debatte über Integration und Heimat in Deutschland gerade Fahrt auf. Da der Autor zur zweiten Generation der (Spät-)Aussiedler gehöre, zu denen, die als Kinder nach Deutschland kamen, stelle sein Buch in gewisser Weise eine neue Perspektive dar, erläuterte die Moderatorin Katharina Sperber. Beide lasen abwechselnd aus dem Buch vor, kamen miteinander ins Gespräch und zogen auch die Zuhörer in die Diskussion ein.

In seinem Roman zeigt Viktor Funk am Beispiel eines Ich-Erzählers, was im Inneren der Menschen geschieht, die ihre Heimat zurücklassen mussten und nach einer neuen suchen. Er handelt von schmerzhafter Identitätssuche junger Menschen mit Migrationshintergrund, ihrer Suche nach einem Platz in Deutschland und dem Kampf mit ihren widersprüchlichen Gefühlen. Es ist eine Geschichte von Aus- und Zuwanderung, von der Liebe zur zurückgelassenen Heimat, zur eigenen Familie, zur eigenen Geschichte und Identität. Andererseits auch eine Geschichte von der wachsenden Liebe zur neuen Kultur, vom erstarkenden Selbstwertgefühl, das immer wieder an Zweifeln zu zerbrechen scheint. Und es ist eine Geschichte der Anerkennung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, es findet ein Perspektivwechsel statt, der im Buch bis in die zwischenmenschlichen Beziehungen hineingreift.

Dabei geht der Autor in seinem autobiografisch inspirierten bzw. durch persönliche Erfahrungen gereiften Roman Fragen nach, die auch vielen anderen Russlanddeutschen aller Generationen unter den Nägeln brennen: „Wo gehöre ich hin?“, „Wo ist meine Heimat?“, „Was darf ich aus meiner Vergangenheit mitbringen?“, „Wie gehe ich mit dieser Vergangenheit um?“, „Hat sie noch Platz in meiner Gegenwart und Zukunft?“, „Kann ich als Migrant eine neue Heimat finden – oder auch ganz ohne Heimat auskommen?“

„Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“ – ist nicht nur der Titel, sondern auch der Anfangssatz des Romans in der Episode des Treffens der Neuzugewanderten mit dem Bürgermeister in Wolfsburg: „Ich wusste noch nicht, wie der Kuchen schmeckte, aber ich roch ihn. Ich atmete seinen Honigmandelvanilleduft ein und hielt immer wieder die Luft an… Ich war elf und Deutschland roch nach Mandeln und Vanille und hatte den besten Kuchen der Welt.“

Zu den Sätzen wie diese, von der Sonnenseite des Lebens in Deutschland, gehören auch andere: „In meinen frühesten Erinnerungen ist immer Sommer, heiß und meine Mutter trägt Kleider. Deutschland lernte ich bei Regen kennen, hier war ich das erste Mal im Leben im Sommer erkältet, meine Mutter fand lange keine Arbeit und mein Vater hatte keine Zeit zum Angeln.“

Mitten in der Kindheit wird der Erzähler der alten Heimat entrissen – die Eltern wandern aus, ein Teil der Familie bleibt in Kasachstan zurück. Deutschland und der westliche Kapitalismus sind für den Jungen aus der kasachischen Provinz zuerst ein Kulturschock. Immer wieder erinnert er sich an seine Kindheit in Kasachstan: seine kleinen Erlebnisse mit Großvater und Vater beim Angeln am See, die Großmutter und sein Hund Malysch, dem er zum Abschied sein rotes Halstuch umbindet und sein Pionierabzeichen an die Hütte nagelt. Er versucht die beiden Realitäten – die der Vergangenheit in Kasachstan und die der Gegenwart in Deutschland –zusammenzufügen. „Als Kind wollte ich Lenin werden… In Deutschland interessierte Lenin mich nicht. Hier gab es Haribo-Teufel, gegrillte Hähnchen, Hamburger mit Röstzwiebeln und Überraschungseier. Deutschland war ein riesengroßes Kaufhaus mit Lego-Raumschiffen, Transformers-Robotern, Heman-Figuren, Matchbox-Autos und Panini-Sammelalben. Ich stand oft vor einem Spielzeuggeschäft in der Wolfsburger Innenstadt und traute mich nicht hinein, ich sprach weder gut Deutsch, noch hatte meine Familie Geld für Spielzeug“, beschreibt Funk die anfängliche Realität.

Nicht nur als Kind (die Familie zog nach Deutschland, er musste mit), sondern auch als Jugendlicher hat der Ich-Erzähler keine Wahl: Seine Familie, Lehrer und freiwillige Helfer geben sich viel Mühe, ihn in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Als Erwachsener konfrontiert ihn seine Freundin nun mit den Fragen, ob er überhaupt wisse, wer er sei, ob ihm klar sei, was er aufgegeben habe, ob er nicht sehe, dass er anders behandelt werde als die anderen Deutschen.

Viktor Funk selbst wurde 1978 in Balchasch (Kasachstan) geboren und kam mit seinen Eltern 1990 nach Deutschland. „Ich hatte das Glück, dass eine Lehrerin mich gefördert und mir geholfen hat, die deutsche Sprache zu erlernen.“ Auch später „hatte ich wieder Glück, dass ein anderer Lehrer mich auf dem Gymnasium förderte und viel von mir forderte. Er hat zu mir gehalten, als ich mich mit einem Schüler geprügelt und mein Vater in die Schule gerufen wurde. Später bewahrten mich mein Schwimmtrainer vor der Straße und die richtigen Freunde vor den falschen. Ohne einige zufällige Begegnungen und die glücklichen Fügungen in den ersten Jahren in Deutschland hätte vieles anders und nicht unbedingt gut laufen können“, erzählt er. Funk studierte in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie und volontierte danach bei der Frankfurter Rundschau. Dort ist er seit 2008 Politikredakteur mit Schwerpunkten Russland, Migration und Sicherheitspolitik.

Auch im Buch begleitet der Leser Viktor Funks Protagonisten von der Ankunft in Deutschland bis nach dem Studium und der ersten großen Liebe, die zugleich den Kern der Geschichte bildet. Marie und der Ich-Erzähler sind ein Paar, beide nach Deutschland eingewandert, sie aus Rumänien, er aus Kasachstan. Ihre Vergangenheit verbindet sie, in der Gegenwart wählen sie aber oft unterschiedliche Wege, um in Deutschland zurechtzukommen. Lange hatte er geglaubt, zur deutschen Gesellschaft dazu zu gehören – bis er Marie traf. Sie lebt ihre Herkunft selbstbewusst aus. Der Erzähler dagegen versteht sich als Deutscher – angepasst und assimiliert. Sie betont gern ihre Herkunft, er dagegen möchte seine Vergangenheit verstecken.

Je mehr er sich selbst zu verstehen versucht, desto stärker verändert sich seine erinnerte Vergangenheit. Die Auseinandersetzung mit Marie wird für den Erzähler auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst und stellt seine Liebe auf eine harte Probe. „Ich hatte im Kindergarten gelernt, dass ich im gerechtesten Land der Welt lebte, und dass alle Menschen gleich waren. Mein bester Freund war ein Kasache, unsere Nachbarn waren Letten, Ukrainer und Polen, und wir alle sprachen dieselbe Sprache. Dass die meisten auch dasselbe Schicksal teilten, Deportierte und ihre Nachfahren waren, darüber schwiegen unsere Eltern, Erzieher und Lehrer. Das lernte ich erst in Deutschland. Und etwas in mir zerbrach“, so die erbitterte Erkenntnis des Erzählers im Buch. Wohl auch des Autors selbst.

Alles was bisher gewiss war, wird plötzlich in Frage gestellt. Kann man sich als Migrant wirklich als Deutscher fühlen? Wieviel Erinnerung an die Heimat, wieviel Tradition darf man dann noch leben? In den Augen von Marie grenzt die Überangepasstheit des Erzählers an einen Verrat an seiner Herkunft. Und so gerät er in einen Gefühlsstrudel, der vor allem ein Kampf mit sich selbst ist – um Liebe und Verständnis, um Identität und Zu-sich-selbst-finden. „Ich konnte noch immer nicht sagen, wer oder was ich bin. Ich wusste nur, dass ich viel zu lange viel zu viele Rollen gespielt hatte. Die meisten hatte ich ohne Gegenwehr angenommen. Ich hatte sie angenommen, weil ich dachte, diese oder jene Rolle werde von mir erwartet. Von meinen Lehrern, von meinen Kommilitonen, von meinen Kollegen“, beschreibt der Autor die Erkenntnis seines Protagonisten.

Nicht nur im Gespräch zwischen Viktor Funk und der Moderatorin Katharina Sperber, sondern auch im angeregten Austausch mit dem Publikum, wurden all diese Fragen und Gefühlslagen nochmals thematisiert. Der Begriff „Heimat“ war einer der Schwerpunkte. Was braucht der Mensch, um an einem Ort heimisch zu werden und sich zu Hause zu fühlen? Mehrfach klang heraus, dass „Heimat“ vielmehr mit den Menschen als mit den Orten zu tun hat. Dazu gehöre z.B. der beste Freund, mit dem er in der Kindheit und Jugend über allerhand Dinge gestritten, der aber nie sein Deutsch korrigiert habe – mit ihm konnte er sein, wie er war. Heimat ist dort, wo man sich nicht verstellen und erklären muss – dieser Gedanke schwang immer wieder in der Diskussion mit.

Funk bezeichnete sich während der Lesung selbst u.a. als „Migrant“, auch wenn er solche Kategorisierungen generell nicht besonders möge. Ein Zuhörer hat diese Selbstzuschreibung später kritisiert, schließlich hieße das ja „Wanderer“ (wandert Funk denn immer noch?) und sei heute eher negativ besetzt. Dazu kam eine angeregte Diskussion in Gang. Funk widersprach der negativen Besetzung des Wortes und hob hervor, wie sehr Deutschland stets von der Migration profitiert habe. Für ihn habe der Begriff durchaus eine positive Bedeutung, er wehre sich gegen eine Vereinnahmung von rechts. Zudem reise er einfach sehr gerne. Ihm sei es wichtig, nicht nur als Tourist in fremde Länder zu gehen, sondern nah an den Menschen dran zu sein, sich Zeit zu nehmen und Einblick ins Leben zu haben. Das zähle er auch in gewisser Weise zur Migration.

Zuhörer im Publikum erwähnten in diesem Kontext, dass das vielleicht ein Generationenkonflikt sei: Die jungen Leute der zweiten und dritten Generation hätten heute kein Problem mit dem Begriff „Migrant“, die älteren hingegen schon. Früher waren sie im Osten die Deutschen, heute sind sie in Deutschland die „Russen“ oder „Rumänen“, viele lehnen die Zuschreibung „Migrant“ deshalb ab. Funk hat dieses Sitzen zwischen den Stühlen als junger Mensch als Belastung wahrgenommen und wollte nur Deutscher (und nicht Russlanddeutscher) sein. Mittlerweile empfinde er es aber als Privileg, beide Seiten (sprachlich, mental, kulturell) verstehen zu können, es würde ihn sehr bereichern.

Die Diskussion war insgesamt emotional und persönlich, aber auch konstruktiv und von Verständnis geprägt. Der Autor hat sich dem Publikum – nicht nur in seinem Buch – auch in seinen Antworten sehr geöffnet: Auf viele Fragen hat er mit Beispielen und Anekdoten aus seinem eigenen Leben geantwortet, die Zuhörer ihrerseits haben eigene Erfahrungsberichte geliefert.

(Erstveröffentlichung unter: https://www.nuernberger-kulturbeirat-zd.de/archiv/2018/lesung-mit-viktor-funk-im-nuernberger-zeitungs-cafe-hermann-kesten/)

 

Viktor Funk

„Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich“

Roman, 217 Seiten, Größenwahn Verlag Frankfurt/Main 2017

ISBN: 978-3-95771-184-7

Foto: Igor Prosiak