Der schmerzliche Weg der Erinnerungen – zum Tod von Irene Mohr am 27.01.2015

Der schmerzliche Weg der Erinnerungen  (statt des Nachrufs)

Irene Mohr war vor einigen Jahren Co-Autorin eines internationalen Buchprojektes „Unterwegs mit Koffer und Teddybär: Europas Kinder und der Zweite Weltkrieg“,  277 S.,  CMZ-Verlag, Hrsg. von Claudine Landgraf und Rosemarie Rfischke,  Riga, 2005, ISBN 3-87062-077-3

Ein strapazierter einäugiger Teddybär, aus dessen Bauch die Spähnenfüllung durch den dünn gewordenen Stoff durchschimmerte, angelehnt an einen Kinderkoffer mit meinem Strohhut – es könnte ein Originalgepäck eines Kindes gewesen sein, das während des Zweiten Weltkrieges unterwegs war, mit vielen anderen Flüchtlingen verschiedener Nationen. Die Veranstalter hatten diese im Buchtitel erwähnten Sachen als Symbol neben dem Rednerpult aufgebaut, bevor das neue Buch am 8. Mai 2005, genau zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in St.-Augustin bei Bonn im Haus Menden präsentiert wurde. Unter den dreizehn Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs noch im Kindesalter waren und aus acht verschiedenen Ländern stammten (Frankreich, Niederlande, Deutschland, Polen, Russland, Ukraine, Tschechien und Griechenland) und nun im Buch das Erlebte aus der damaliger Sicht, jedoch mit dem heutigen Verständnis der Dinge schilderten, war auch die aus der Ukraine stammende Irene Mohr, die ab den 70er Jahren in Deutschland gelebt hatte und Mitglied des Literaturkreises der Deutschen aus Russland gewesen war.

Irene Mohr war vor einigen Jahren Co-Autorin eines internationalen Buchprojektes „Unterwegs mit Koffer und Teddybär: Europas Kinder und der Zweite Weltkrieg“,  277 S.,  CMZ-Verlag, Hrsg. von Claudine Landgraf und Rosemarie Rfischke,  Riga, 2005, ISBN 3-87062-077-3

indexEin einäugiger Teddybär, aus dessen Bauch die Spähnenfüllung durch den dünn gewordenen Stoff durchschimmerte, angelehnt an einen Kinderkoffer mit meinem Strohhut – es könnte ein Originalgepäck eines Kindes gewesen sein, das während des Zweiten Weltkrieges unterwegs war, mit vielen anderen Flüchtlingen verschiedener Nationen. Die Veranstalter hatten diese im Buchtitel erwähnten Sachen als Symbol neben dem Rednerpult aufgebaut, bevor das neue Buch am 8. Mai 2005, genau zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in St.-Augustin bei Bonn im Haus Menden präsentiert wurde. Unter den dreizehn Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs noch im Kindesalter waren und aus acht verschiedenen Ländern stammten (Frankreich, Niederlande, Deutschland, Polen, Russland, Ukraine, Tschechien und Griechenland) und nun im Buch das Erlebte aus der damaliger Sicht, jedoch mit dem heutigen Verständnis der Dinge schilderten, war auch die aus der Ukraine stammende Irene Mohr, die ab den 70er Jahren in Deutschland gelebt hatte und Mitglied des Literaturkreises der Deutschen aus Russland gewesen war.

Nach einem zufälligen Treffen der damaligen Vorsitzenden des Literaturkreises Agnes Gossen und Rosemarie Pfirschke, die Autorinnen im geeigneten Alter für ihr Projekt „Mädchen im Krieg“ suchte, hatte man Irene Mohr dafür gewinnen können und sie gebeten, etwas über diese Zeit zu schreiben. Zwei Jahre später fand sie ihren Beitrag in einem international konzipierten Buch.

Irene war sieben Jahre alt, als der Krieg ausbrach, später kam sie mit ihrer Mutter und zwei Brüdern als Volksdeutsche mit dem berühmten Pferdetreck nach Wartegau. Am Ende des Krieges wurden sie von den Russen in den Ural verschleppt. Es war sehr still im Saal, als diese kleine mutige Frau, die viel im Leben durchgemacht hat und trotzdem sehr aktiv und lebensfroh geblieben war, am Podium stand und über diese langen Reisen ihrer Kindheit berichtete: wie sie ständig Durst hatten und bis in die Nacht in einer Schlange nach Wasser standen, wie die Windeln ihres neugeborenen Bruders nachts gefroren waren, und über ihre große Angst, als die Mutter fast zurückgeblieben war, als der Zug sich plötzlich in Bewegung setze – aufgrund der Bombardierung der Station. Diese stille Nachdenklichkeit war der Grund ihres Erfolges. Den Anwesenden, die selbst Vieles erlebt hatten, und ihren jüngeren Begleitern, wurde offenbar zum ersten Mal richtig bewusst, warum die Russlanddeutschen in den letzten 20 Jahren nach Deutschland gekommen waren, dass sie in der Tat die letzten Opfer des Krieges waren und am längsten an seinen Folgen gelitten haben, nur weil sie als Deutsche in Russland geboren wurden und jetzt in Deutschland nicht immer als Deutsche akzeptiert wurden.

Zur Präsentation des Buches  kamen ca. 200 Zuhörer. Der Schriftsteller Dr. Georg Schwikart, in dessen Schreibkurs an der VHS die Buchidee vor einigen Jahren entstanden war, eröffnete die Präsentation mit einem historischen Exkurs über den Beginn des Zweiten Weltkrieges, sprach über die verschiedenen Fassetten des Krieges und sagte zum Schluss: „Unabhängig von der Nationalität, unabhängig davon, ob Sieger oder Besiegte, sind Kinder immer Opfer eines Krieges.“

Denselben Gedanken äußerte auch der Bürgermeister der Stadt St. Augusten Klaus Schumacher, der von der Gnade der späten Geburt und dem Hollywood-mäßigen Empfinden (!) des Krieges der jüngeren Generationen sprach und darüber, dass viele im Krieg Beteiligte jahrelang geschwiegen hatten, dass solche Augenzeugenberichte sehr wichtig sind, weil sie die Greueltaten des Krieges genauso bewusst machen wie eine nach Jahrzehnten gefundene Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Zum Schluss gratulierte er den Autorinnen und anwesenden Frauen zum Muttertag.

Die Lesung eröffnete eine der zwei Herausgeberinnen dieses Bandes Rosemarie Pfirschke, die über die schwierige Geburt des Buches, über organisatorische Schwierigkeiten und den vielen Briefen, Faxnachrichten und Telefonaten berichtete bis hin zur Verlagssuche und Korrekturfahnen, und meinte, das Buch sei eigenartig. Sie las einen Auszug aus ihrem Beitrag „Das gestohlene Paradies“. Sie war sieben Jahre alt und hatte bis 1944 eine behütete Kindheit gehabt, als „die Flucht aus dem Paradies begann“ und sie nur ein kleines Köfferchen und zwei Puppen mitnehmen durfte: „Wir fuhren aus dem Paradies direkt in die Hölle aus dem Bombenhagel, zerstörten Häusern und verzweifelten Menschen“.

Die in Magdeburg geborene Ingrid Zytlow (1938) , die während des Krieges in einem Lager, das sich im Theater in Kopenhagen befand, mit anderen deutschen Kindern lebte, schilderte in ihren Erinnerungen einen ungewöhnlichen Tag mit einem für die Kinder organisiertem Ausflug in die Stadt, zum Hafen, mit kleinen Geschenken, mit dem fast vergessenen Geschmack süßer Rosinen. Es war der 8. Mai 1945, der ihr für immer in Erinnerung geblieben war, aber erst drei Jahre später durfte die Familie wieder zurück nach Deutschland kommen.

Die Niederländerin Irene Hissink (geb. 1938) ging mit dem Teddybär zum Rednerpult: „Er gehört zu mir, zu meiner Kindheit, er – mit einem Auge und einem abgerissenen Arm“, und berichtete über eine Weihnachtseinladung einer deutschen Familie als sie sich mit ihrer Mutter in einem Flüchtlingslager in der Lüneburger Heide befand, wie unwohl sie sich dort fühlten und wie die Mutter mit ihr plötzlich das großbürgerliche Haus eines an der Front kämpfenden deutschen Generals verließ.

Ludmila Agejewa (1939) wurde in Leningrad geboren, verlor ihren Vater, der diese Stadt verteidigte (1941), die Mutter arbeitete während der Blockade in der Stadt als Krankenschwester, entkam dem Hungerstod 1942 über den Ladogasee, landete damals mit ihrer Großmutter in Mittelasien in Samarkand, studierte in den 50 Jahren Physik und Mathematik an der Leningrader Universität, promovierte 1971, lebt seit 7 Jahre in München.

Claudine Landgraf geboren 1937 in Paris in einer Lehrerfamilie, studierte später Romanistik an der Sorbonne, heiratete einen Deutschen und zog mit ihm nach Deutschland als Dolmetscherin für Deutsch und Spanisch. Ihre Mutter, die während des Krieges für Deutsche dolmetschen musste, weil sie Deutschlehrerin in einem französischen Dorf  war, wurde nach dem Krieg der Kollaboration beschuldigt, ihr Mann ließ sich von ihr trennen, die Tochter fühlte sich wie eine Ausgestoßene. Sie las einen Auszug aus ihren Erinnerungen „Deutsches Brot isst man nicht“.

Für zwei Autorinnen aus Frankreich und Griechenland lasen die Herausgeberinnen stellvertretend. Nach jedem Textbeitrag wurden Volkslieder aus dem jeweiligen Land gesungen und Dr. Schwikart schilderte kurz die politische Situation im Lande während des Krieges. Für den musikalischen Rahmen sorgten Anna-Lea Weiland (Klavier) und Annette Landgraf, Sängerin und Tochter der Autorin Claudine Landgraf. Das Buch „Unterwegs mit Koffer und Teddybär“ ist mit zahlreichen Fotos von den Autorinnen aus ihrer Kindheit illustriert.

„Schuldig geboren“, so der Beitrag von Lore Hansen (Pseudonym), deren Mutter eine ausgesprochene Schönheit war und von A. Hitler bewundert wurde, die den Freitod bevorzugte, als ihre Tochter 4 Jahre alt war, und ihr fanatischer Vater, der zur engsten Umgebung des Führers gehörte, erhängte sich drei Jahre später nach dem Krieg während des Nürnberger Prozesses. Die Kinder wurden von den Großeltern adoptiert und großgezogen, in ständiger Angst, die Vergangenheit ihrer Eltern (an die sie sich kaum erinnern konnten) könne sie einholen.

„Kein Kind ist schuldig geboren. Wir danken den Autorinnen, die den schmerzlichen Weg der Erinnerungen gegangen sind“, sagte in Ihrer Ansprache Rosemarie Pfirschke. Und Dr. Georg Schwikart unterstrich zum Schluss die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit traumatischen Erinnerungen, welche die Kinder gerne verdrängen, aber später trotzdem darunter leiden. „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, so Schwikart in seinem Schlusswort, nachdem die Autorinnen noch lange ihre Bücher signierten.

Liebe Irene, jetzt hast du deinen irdischen Weg, der voller Entbehrungen war, beendet. Lebe wohl, liebe Literaturkollegin. Wir behalten Dich in guter Erinnerung!

Deine russlanddeutschen Autoren.

Februar, 2015