Es scheint, die Zeit der narrativen Lyrik sei endgültig vorbei, was aber kein Grund ist, sie total abzuschreiben und ihr den Rücken zu kehren. Die Lyrik wird immer assoziativer und verrätselter bis zu pathologischen Auswüchsen, bald dicht an der Grenze der krankhaften Absurdität und Fantasie, wenn nicht gar wahn- und irrsinnig, fast nach dem Prinzip je oller desto doller. Und das fordert bestimmt den traditionellen und konventionellen Lyrik-Leser immer mehr heraus. Tatsache ist auch, dass der Lyrik im literarischen Prozess nur noch eine Nischenrolle zugeteilt wird. War früher Krimi-Literatur Ausnahme, ist die Zeit der Horror- Fantasie- und Science-Fiction-Literatur seit Jahrzehnten ungebrochen auf dem Vormarsch und der Büchermarkt regelrecht überschwemmt.
Nun kommen wir zur Lyrik des Dichters Andreas Peters, vorgestellt in diesem Band. Ist Peters ein schwieriger und unverständlicher Dichter? Ich würde das nicht sagen. Nicht vordergründig – ja, unverständlich – nein. Denn viele seiner Gedichte sind Entdeckungen und Überraschungen. Er schnürt und bündelt seine Gedichte nicht mit roten Fäden des Endreims und baut nicht unbedingt strenge Strophenkästen und vergeht sich nicht unbedingt in dem leierhaften syllabotonischen Versbau. Aber was hält dann seine Texte zusammen? Eine gerechte Frage. Das sind kaum bemerkbare Stränge, vergleichbar mit Gehirnsynapsen, da Peters ein einfühlsamer und feingesponnener Mensch, oder chirurgische Nahtstichen, da Peters ausgebildeter Krankenpfleger ist und viele Jahre in diesem Bereich hauptberuflich tätig ist.Die moderne Lyrik bedient sich immer häufiger des assoziativen Arsenals, das unerschöpflich zu sein scheint und höchst individuell ist. Da wir es hier mit der Lyrik von Andreas Peters zu tun haben, ist es für das Verständnis seiner Poesie wichtig, dessen Spannungsfelder zu kennen, die seine Lyrik mit Assoziationen speisen. Diese Felder kann man sich wie ein Magnet vorstellen, das bekanntlich zwei Gegenpole (+ und -) hat. Zum einen sein früheres Leben in Russland und heutiges in Deutschland, zum anderen seine Berufung als Seelsorger und das rasante Schwinden des Glaubens der Laienchristen. Das sind wohl die hervorstechendsten Spannungsfelder, obwohl bestimmt nicht die einzigen, so Krieg und Frieden, Lüge und Wahrheit, Leid und Freude, Hass und Liebe, Vergangenheit und Gegenwart usw. Also, Allmenschliches.
Andreas Peters ist sehr kreativ, daher ist jedes Gedicht eine Überraschung. Er spielt meisterhaft auf der poetischen Klaviatur, kennt gut die Noten, geht aber spielerisch mit ihnen um und improvisiert gern. Seine Gedichte gleichen einem feinen Räderwerk. Um dessen Mechanismus zu verstehen, müsste man es auseinander nehmen und die Einzelteile betrachten, sind es doch in diesem Fall Wörter und Wendungen, die, vielfältig zusammengelegt, ineinander greifen, so z. B. das Gedicht „kaum“:
zu wort gekommen
muss ich schweigen,
bis die haut die gebeine
bespannt. die sehnen
schnürsenkel binden.
der odem gleich ode da-
rüber raunt. ein pneuma
dichtet kein requiem. das
schweigen des buchstaben.
ich komme zum wort.
Assoziative Bilder blitzen in seinen Gedichten nur so auf, sprengen die Realität und lassen sie in den so entstandenen Splittern spiegeln. Die Eins-zu-eins-Darstellung ist nicht seine Sache, er meidet sie wie der Teufel den Weihrauch. Und auch gut so, wenn das auch nicht jedes Manns Sache und Geschmack ist. Macht seine Poesie aber ungewöhnlich, wenn nicht gar elitär. Ist nicht die Absicht, schon auf den ersten Blick den Sinn des Gedichts voll auszuschöpfen, erst vielleicht nach dem zweiten oder erst dritten Blick eröffnet sich die ganze Tiefe seiner Gedicht-Welt. Und das bestimmt nicht allein wegen den überraschenden Bildern, sondern die gesamte Symphonie, so z. B. „schockiert“ das Gedicht „Die neuen Russen“ durch die Häufung des R-Buchstaben (stimmhafter alveolarer Vibrant), als Anspielung auf den im Russischen stark gerollten (раскатистое Р) Zungenspitzenlaut:
der rrubel rrollt, rrrollt wie
das französische „r“, überr
rrollt gleich feldmarrschall
kutusow napoleon bonaparrte.
die fünfte kolonne hilft nach:
steuerrflüchtling – deparrrdieu.
Ich denke, brauchte es überhaupt dieses Vorwortes? Die Antwort erübrigt sich. Einfach lesen, entdecken und genießen, den „Mitteilungen einer Saatkrähe“ aufmerksam lauschen! Das wünsche dem Leser der Gedichte von Andreas Peters.
Dr. Wendelin Mangold
Zu beziehen ist das Buch über den Verlag Brot und Kunst