Roman „Wie Gräser im Wind: Tage des Sturms“ (Bd. 1) von Ella Zeiss erschienen

Im Mai 2018 erschien der neue Roman „Wie Gräser im Wind: Tage des Sturms“ von Ella Zeiss. Hier präsentieren wir das erste Kapitel daraus:

Kapitel 1

1930, deutsche Siedlung auf der Halbinsel Krim, Sowjetunion

Das laute Rattern eines Motors ließ Anna alarmiert innehalten. In ihrem Dorf besaß niemand einen Wagen. Das Geräusch konnte also nur eins bedeuten.
Von einer dunklen Vorahnung erfüllt, wischte sie sich hastig die Hände, die vom Kneten des Brotteigs ganz mehlig geworden waren, an der langen Schürze ab und trat vorsichtig ans Fenster.
Sie hatte sich nicht geirrt. Ein Kleinlaster fuhr die Hauptstraße des Dorfes entlang. Drei bewaffnete Männer von der Volkskommission für innere Sicherheit saßen darin.
Anna stockte der Atem. Selbst Yvo, die in der Ecke mit ihren Holzklötzchen spielte, schien die plötzliche Anspannung der Mutter zu spüren, und wurde ganz still.
Besorgt schaute Erich von seinen Hausaufgaben hoch. »Mama?«
»Schht.« Schweigen gebietend hob Anna ihre Hand und wagte erst wieder aufzuatmen, als der Wagen die Haustür passiert hatte. Besorgt folgte sie ihm mit den Augen und spürte, wie sich ein eisiger Klumpen in ihrem Magen ausbreitete, als das Fahrzeug vor dem Pfarrhaus abrupt hielt. Das verhieß nichts Gutes.
Rufe wurden draußen laut. Anscheinend wurde den Männern der Eintritt verwehrt.
»Mama, was ist los?« Ängstlich trat Erich zu ihr und versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen. Yvo lief tapsig auf sie zu und drückte sich an ihre Knie.
Zitternd schlang Anna sich ein Wolltuch um die Schultern und warf ihren Kindern einen unsicheren Blick zu. Sollte sie es wirklich wagen, jetzt hinauszugehen, sich einzumischen?
Anna atmete tief durch. Ihr würde schon nichts passieren. Das Interesse der Männer galt dieses Mal offensichtlich Pfarrer Friedrich. Doch sie konnte einfach nicht zulassen, dass die Sicherheitsmiliz auch Rita, dessen kleine Tochter, mit sich nahm, um sie in irgendein Waisenhaus zu stecken.
Ernst sah Anna ihren Sohn an, der ihren Blick für seine acht Jahre viel zu verständig erwiderte. »Erich, du bleibst bei Yvo. Hast du mich verstanden?«
Er nickte unsicher.
»Und egal was passiert, ihr bleibt hier im Haus.«
»Ja, Mama.« Er nickte erneut und nahm seine kleine Schwester tapfer bei der Hand. »Komm Yvo, wir bauen jetzt einen ganz hohen Turm.«
Anna sah ihm dankbar hinterher und huschte dann aus dem Haus.
Sie kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich die Tür des Pfarrhauses öffnete und Friedrich Hamann mit gefasstem Gesicht heraustrat. Schnell drückte sie sich hinter einen Baum, der im Vorgarten des Nachbarhauses stand.
Annas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Friedrich wusste genau, was geschehen würde. Und sie wusste es auch. Wenn er Glück hatte, warteten nur zehn Jahre in einem sibirischen Arbeitslager auf ihn.
Einer der Männer – offensichtlich der Ranghöchste – packte Friedrich grob am Arm und zog ihn mit sich. »Wieso hat das so lange gedauert? Hast wohl versucht, Beweise zu vernichten? Glaub mir, das wird dir nichts nützen, wir können bezeugen, dass du drinnen etwas getan hast.«
Würdevoll entriss Friedrich ihm seinen Arm.
»Wie soll ich Beweise vernichten, wenn ich nicht einmal weiß, wessen man mich anklagt?«
»Diese Lücke können wir gerne schließen.« Der Mann holte ein offizielles Papier aus seiner Umhängetasche. »Friedrich Hamann, Sie sind verhaftet wegen der Verbreitung antisowjetischer Propaganda und Verbrechen gegen das Volk.«
Kein Muskel zuckte in dem Gesicht des Pfarrers.
Es spielte keine Rolle, wessen man ihn beschuldigte. Das Urteil stand bereits fest. Er hatte Einfluss auf die Gemeinde, eine Gemeinde, die trotz der Enteignungen und der horrenden Abgaben noch immer etwas besaß. Und das allein reichte aus, um den Unwillen der Obrigkeit auf sich zu ziehen. Die Tatsache, dass sie sich dieses bisschen durch Fleiß, harte Arbeit und Ausdauer Tag für Tag erkämpfen mussten, schien niemanden zu interessieren.
»Ich habe diese Verbrechen nicht begangen«, erklärte Friedrich ruhig. »Ich bin ein Mann Gottes.«
»Schlimm genug!« Der linke der Männer boxte ihm in den Bauch. »Für solche wie dich gibt es in der neuen Weltordnung ohnehin keinen Platz mehr.« Seine Kameraden feixten.
»Nun denn. Dann lassen Sie uns gehen.«
Anna biss sich auf die Lippe, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Er war der Mann ihrer besten Freundin Berta gewesen, die vor knapp einem Jahr gestorben war. Sie hatten alle gemeinsam unzählige Abende verbracht, gescherzt, gelacht, gesungen. Sie konnte nicht glauben, dass dieser lebensfrohe, leidenschaftliche Mensch sich so widerstandslos in sein Schicksal ergab.
»Nicht so eilig, Freundchen. Erst müssen wir sehen, was du sonst noch alles dort drin versteckst!«
Zum ersten Mal, seit er das Haus verlassen hatte, huschte eine Regung über Friedrichs Gesicht. Und plötzlich verstand Anna, wieso er so lange gezögert hatte, der Sicherheitsmiliz seine Tür zu öffnen – es war wegen Rita.
Er musste sie irgendwo versteckt haben. Nur deshalb blieb er so ruhig – weil er hoffte, dass sich die Männer mit ihm zufriedengeben und seine Tochter in Ruhe lassen würden.
Doch er hatte nicht mit ihrer Gier gerechnet. Wenn es in dem Haus irgendwelche Wertsachen gab, würden die treuen Mitglieder der Sicherheitskommission sie sich bestimmt nicht entgehen lassen.
»Im Haus ist nichts!«, rief Friedrich verzweifelt, doch die Männer beachteten ihn nicht.
»Du passt auf ihn auf«, wies der Anführer den Jüngsten in ihrer Truppe an. »Wir schauen uns drinnen mal um.«
Der junge Mann musterte den Gefangenen nervös und nestelte mit den Fingern am Griff seiner Waffe. Offensichtlich war er noch nicht lange dabei.
Friedrich schloss seine Augen und aus ihrem Versteck heraus konnte Anna sehen, wie er stumm seine Lippen bewegte.
Sie krallte ihre Finger in die harte Baumrinde und stimmte in sein leises Gebet mit ein.
Bitte Herr, lass die Männer Rita nicht entdecken. Und bitte sei gnädig zu Friedrich.
Doch dieses Mal wurden ihre Gebete nicht erhört.
Ein spitzer Schrei ertönte aus dem Inneren des Gebäudes und Friedrich riss erschrocken die Augen auf. Sein Körper zuckte, als wollte er ins Haus stürmen.
»Keine Bewegung!«, rief der junge Milizionär zitternd und holte seine Waffe hervor.
»Schon gut!« Friedrich riss beschwichtigend die Arme hoch.
Im nächsten Moment tauchten die beiden Männer auf der Türschwelle auf, eine völlig verängstigte Sechsjährige zwischen sich.
»Vater!« Rita schrie gellend auf und stürmte auf ihn zu.
Friedrich ließ sich zu Boden fallen und schlang sie in seine Arme.
»Vater, ich habe versucht, mich zu verstecken«, schluchzte das Mädchen aufgelöst. »Aber die Männer haben mich trotzdem gefunden. Ich habe es wirklich versucht.«
»Ich weiß.« Er drückte das Kind fest an sich, während sich in seinen eigenen Augen die Tränen sammelten. »Alles wird gut, es wird alles gut.«
»Das reicht jetzt!« Grob riss der Anführer ihn auf die Beine.
»Vater!« Panisch versuchte Rita, sich an ihn zu klammern.
»Ist schon gut. Ich muss nur kurz mit den Männern mitgehen. Ich bin ganz bestimmt bald wieder zurück.«
»Nein!« Verwirrung, Angst und Trotz mischten sich in den Blick, mit dem das kleine Mädchen die Männer bedachte. »Und ich?« Endlich schien sie den Ernst ihrer Lage zu begreifen.
»Du kommst ins Heim«, erklärte der Anführer schroff und zog sie von Friedrich fort.
»Vater?« Rita sah ihn verängstigt an. Es war offensichtlich, dass sie die russischen Worte des Mannes nicht verstanden hatte. Sie schrie erneut auf, als der Mann sie weiter fortzuziehen versuchte, und begann, sich mit Händen und Füßen gegen seinen Griff zu wehren. »VATER!«
»Sei still!« Der Milizionär verpasste ihr eine so schallende Ohrfeige, dass das Kind zu Boden geschleudert wurde.
»Lasst sie in Ruhe!«, donnerte Friedrich und stürzte zu seiner Tochter.
In diesem Augenblick ertönte ein Schuss.
Anna brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie gerade sah. Friedrich lag auf dem Boden, seine leichenblasse, erstarrte Tochter halb unter sich begraben. Ein großer Blutfleck breitete sich rasant auf seinem Rücken aus.
»Er … Er wollte fliehen«, stammelte der junge Milizionär erschrocken, den rauchenden Revolver noch immer in der Hand. »Ihr … Ihr habt es doch genau gesehen?«
Der Anführer zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Aber klar haben wir das. Ein Rückenschuss ist genau das Richtige für diesen Verräter.«
»Vater? Vater?« Rita konnte nur noch flüstern.
Mein Gott, wieso hilft ihr denn keiner? Tränen liefen Anna ungehindert übers Gesicht. Hilfesuchend sah sie sich um. Doch sie wusste, dass die Nachbarn genauso viel Angst um ihre eigenen Familien hatten wie sie. Deshalb hatte sich noch niemand hinausgetraut, obwohl sie ganz sicher war, dass alle die grauenvolle Szene, die sich gerade vor ihnen abspielte, entsetzt mitverfolgten. Doch Frauen konnten hier ohnehin nichts ausrichten und die Männer waren alle auf dem Feld. Und vielleicht war das sogar besser so. Sonst wäre es womöglich zu noch mehr Blutvergießen gekommen.
Annas Blick fiel auf Rita, die sich nun völlig verstört aufrichtete, nachdem einer der Männer den Körper ihres Vaters mit einem Fußtritt beiseitegerollt hatte.
Sie schien noch immer nicht ganz zu begreifen, was soeben passiert war.
Noch bevor es Anna bewusst wurde, was sie da eigentlich tat, lief sie schon aus ihrem Versteck und zog das unter Schock stehende Kind fest an sich.
Sie spürte, wie Rita sich dankbar an sie lehnte, wie sich ihre Hände haltsuchend in Annas Oberschenkel krallten, und wusste, sie würde das Mädchen nicht im Stich lassen können.
»Vater …?« Ritas Schultern zitterten.
»Schht.« Beruhigend strich Anna ihr über den Kopf und hoffte inständig, dass sie gerade keinen fatalen Fehler beging.
»Ihr Name?« Streng sah der Anführer sie an.
Anna schluckte. »Anna Scholz.«
»Nun, Genossin Scholz. Was wollen Sie?«
»Das Mädchen. Sie hat eine Tante in der Ukraine. Ich kann mich um sie kümmern, bis diese sie zu sich holen kann.«
Der Mann dachte kurz nach, dann zuckte er gleichgültig mit den Schultern. »Von mir aus. Ein Balg weniger, um das wir uns sorgen müssen.« Dann beugte er sich zu dem toten Pfarrer hinunter und fühlte nach dem Puls. »Schreib auf«, befahl er anschließend seinem zweiten Mann. »Todesdatum: 27. September 1930. Festgenommen wegen Verbreitung antisowjetischer Propaganda und Verbrechen gegen das Volk. Erschossen auf der Flucht.«
Nachdem er damit fertig war, sah er Anna, die sich nicht zu rühren wagte, fest an. »Sie dürfen ein paar Sachen für das Kind zusammenpacken, der restliche Besitz des Verräters ist ab sofort von der Regierung beschlagnahmt. Morgen kommt jemand vorbei, um sich darum zu kümmern.«
»Und was ist … damit?« Zitternd deutete Anna auf Friedrichs leblosen Körper.
»Den werden wir wohl mitnehmen müssen.«
Sie nickte. Wie gern hätte sie Friedrich ein christliches Begräbnis ermöglicht, doch sie wagte es nicht, dem Mann zu widersprechen. Sie hatte sich schon genügend in Gefahr gebracht, indem sie sich für Rita eingesetzt hatte. Eine offene Sympathiebekundung für einen Verräter konnte sie sich einfach nicht leisten.
»Danke, Genosse.« Anna rang sich ein Lächeln ab.

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