„Die Kist‘ von der Wolga“ macht das Schicksal der Wolgadeutschen „flüssig“

Maria und Peter Warkentin auf den Spuren des literarischen Erbes der Russlanddeutschen

 von Nina Paulsen

Das literarisch-szenische Schauspiel „Die Kist‘ von der Wolga“ mit Maria und Peter Warkentin vom Russland-Deutschen Theater Niederstetten erzählt die Geschichte der Wolgadeutschen von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zu den tragischen Entwicklungen mit Deportation und Ausbeutung im 20. Jahrhundert. Das Bühnenstück ist anlässlich des 100. Jahrestags der Gründung der deutschen Autonomie an der Wolga 2018 entstanden, inhaltlich speist es aus den überlieferten Werken – überwiegend wolgadeutscher Autoren, die am eindrucksvollsten die wichtigsten Meilensteine bzw. Ereignisse der wolgadeutschen Geschichte markieren und den Geist verschiedener Zeitläufte im Wolgagebiet einfangen. Eine verkürzte Fassung unter dem Titel „Das Lied vom Küster Deis“ zeigten Maria und Peter Warkentin zum ersten Mal öffentlich bereits vor drei Monaten beim Kulturfest der Landsmannschaft in Regensburg. Am 1. Dezember 2018 hatte „Die Kist‘ von der Wolga“ eine Premiere im Amtshaus Oberstetten, dem Sitz des Russland-Deutschen Theaters Niederstetten.

(c) Foto: Inge Braune

Das Bühnenstück „Die Kist‘ von der Wolga“ basiert auf sechs überlieferten Werken, die Maria und Peter Warkentin (frühere Schauspieler des Deutschen Schauspieltheaters Temirtau/Alma-Ata) meisterhaft ineinander verflechten und inszenieren. „Eine Handvoll Schriftsteller, die kaum einer kennt. Und Schicksale von Aus- und Einwanderern, die keiner kennt. Mit einem literarisch-szenischen Schauspiel nahmen Maria und Peter Warkentin vom Russlanddeutschen Theater die Zuschauer im Amtshaus Oberstetten mit auf eine lange und emotionsgeladene Reise. Die Premiere wurde begeistert beklatscht:  Mit der Kist’ von der Wolga machen Maria und Peter Warkentin russlanddeutsche Literatur flüssig – und das Schicksal der Wolgadeutschen“, schrieb dazu Michael Weber-Schwarz in den „Fränkischen Nachrichten“.

Mit der Besiedlung des Wolgagebietes verfolgte die russische Regierung nicht nur wirtschaftliche Ziele. Die neu angelegten Dörfer sollten die inneren Gouvernements vor Raubzügen muslimischer Kirgisen oder buddhistischer Kalmücken die Dörfer auf der Wiesenseite der Wolga schützen. Die Überfälle der Nomadenvölker sind ein Trauma, das sich durch die Aufzeichnungen auch im kollektiven Bewusstsein der Wolgadeutschen eingebrannt hat. Allein in den Jahren 1771-1774 wurden siebzehn Kolonien von Nomaden überfallen. Sie raubten nicht nur Vieh und Gerätschaften, sondern plünderten, mordeten und setzten die Häuser in Brand, verschleppten die Siedler in die Sklaverei und töteten die Widerspenstigen. Etwa 3.000 Siedler sollen bis 1775 bei Überfällen ums Leben gekommen sein. Um die 1.500 Kolonisten sollen auf den Märkten von Chiwa und Buchara in die Sklaverei verkauft worden sein, von denen nur wenige wieder an die Wolga zurückkamen.

Trotz aller Widrigkeiten konnten sich die Wolgadeutschen mit der Zeit in der Region durchsetzen. Im Wolgagebiet existierten 1918 mehr als 200 deutsche Siedlungen. Die wolgadeutsche Autonomie (seit 1918) und die spätere ASSR der Wolgadeutschen (ab 1924) dienten vor allem politischen Interessen der Sowjetführung und der „Sowjetisierung“ des Wolgagebiets. Kurz nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges wurden die Wolgadeutschen im September 1941 nach Sibirien und Kasachstan deportiert und die Wolgarepublik aufgelöst.

Das Theaterstück „Die Kist‘ von der Wolga“ basiert auf sechs überlieferten Werken, die Maria und Peter Warkentin meisterhaft ineinander verflechten und inszenieren. Im Mittelpunkt dieses literarischen Erbes steht stets das Schicksal der Wolgadeutschen.

Bernhard Ludwig von Plahten, der im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) Offizier war und nun in den Dienst der russischen Zarin wollte, hinterließ mit seinem 1766-1767 entstandenen Poem „Reise-Beschreibungen der Kolonisten wie auch Lebensart der Rußen“ (auch als „Auswanderungslied“ bekannt) vor allem ein historisches Dokument über die Auswanderung nach Russland. Darin beschreibt er nicht nur die Seereise, sondern vermittelt auch persönliche Eindrücke und wichtige Informationen über den Verlauf der Auswanderung bis zum Endpunkt an der Wolga. Von Plahten berichtet über die Enttäuschung der Auswanderer, als sie kurz nach ihrer Ankunft über die Bedingungen unterrichten werden, die sie so nicht erwartet hatten. Er selbst sieht sich gezwungen, anstatt in den Zarendienst in die wilden Wolgasteppen als Landbauer zu gehen. Es ist überliefert, dass von Plahten in der Kolonie Dönhoff Schulmeister war, wobei er dieses Amt möglicherweise zunächst in Hussenbach ausübte. Um 1772 war von Plahten eine Zeitlang Schulmeister in der Kolonie Jost.

Das „Einwanderungslied“ war in Handschriften in den Wolgakolonien verbreitet und zählt zu den Anfängen des russlanddeutschen Schrifttums. Der in Versen verfasste Text wurde zum ersten Mal in dem Werk „Unsere Kolonien“ (Odessa, 1898) von dem Historiker Alexander Klaus veröffentlicht.

Auch das 1802 erschienene Buch „Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züge´s Leben in Russland“ schildert nicht nur die Sitten und Gebräuche der Russen, sondern beschreibt auch die Schwierigkeiten nach der Ankunft, das kleinstädtische Leben im russischen Saratow und in umliegenden „deutschen“ Ortschaften. 1746 als Sohn eines Zeugmachers in Gera geborene Handwerksgeselle Christian Gottlob Züge gelangte 1764 auf seiner Wanderschaft nach Lübeck. Hier schloss er sich einem Zug von Auswanderern an. Nach der Ankunft im Siedlungsgebiet zog er bald nach Saratow, wo er zunächst in einer Manufaktur arbeitete. Danach war er Mitglied einer Schauspielertruppe. Nachdem ihm mit Hilfe eines falschen Passes die Flucht aus Russland gelungen war, kehrte er 1774 in seine Geburtsstadt zurück. In seinem Buch fasst er unter anderem die Eindrücke von der Reise in die deutschen Siedlungsgebiete und seine illegale Flucht auf dem Landweg über Moskau ins heimatliche Gera. 1988 erlebte „Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züge’s Leben in Rußland“ eine kommentierte Neuauflage in der Reihe „Sammlung denkwürdiger Reisen“ bei Edition Temmen (Bremen).

Auf historischen Ereignissen basiert die Geschichte „Schön Ammi von Mariental und der Kirgisen-Michel“, die in schaurigen Bildern den Überfall auf Mariental beschreibt und eine zentrale Stellung im historischen Gedächtnis der Wolgadeutschen einnimmt. Die mündliche Überlieferungen der Geschichte zeichneten der Marientaler Anton Schneider (1798-1867) und um 1861 der Pastor Friedrich Dsirne auf. Auf diesen Texten beruht das Schauspiel, das Gottlieb von Göbel und Lehrer Alexander Hunger 1914 schufen: „Fest und treu oder der Kirgisen-Michel und die schön‘ Ammie aus Pfannenstiel. Historisches Festspiel zum 150. Jubiläum der Ankunft der ersten deutschen Ansiedler an der unteren Wolga. In drei Akten“.

Die Geschichte beschreibt in schaurigen Bildern den Überfall auf Mariental am 15.8.1776 (zuvor wurde die Kolonie schon 1771 und im Frühjahr 1776 überfallen) und nimmt eine zentrale Stellung im historischen Gedächtnis der Wolgadeutschen ein. Am 15.8.1776 (Maria Himmelfahrt) war ganz Mariental gerade zur Messe im Gotteshaus versammelt, als der Entsetzensruf der Wache kam: „Die Kergiser kommen!“ Als Folge des grausamen Überfalls wird Hannmichel zusammen mit anderen Kolonisten auf dem Sklavenmarkt „im Lande der Kirgisen“ verkauft. Seine Verlobte „Schön Ammi“ bleibt ihm die ganze Zeit treu, denn erst nach 12 Jahren Gefangenschaft darf Hannmichel dank der Hilfe der Tochter seines kirgisischen Herrn in seine Heimat zurückkehren. Seitdem sind „Schön Ammie“ und Hannmichel ein glückliches Paar – die Szene spielen Maria und Peter Warkentin eindrucksvoll nach.

„Das Lied vom Küster Deis“, das als „wolgadeutscher Versepos“ bezeichnet wird, stellt Deis, einen Mann mit vielen Talenten, in den Mittelpunkt – in seinem Dorf Neuruslan ist er Küster, Kantor, Lehrer, Organist, Sekretär, Regent, Archivar, Feldschar und Glockenläuter und Sänger – „himmlisch schön war seine Stimme“. Auf der Bühne erleben die Zuschauer Deis als strengen Schullehrer und als treuen Familienvater. Gegen den Überfall der „Kirgisen“ hat Deis die Leute in der Kirche bei Gesang und Gebet versammelt und damit eine verblüffende Wirkung erreicht – die Angreifer ziehen ab. Danach wird ausgelassen das Freudenfest gefeiert. Der Verfasser Pastor David Kufeld (stammt aus der Kolonie Schaffhausen) war 1912 in der Bezirksabteilung für Volksbildung tätig, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich freiwillig zur Armee. Das „Lied“ ist als Beitrag zur 150-Jahrfeier der Ankunft der deutschen Siedler an der Wolga entstanden, genauer zum Gründungsjubiläum von Dobrinka auf der Bergseite, dem ersten wolgadeutschen Dorf.

Der Roman von Gerhard Sawatzky (1901–1944) „Wir selbst“ bedeutet einen gewaltigen Zeitsprung nicht nur auf der Bühne – die Handlung spielt in der Sowjetzeit an der Wolga, wo der Klassenkampf und die Kollektivierung in den deutschen Siedlungen in vollem Gange sind. Gerhard Sawatzky, in Blumenfeld (Südukraine) geboren, verbrachte seine Kindheit in der Altairegion (deutsches Dorf Polewoje), studierte am Pädagogischen Herzen-Institut Leningrad und wirkte als Lehrer und Redakteur in Engels/Wolga. Sawatzky gehörte zu den führenden Vertretern der jüngeren Generation der wolgadeutschen Schriftsteller in der Zwischenkriegszeit und war zuletzt Vorsitzender der wolgadeutschen Schriftstellerorganisation. Er schrieb Erzählungen, Poeme und Gedichte im Sinne des deklarierten sozialistischen Realismus.

1938 wurde er verhaftet und sein Roman beschlagnahmt – Sawatzky starb 1944 im Lager in Solikamsk. Seine Ehefrau konnte bei der Deportation nach Sibirien eine maschinengeschriebene Kopie des Manuskripts des vernichteten Romans (1.200 Seiten!) mitnehmen und ihn so trotz aller Gefahren und Entbehrungen wie durch ein Wunder retten. In den 1980er Jahren wurde die vollständige Fassung des Romans „Wir selbst“ im Almanach „Heimatliche Weiten“ in einigen Fortsetzungen (HW 1984-1988) veröffentlicht.

Die Deportation der Wolgadeutschen kommt auf der Bühne tiefemotional mit dem Romanauszug von Victor Klein (1909-1975) „Der letzte Hügel“ zum Ausdruck: Eine Entwicklung, die das Ende des Deutschtums an der Wolga einleitete. Wie kein anderer russlanddeutscher Autor des 20. Jahrhunderts hat der Wolgadeutsche Victor Klein eine Vielzahl an Kulturfeldern beackert. Als Dichter, Erzähler, Folkloresammler, Verfasser von Lehrbüchern und methodischen Anleitungen, Pädagoge und Förderer junger Talente gehörte er zu den bedeutendsten Vertretern der Volksgruppe in der ehemaligen Sowjetunion. Er galt in jeder Hinsicht wegweisend für die russlanddeutsche Literatur und Kultur überhaupt.

In Warenburg an der Wolga geboren, studierte Klein Germanistik am Deutschen Pädagogischen Institut in Engels und war anschließend vier Jahre lang Dozent für deutsche Sprache und Literatur am selben Institut. 1941 wurde er mit Familie nach Sibirien (Kansk) deportiert und kam kurz darauf ins Arbeitslager – 1943-1949 war er in Nyrob (Gebiet Molotow, heute Gebiet Perm). Als Knochengerüst kehrte er 1949 nach Kansk zu seiner Familie zurück.

Danach war die Fakultät für Fremdsprachen der Pädagogischen Hochschule Nowosibirsk seine Wirkungsstätte, wo er als Dozent für deutsche Sprache und Literatur tätig war. Hier wurde an der Fakultät für Fremdsprachen die philologische Abteilung (Fachrichtung deutsche Sprache und Literatur) eröffnet. Mit Leib und Seele gab sich Klein seiner neuen Arbeit hin, die letzten 15 Jahre seines knapp 66 Jahre währenden Lebens waren die fruchtbarste Zeit. Die deutsche Muttersprache war sein Heiligtum und Sorgenkind zugleich. Deswegen hatte auch die pädagogische Tätigkeit für den Schriftsteller Klein einen besonderen Stellenwert. „Der Deutschunterricht von Heute ist die Literatur von Morgen“, pflegte er zu sagen.

Als einer der Ersten in der deutschen Nachkriegsliteratur wagte sich Victor Klein an ein Thema, das jahrzehntelang tabu war: Deportation der Russlanddeutschen nach Sibirien und Kasachstan. Bereits bei dem Schriftstellerseminar in Krasnojarsk im Juli 1962 las er einen Auszug aus seinem Romanentwurf „Der letzte Grabhügel“ und riss damit alle Anwesenden in seinen Bann. Dass dieser Romanauszug damals oder noch Jahre später veröffentlicht werden könnte, war völlig undenkbar. Als Klein 1975 stirbt, vernichtet seine Witwe, dem Psychoterror nicht gewachsen, zwei Romane („Das Leben der Wolgadeutschen“ und „Der letzte Grabhügel“), die ihr Mann noch kurz vor seinem Tod fertiggestellt hatte. Der damals verlesene Romanauszug konnte erst 1988 in der deutschsprachigen „Roten Fahne“ nach handschriftlicher Fassung von Rudolf Klein, dem Bruder des Schriftstellers, veröffentlicht werden.

In der Schlussszene des Romanauszugs von Victor Klein wird ein wolgadeutsches Dorf nach dem Erlass vom 28. August 1941 „ausgesiedelt“. Auf dem Weg zur Eisenbahnstation stirbt der alte Andres Kinzel und wird auf dem Hügel in Dorfnähe begraben. Seine Schwiegertochter Gret bringt zur gleichen Zeit ein Kind zur Welt, das zu Ehren des Verstorbenen den Vornamen Andreas bekommt – im ersten russischen Dorf wird er als „Andrej“ eingetragen. „Der rundbackige Andreas-Andrej wird heranwachsen und dereinst als Mann auch in dem fernen Sibirien alles überwinden und sich somit seines toten Großvaters und seiner wackeren Landsleute würdig erweisen“, ist bei Victor Klein nachzulesen.

Als verbindendes Element all dieser Abschnitte der wolgadeutschen Geschichte spielt die Holzkiste, im wolgadeutschen Sprachgebrach die Kist‘, als Symbol der vielen Wanderwege der Wolgadeutschen eine zentrale Rolle auf der Bühne. Bei allen Wanderungen gehörte das Wertvollste in die Kiste, fast immer war es die Bibel. In Warkentins Aufführung ist es der ideelle Schatz, die alten Bücher und Werke, die die wechselvolle und bewegende Geschichte der Wolgadeutschen dokumentieren und bis heute das historische Gedächtnis der russlanddeutschen Volksgruppe prägen, auch wenn die Werke als solche der breiten Masse unbekannt geblieben sind.

Neben der Wanderkiste und den alten Büchern gehört die berüchtigte „Fufaika“ (Steppjacke aus der Zeit der Zwangsarbeit und noch viele Jahre danach), ein einfacher Tisch mit Hockern oder ein Plakat „Es lebe die Autonomie“ zum „Inventar“ der Bühne. Auf der Bühne wird aus den oben erwähnten sechs Werken zitiert und rezitiert, gesungen und gespielt, historische Ereignisse werden mit knapper Bühnenausstattung und dennoch emotional nachvollziehbar und künstlerisch eindrucksvoll vermittelt. So taucht man in die Vergangenheit ein, die unzertrennlich auch zur Gegenwart jeder russlanddeutschen Familie gehört.