Wenn jemand die Regeln der Kommasetzung nicht beherrscht, behauptet eine Freundin von mir gern, er setze die Kommas mit der Streusandbüchse. Das Ergebnis dieses so bildhaft beschriebenen Vorgangs hat man sofort vor Augen: Es ist auf jeden Fall ungeordnet über eine bestimmte Fläche verteilt.
Schwieriger wird die Sache offensichtlich, wenn es nicht um Satzzeichen, sondern beispielsweise um Menschen geht. So lese ich bei meiner Korrektoratsarbeit immer wieder die Aussage, die Russlanddeutschen seien „im ganzen Land zerstreut“ worden.
Diese Formulierung kann zumindest einige Frage aufwerfen, da deutsche Muttersprachler mit dem Verb „zerstreuen“ oder gar „zerstreut sein“ in erster Linie etwas anderes assoziieren. Die Vorsilbe „zer-“ deutet nämlich auf einen Prozess hin, der von innen heraus verläuft. So kann sich durchaus eine Menschenmenge zerstreuen oder, wenn es sein muss, kann laut Duden auch die Polizei die Menschenmenge zerstreuen, obwohl ich da das Verb „auflösen“ passender fände.
Noch schwieriger ist es mit dem Partizip „zerstreut“, denn dieses ist geradezu dazu prädestiniert, mit dem gleichlautenden Adjektiv verwechselt zu werden. Wer würde dabei nicht an den russischen Kinderreim denken: „Вот какой рассеянный с улицы Бассейной …“
Wesentlich eindeutiger lässt sich der oben erwähnte Sachverhalt mit dem Verb „verstreuen“ darstellen, denn hierbei handelt es sich um das ungeordnete Verteilen verschiedener Gegenstände (oder eben Menschen). So bietet der Duden, der „zerstreuen“ durchaus auch als Synonym zu „verstreuen“ angibt, hier das Beispiel der „über die ganze Welt verstreute[n] jüdische[n] Gemeinschaften“.
Ob man „verstreuen“ oder „zerstreuen“ verwendet, richtet sich also nach der Perspektive: Geht man von einem einheitlichen Ganzen aus, dessen Einzelteile ungeordnet verteilt werden, ist „zerstreuen“ logischer. Sind es mehrere unabhängig voneinander existierende Dinge, die verteilt werden, werden sie verstreut.
Ich hoffe, ich konnte mit diesem Beitrag auch die letzten Zweifel zerstreuen.
Carola Jürchott