von Nina Paulsen
„Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört.“ (Prof. Dr. Carsten Gansel, der Herausgeber)
Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört, und dies stark zu machen, das scheint mir wichtig. Unabhängig davon halte ich es für eine grundsätzliche Aufgabe von Literaturwissenschaft, das Gedächtnis zu bewahren und sich auch nicht von Gegenstimmen, die es hier wie da gibt, abhalten zu lassen“, sagt der Literaturwissenschaftler und Herausgeber, Prof. Dr. Carsten Gansel, über den Roman „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky (1901-1944), der Anfang März 2020 im Verlag Galiani Berlin – mehr als 80 Jahren nach seinem Verbot und über 30 Jahre nach der Veröffentlichung der gekürzten Fassung im Literaturalmanach „Heimatliche Weiten“ (1984-1988) – erstmals in Buchform erschienen ist. Der nachstehende Beitrag erzählt über das tragische Schicksal des Autors und das zuerst verschollene Manuskript, über die Bemühungen um die Veröffentlichung des Romans „Wir selbst“ in den 1980er Jahren und heute, den Symbolcharakter des Titels über Jahrzehnte hinweg sowie die Bedeutung des Werkes für die Erinnerungskultur der russlanddeutschen Volksgruppe.
Sawatzkys großer Gesellschaftsroman, der zu Lebzeiten des Autors nie erschienen war und erst in den 1980er Jahren im Almanach „Heimatliche Weiten“ (Moskau) zensiert veröffentlicht werden konnte, ist das „bedeutendste Werk der sowjetdeutschen Vorkriegsliteratur“ (nach Woldemar Ekkert, 1910-1991), das mit der Behandlung des Lebens der Wolgadeutschen in der Zwischenkriegszeit ein untergegangenes Stück Zeitgeschichte darstellt. „Wir selbst“ erzählt von einer untergegangenen Welt, derjenigen der ASSR der Wolgadeutschen (1918-1941). Im häufigen Szenenwechsel zwischen Land und Stadt beschreibt der Roman entscheidende Momente im Leben der Wolgadeutschen von 1920 bis 1937: die Auswirkungen der Oktoberrevolution 1917, den Bürgerkrieg, die Etablierung der Sowjetmacht, den offenen und getarnten Klassenkampf, die Kollektivierung und Industrialisierung.
„Auch wenn Sawatzky schon beim Schreiben die Angst vor stalinistischen Säuberungsaktionen im Nacken saß und er manches unterschlug bzw. beschönigte – sein Buch ist ein höchst bedeutendes Zeitzeugnis“, ist in der Verlagsvorschau zum Buch nachzulesen. Der Herausgeber Carsten Gansel (geb. 1955, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen) hat die einzigartige Edition mit einem aufschlussreichen Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Republik und ihrer Literatur versehen.
Hugo Wormsbecher: „… ein großes Ereignis für unsere ganze Literatur, für unsere Kultur, für unsere Geschichte …“
Gerhard Sawatzky wurde 1901 in der Südukraine geboren, verbrachte seine Kindheit in Westsibirien und studierte am Leningrader Pädagogischen Herzen-Institut. Danach arbeitete er zuerst als Lehrer, dann als Journalist und Autor im Wolgagebiet. Sawatzky, der als wichtigster Literat der jüngeren Generation der Wolgadeutschen und Vorkämpfer einer eigenständigen „sowjetdeutschen“ Literatur galt, vollendete 1937 sein Werk „Wir selbst“. Noch bevor der Roman, der bereits in Druckvorbereitung war, veröffentlicht wurde, wurde Sawatzky Ende 1938 verhaftet und starb 1944 im GULag Solikamsk. Sawatzkys Witwe Sophie Sawatzky gelang es jedoch, bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen das ursprüngliche Manuskript zu retten. In den Jahren 1984 bis 1988 wurde der Roman erstmals in voller Fassung (allerdings bearbeitet und zensiert) im Almanach „Heimatliche Weiten“ veröffentlicht.
Zur Bedeutung der Veröffentlichung des Romans „Wir selbst“ erstmals in Buchform schreibt Hugo Wormsbecher (geb. 1938, wohnhaft in Moskau, 1981-1989 Chefredakteur des Literaturalmanachs „Heimatliche Weiten“):
„Schon das erste Erscheinen des Romans von Gerhard Sawatzky in den 1980er Jahren im Literaturalmanach ‚Heimatliche Weiten‘, ein halbes Jahrhundert nach seiner Fertigstellung in der ASSR der Wolgadeutschen und dann seinem baldigen Verbot, war ein großes Ereignis für die Neuentdeckung der bis dahin gesamt verbotenen Vorkriegsliteratur der Russlanddeutschen. Wie auch einige Jahre zuvor die Gründung des Almanachs ein großes Ereignis für unsere ganze Literatur, für unsere Kultur, für unsere Geschichte war.
Das Erscheinen des Romans jetzt in Deutschland – noch 30 Jahre nach der Veröffentlichung im Almanach, erstmals in Buchform und für einen viel größeren Leserkreis – ist wiederum ein beispielloses Ereignis. Denn für viele heutige Leser, vor allem in Deutschland, wird der Roman von Gerhard Sawatzky sicher eine einmalige Möglichkeit sein, eine Vorstellung davon zu bekommen, durch welche Härten die Russlanddeutschen in den damaligen schwierigsten Umbruchzeiten gegangen sind – zusammen mit dem ganzen Land; eine Vorstellung davon, aus welcher Zerrüttung, aus welchem Abgrund wir uns emporgearbeitet hatten, bevor wir in einen noch viel schlimmeren Abgrund gestoßen wurden, in den Abgrund der grausamsten Repressionen, die immer noch nicht berichtigt worden sind – dieses immer noch fortwährende Unrecht lässt uns bis heute an der endgültigen Rehabilitierung als unserem wichtigsten politischen Ziel festhalten.
Für mich persönlich ist das Erscheinen des Romans von Gerhard Sawatzky eine Bestätigung mehr, dass große Ziele und bisweilen unvorstellbare Anstrengungen zu ihrer Erreichung manchmal auch das Unmögliche möglich machen. Diese Bestätigung zu erfahren, ist für mich immer noch wichtig, auch wenn die Herausgabe des Romans nicht das einzige und nicht mal das wichtigste Ziel in meinem Leben war… An dieser Stelle möchte ich meine tiefste Dankbarkeit Prof. Dr. Carsten Gansel und seinen Kollegen für ihren beherzten und couragierten Beitrag zur Veröffentlichung des Romans aussprechen, wie auch der Justus-Liebig-Universität Gießen für die tatkräftige Unterstützung bei der Verwirklichung dieses wichtigen Vorhabens.“
Der Schriftsteller und Mensch Gerhard Sawatzky in seiner Zeit
Als einer der wichtigsten Vertreter der jüngeren Literaten gehörte Gerhard Sawatzky in den 1930er Jahren zu den führenden Schriftstellern der Wolgaregion und den Vorkämpfern einer eigenständigen „sowjetdeutschen“ Literatur. Er veröffentlichte Gedichte und Erzählungen, redigierte die literarische Monatsschrift „Der Kämpfer“ (1932-1938 in Engels) und kümmerte sich um literarische Nachwuchskräfte.
Als „sowjetdeutsche“ Literatur galten von Anfang an die in der Sowjetunion deutsch verfassten Werke, deren Autoren auf dem Boden der Sowjetmacht standen. Die noch junge deutsche proletarische Literatur, auch an der Wolga, zeigte damals eine beachtliche Vielfalt: Gedichte, Kurzgeschichten, Schwänke, Erzählungen, Novellen, Skizzen, Bühnenstücke und Romane. Neugestaltung des Lebens, der neue Mensch im Sozialismus, die revolutionären Wandlungen auf dem Land und der erbitterte Klassenkampf waren die neuen Themen.
Schon 1931 erfolgte der Zusammenschluss der wolgadeutschen Schriftsteller, die sich in der Wolgadeutschen Assoziation Proletarischer Schriftsteller organisierten. Sawatzky war einer der Organisatoren des wolgadeutschen Schriftstellerverbandes und leitete ihn kurze Zeit bis zu seiner Verhaftung 1938 (zuvor hatten ihn Christian Ölberg, 1898-1942, und Andreas Saks, 1903-1983, geleitet). Als Diskussions- und Literaturtribüne galt „Der Kämpfer“ (Monatsschrift für Literatur und Kunst), für ihre Veröffentlichungen benutzten die Literaten auch die Literaturseiten der „Nachrichten“ bzw. die Unterhaltungsbeilage „Maistube“.
Kinder und Jugendjahre: Gerhard Sawatzky war kein gebürtiger Wolgadeutscher. „Er sprach ein perfektes Hochdeutsch, verbarg aber auch nicht sein Platt, das er von zu Hause aus dem Altai mitgebracht hatte“, erinnerte sich sein damaliger Kollege, der Schriftsteller Andreas Saks („Rote Fahne“ Nr. 55 vom 8. Juli 1978). Sawatzky wurde am 26. Dezember 1901 in der deutschen Kolonie Blumenfeld (Gouvernement Jekaterinoslaw) im Süden der Ukraine in einer mennonitischen Familie geboren. 1911 zogen die Eltern in das Dorf Nikolaipol/Nikolskoje in der Altairegion (1951 ging das Dorf neben anderen kleineren Orten in der Siedlung Protassowo auf), wo sich im Zuge der Binnenwanderung neue deutsche Siedlungen gründeten, unter anderem rund um die Siedlung Halbstadt im Altai. Hier verbrachte der zukünftige Schriftsteller seine Jugendjahre und arbeitete nach dem Schulabschluss 1920 bis 1923 als Lehrer in der örtlichen Dorfschule.
„Sein Vater bot alles auf, um dem begabten Jungen Bildung angedeihen zu lassen“, bemerkte Dominik Hollmann (1899-1990) in einem Sawatzky-Porträt („Zweig eines großen Baumes“, Verlag „Kasachstan“, 1974). Der „Nachrichten“-Mitarbeiter und damalige Kollege Sawatzkys, der deutsche Politemigrant Lorenz Lochthofen, geht in seiner Beschreibung in den „Nachrichten“ vom 1. März 1936 weiter: „Mit Gewalt drängte es ihn heraus aus der Enge des dörflichen Idiotismus. Er wollte fort, irgendwohin, wo die Welt anders aussieht und wo seine Jugend nicht gefesselt wird durch verknöcherte, reaktionäre und religiöse Traditionen, wie es zu Hause in der mennonitischen Gemeinschaft der Fall war.“ Ob diese Darstellung dem ideologischen Duktus geschuldet war oder tatsächlich stimmte, bleibe dahingestellt.
Studium und berufliche Laufbahn: Sawatzky absolvierte in den späten 1920er Jahren das Leningrader Pädagogische Herzen-Institut und wurde in das Wolgagebiet beordert, wo er deutsche Sprache und Literatur in Balzer unterrichtete. 1931 wurde er nach Engels eingeladen, wo er als literarischer Mitarbeiter bei der Zentralzeitung der Wolgadeutschen „Nachrichten“ tätig war und die Literaturzeitschrift der Wolgadeutschen „Der Kämpfer“ redigierte, zuerst als stellvertretender Redakteur.
„Anfang 1931 trat in Engels eine Persönlichkeit an die Öffentlichkeit, die sofort die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ein schlanker junger Mann mit gutmütigen klugen Augen, einem ovalen Gesicht, weicher wohlklingender Stimme und einer eigentümlich klingenden Aussprache. Auch sein Name klang ungewohnt: Gerhard Sawatzky“, erinnerte sich der damalige Dozent an der Deutschen Pädagogischen Hochschule Engels, Dominik Hollmann („Zweig eines großen Baumes“, Verlag „Kasachstan“, 1974), wobei er dem jungen Literaten Sawatzky „gediegene Kenntnisse“, „hohes Kulturniveau“ und „korrektes Benehmen im Umgang, in jeder beliebigen Situation“ bescheinigte. „Er fand immer den richtigen Ton… Ich sah ihn nie verärgert oder missgestimmt. Eine schwierige Sachlage stimmte ihn höchstens nachdenklich. Doch konnte er erregt sein und heftig diskutieren, wenn Fragen angeschnitten wurden, die auf irgendeine Weise an Literatur, Sprache und Kunstmittel grenzten“, so Hollmann.
Ganz besonders kümmerte sich Sawatzky um den schreibenden Nachwuchs, was auch dringend nötig war. Denn bereits bis 1937 war eine Mehrzahl begabter wolgadeutscher Autoren den stalinistischen Repressionen zum Opfer gefallen. Die meisten von ihnen wurden verhaftet und erschossen oder in Gefängnissen zu Tode gemartert, auch der Rest spürte schon den Todesgriff im Nacken.
Im März 1931 wurde bei der Redaktion der „Nachrichten“ eine Arbeitsgemeinschaft angehender Dichter ins Leben gerufen. Unter den Teilnehmern waren Günther, Hollmann, Eck, Henke, Klein, Hardock und Bolger, die zur Riege der aktiven Nachkriegsgeneration russlanddeutscher Schriftsteller gehörten. Vor allem Sawatzky widmete sich den jungen Begabungen und plädierte dafür, dass der Schriftstellerverband sich mehr der jungen Autoren annehme.
„Unter den wolgadeutschen Literaten der 1930er Jahre gab es kaum einen zweiten, der in der Literaturbewegung jener Zeit so tiefe Spuren hinterlassen hätte wie Gerhard Sawatzky. An den Redakteur der Zeitschrift ‚Der Kämpfer‘ wandte sich jeder angehende Literat. Und wir erinnern uns mit Dankbarkeit an die Unterstützung und Hilfe, die wir dort erhalten konnten. … Seine Winke und Hinweise, die er in einer sehr delikaten Form vorzubringen wusste, haben so mancher literarischen Schöpfung, ob Poesie oder Prosa, den Weg ins Leben gebahnt“, schrieb Herbert Henke (1913-1999), der zwei Jahre zusammen mit Sawatzky arbeitete, 1978 („Rote Fahne“ Nr. 55).
Das Werk von Gerhard Sawatzky – Roman „Wir selbst“ als Mittelpunkt: Seine literarische Tätigkeit begann Sawatzky schon als Student. Seine Gedichte aus dem Jahr 1926 flossen in den Sammelband „Rote Knospen. Sammlung 1 deutscher revolutionärer Poesie in der Sowjetunion“ (Zentral-Völker-Verlag, Moskau 1928) und andere Sammelbände ein. Elf seiner Gedichte gingen in das Sammelwerk „Kampflieder wolgadeutscher Schriftsteller“ (Engels 1934) ein, darunter auch eine Nachdichtung von Gorkis „Sturmvogel“. Er veröffentlichte außerdem literaturkritische Artikel. Zur gleichen Zeit legte Sawatzky Prosawerke vor: „Unter weißen Mördern“, „Partisanengrab“ oder „Drei Kollektivisten erzählen“.
Das größte und künstlerisch bedeutsamste Verswerk Sawatzkys ist sein Poem „Die Dürre“. Wie viele andere russlanddeutsche Autoren jener Zeit verstand sich Sawatzky als Realist, als Schilderer des Lebens der Russlanddeutschen und vor allem als Chronist der Veränderungen dieses Lebens in der neuen Zeit, die vom Geist der sozialistischen Utopie eines brüderlichen Zusammenlebens der Werktätigen aller Nationen geprägt war.
Sawatzkys Hauptwerk ist der Roman „Wir selbst“, den er 1937 vollendet hatte und der 1938 bereits gesetzt war, aber nicht mehr gedruckt werden durfte, weil sein Verfasser Ende 1938 verhaftet wurde und in Stalins Zwangsarbeitslagern verschwand. Zuvor wurden Auszüge aus dem Roman in der Literaturzeitschrift der Wolgadeutschen „Der Kämpfer“ und auf den Literaturseiten der „Nachrichten“ veröffentlicht, etwa die Kapitel „Christians ,Freude’“ („Nachrichten“ vom 1. März 1936) oder „Das Erntefest“ („Nachrichten“ vom 3. November 1938) als „Auszug aus dem Roman ‚Wir selbst‘, der demnächst im Deutschen Staatsverlag erscheint“.
Noch am 16. Oktober 1938 war in den „Nachrichten“ in der Notiz „Woran arbeiten die Schriftsteller der Republik“ zu lesen: „Die Schriftsteller der Stadt Engels arbeiten gegenwärtig an Kunstwerken, worin das glückliche und freudenvolle Leben der Werktätigen der Republik widergespiegelt ist. Der Schriftsteller G. Sawatzky hat seinen neuen Roman ‚Wir selbst‘ beendet. Der Schriftsteller zeigt darin den neuen Menschen der Sowjetunion, der zusammen mit dem Lande heranwuchs.“
Aufreibende ideologische Kämpfe, denen man nicht entrinnen konnte: Im Zuge der Vorbereitungen zum 1. Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller im August 1934 in Moskau, der eine Zäsur für die sowjetische Literatur allgemein und die deutschsprachige im Besonderen war, kam es auch an der Wolga zu Diskussionen und Konferenzen, bei denen die exildeutschen Literaten nicht abseits standen.
Einen Vorgeschmack auf die bedrohlichen Entwicklungen der späten 1930er Jahre lieferte bereits die erste Unionskonferenz „sowjetdeutscher“ Schriftsteller vom 21. bis 26. März 1934 in Moskau, bei der nicht nur „sowjetdeutsche“ Autoren aus dem Wolgagebiet und Ukraine, sondern auch Exildeutsche anwesend waren und sich intensiv in die Arbeit einbrachten. Im Mittelpunkt der Unionskonferenz im März 1934 stand der Vortrag von Hugo Huppert, „Über die sowjetdeutsche Literatur“. Huppert warf den „sowjetdeutschen“ Schriftstellern mangelnde organisatorische Anstrengung angesichts des Beschlusses des ZKs der KPdSU „Über Neuordnung der literarisch-künstlerischen Organisationen“ (1932) vor.
Gerhard Sawatzky trat mit einem Koreferat über das Schaffen der „sowjetdeutschen“ Literaten an der Wolga auf, wobei er das Schaffen eines jeden aktiven Schreibenden erläuterte und auch auf seine eigene schriftstellerische Tätigkeit selbstkritisch einging – das Ritual der Selbstkritik durfte damals bei keiner Versammlung bzw. Konferenz fehlen. Ab 1934 war er Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR – für professionelle Autoren während der gesamten Sowjetzeit eine fast unerlässliche Notwendigkeit, um sich behaupten zu können und gedruckt zu werden.
Der erste Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller in Moskau erhob das Prinzip des „sozialistischen Realismus“ zur Pflicht eines jeden Schreibenden in der Sowjetunion. Das bedeutete, dass auch die „sowjetdeutsche“ Literatur grundsätzlich „ihrer Form nach national und ihrem Inhalt nach sozialistisch“ zu sein hatte. Von den insgesamt 600 Delegierten waren acht deutscher Nationalität, davon fünf aus der ASSR der Wolgadeutschen (einer von ihnen Gerhard Sawatzky) und drei aus Moskau. Der Nachwirkung des Kongresses sind wohl auch die damalige Kampfesstimmung und die noch kompromissloser geführten Debatten über den „Zustand der wolgadeutschen Sowjetliteratur“ und die „Grundfragen der Entwicklung wolgadeutscher Sowjetliteratur“ geschuldet.
So ist in den „Nachrichten“ vom 16. Juli 1936 in dem Beitrag „Große Aufgaben stehen vor der wolgadeutschen Sowjetliteratur“ auch die Stellungnahme von Gerhard Sawatzky zu Grundfragen der Entwicklung wolgadeutscher Sowjetliteratur nachzulesen: „Wir haben kein Recht, ewig Anfänger zu bleiben… Was haben wir aufzuweisen? Eine, zwei Arbeiten. Wir sind den Werktätigen unserer Republik mehr schuldig und müssen endlich mal ernstlich daran gehen, eine wolgadeutsche Sowjetliteratur zu schaffen… Zur Arbeit des Sowjetschriftstellers gehören auch der gute Wille und hartnäckige Ausdauer… Wenn unsere Sachen gut werden sollen, und das sollen sie, dann dürfen wir nicht die Mühe scheuen, sie wieder und wieder umzuschreiben, wieder und wieder daran zu feilen.“
Auch der Schriftsteller Christian Ölberg (leitete bis Mitte der 1930er Jahre den Deutschen Staatsverlag, war erster Vorsitzender des Schriftstellerverbandes und gehörte zur wolgadeutschen Delegation beim Allunionskongress 1934) zeigte sich äußerst kritisch – sowohl der Schriftstellerverband als auch insbesondere „Der Kämpfer“ mussten harte Kritik einstecken. Er bemängelte, dass „wir keine Literaturmassenarbeit“ leisten und „‚Der Kämpfer‘ das Wirken und Schaffen der Werktätigen der Wolgadeutschen nicht widerspiegelt“. „Der Kämpfer“ habe keine „Ecke für den anfangenden Schriftsteller. In jeder Nummer müssten Ratschläge für Anfänger enthalten sein, in jeder Nummer müsste eine Erzählung oder ein Auszug aus einer solchen mit eingehender Besprechung gebracht werden“, so Ölberg.
In seinem Artikel „‚Der Kämpfer‘ bleibt zurück“ („Nachrichten“ vom 8. April 1936) ging Sawatzky in seiner Antwort auf eine Kritik von Lorenz Lochthofen am „Zurückbleiben der wolgadeutschen Sowjetliteratur“ u.a. dem Vorwurf nach, „Der Kämpfer“ veröffentliche zu wenige Beiträge wolgadeutscher Schriftsteller. Die Ursache dafür sah er ebenfalls in der „äußerst mangelhaften Arbeit mit dem literarischen Nachwuchs“. Zwar bekomme die Redaktion viel Material von angehenden Autoren, aber das wenigste sei druckreif.
In ihren Erinnerungen betonten einige Zeitgenossen Sawatzkys Strenge sich selbst gegenüber. Diese kam auch bei der Druckfertigstellung des Romans „Wir selbst“ zum Ausdruck. „Viele Tage lang saß er mehrere Stunden zusammen mit dem Stilredakteur des Verlags und unterzog mit ihm Satz für Satz einer sprachlich-stilistischen Prüfung“, ist bei Hollmann nachzulesen. Das Erscheinen des Romans durfte er aber nicht mehr erleben. Das Leben des führenden wolgadeutschen Schriftstellers Gerhard Sawatzky endete am 1. Dezember 1944 im Arbeitslager Solikamsk, einem der zahlreichen stalinistischen Konzentrationslager für politische Gefangene. 1956 wurde er postum rehabilitiert.
„Wir selbst“ – ein großer Gesellschaftsroman, der von einer untergegangenen Welt erzählt.
Das Werk von Gerhard Sawatzky, „Wir selbst“, ein Epos von über 900 Seiten, ist ein großer Gesellschaftsroman, der von einer untergegangenen Welt berichtet – der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD). Das Werk, an dem der Schriftsteller in den Jahren 1932 bis 1937 arbeitete, erzählt die Geschichte und Geschicke der Deutschen in der ASSR der Wolgadeutschen. Sawatzky war Geschichtenerzähler und Chronist der Veränderungen des Lebens an der Wolga zugleich; sein Roman bildete den damaligen Zeitgeist ab.
„Dieses überdimensionale Werk entrollt vor uns ein gewaltiges Bild des Lebens aller Schichten der Gesellschaft seit dem Großen Oktober und bis in die dreißiger Jahre hinein. Als handelnde Personen fungieren Vertreter der ehemaligen Bourgeoisie und der alten technischen Intelligenz, Händler, Kulaken, einfache Arbeiter und Bauern, die das neue Leben zu Hauptfiguren des Geschehens im Sowjetland gemacht hat“, schreibt Hugo Wormsbecher.
Die Handlung verläuft hauptsächlich an zwei Orten auf der Bergseite der Wolga, in einer Kleinstadt südlich von Saratow (vermutlich Balzer) und in einem unweit davon gelegenen deutschen Dorf. Es werden die Dörfer Schilling, Dönhof, Norka, Grimm, Messer, Huck und Kratzke in der näheren Umgebung erwähnt. Auf der Wiesenseite der Wolga finden Seelmann, Lysanderhöh, Kukkus und Schwed Erwähnung. Die Hauptstadt Engels kommt nur einmal kurz ins Bild.
Zeitlich eingerahmt sei das Geschehen von 1921 bis 1936 (oder kurz davor, jedenfalls werde die „Stalinsche Verfassung“ von 1936 noch nicht erwähnt – und die hätte Sawatzky kaum ausgelassen), meinte der russlanddeutsche Schriftsteller und Kritiker Johann Warkentin (1920-2012). Die Handlung beginnt mit einer Szene aus dem Bürgerkrieg. Der reiche Fabrikant und Anhänger der Weißen, Eduard Benkler, flieht in einem Eisenbahnzug vor der Roten Armee und lässt dabei seine schwerkranke Schwiegertochter Anna und deren Kind zurück. Vier Bolschewiken, darunter der Wolgadeutsche Friedrich Kempel, der auf der Seite der Roten kämpft, weil diese den Armen Land versprochen haben, finden das Kind neben der verstorbenen Mutter und übergeben es in einer Stadt der Familie Kraus, die das Kind adoptiert und Elly nennt.
Im häufigen Szenenwechsel zwischen Land und Stadt erzählt der Roman vor allem von einem jungen Liebespaar – der vorbildlichen, schönen Fabrikarbeiterin Elly Kraus und Heinrich Kempel, dessen Kindheit auf dem Land während des Krieges von Hunger und Entbehrung geprägt ist und der schließlich Ingenieur wird. Wichtige Nebengestalten bzw. Hauptgestalten zweiten Ranges sind Heinrichs Vater Friedrich Kempel, der Kasachenjunge Kindybaj, die beiden mit den Kempels befreundeten und von diesen protegierten Waisen Christian und Bärbel Schröder sowie der Schlosser Hart.
Geschildert werden die Folgen der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges, die Hungersnot an der Wolga („Die Menschen aßen Wurzeln, Gras, Baumrinde. Wenn jemand etwas Ölkuchen erstehen konnte, schätzte er sich glücklich.“), die Auseinandersetzungen um die Kollektivierung („Die Kulaken ausräuchern? … Warum denn nicht gleich?“) und Industrialisierung sowie den erbitterten Kampf zwischen Armen und Reichen.
Der energische und geachtete Schlosser Hart, ein kommunistischer Aktivist, gibt auf das Jammern seiner Frau Marie über seine ständigen Ankündigungen und Pläne und auf ihre Frage: „Wer soll das alles machen?“ eine Antwort, mit welcher der Autor sein gesamtes Werk überschrieben hat: „Wir selbst, Marie, wir selbst.“ „Wir selbst kann von daher durchaus im Sinne der neuen Macht gedeutet werden, aber es ist mehr. Es betont die Bedeutung der russlanddeutschen Gemeinschaft…“, differenziert Carsten Gansel in seinem Nachwort (Seite 1034) zum kürzlich erschienenen Roman „Wir selbst“.
Bemühungen um die Veröffentlichung des Romans – in der Zwischenkriegszeit und nach dem Krieg
Fragmente und Kapitel aus dem Roman „Wir selbst“ wurden bereits in den sowjetdeutschen Zeitungen und Zeitschriften der Zwischenkriegszeit veröffentlicht. So sind Auszüge aus dem Roman in der Literaturzeitschrift der Wolgadeutschen, „Der Kämpfer“, und auf den Literaturseiten der „Nachrichten“ (1936 und auch noch im November 1938) erschienen. „Berichten von Sawatzkys Zeitgenossen zufolge war das Werk schon gesetzt, doch der Autor, der das Vorausexemplar eines Morgens 1938 zur Durchsicht bekommen sollte, hat es nicht mehr gesehen“, schreibt Hugo Wormsbecher. Das bereits fertiggestellte Buch wurde vor dem Druck verboten und vernichtet. Sawatzky selbst wurde Ende 1938 vom NKWD verhaftet und starb 1944 in Solikamsk.
„44 Jahre später ist es mir mit Hilfe von Woldemar Ekkert gelungen, die Witwe des Schriftstellers, die damals in Krasnojarsk lebte, zu finden. Es stellte sich heraus, dass sie all die für sie sehr schweren Jahre die einzige erhalten gebliebene Kopie des maschinengeschriebenen Romantextes aufbewahrt hatte“, so Wormsbecher. Dass der Literaturwissenschaftler und Kritiker Woldemar Ekkert die Witwe Sawatzkys schon Jahrzehnte früher kennen gelernt haben musste, beweist ein Foto vom Schriftstellerseminar in Krasnojarsk 1962, auf dem sie neben Alexander Henning sitzt.
„Erst nach längerem inneren Kampf vertraute sie das Manuskript der Redaktion des Almanachs ‚Heimatliche Weiten‘ an“, meint Wormsbecher, damals Chefredakteur des Almanachs. „Von Sophie Sawatzky haben wir das dritte Exemplar des maschinengeschriebenen Manuskriptes erhalten, den sie letztendlich gerettet hatte. Sawatzky könnte allerdings bereits die fertiggestellte Druckvariante des Buches erhalten haben, die sich vom Urmanuskript sicherlich unterschied. Meine Bemühungen, die Buchversion des Romans ausfindig zu machen, die womöglich im Sonderarchiv des KGB schlummern könnte, blieben bisher ergebnislos“, hebt Wormsbecher hervor.
In den Jahren 1984 bis 1988 wurde der Roman erstmals in voller Fassung (allerdings bearbeitet und zensiert) im Almanach „Heimatliche Weiten“ für Prosa, Poesie und Publizistik veröffentlicht, der von 1981 bis 1990 zweimal jährlich erschien. Im Almanach konnten erstmals großformatige Werke in vollständiger Fassung veröffentlicht werden, darunter der Roman „Wir selbst“, der in umfangreichen Folgen über fünf Jahre abgedruckt wurde.
Dazu schreibt Hugo Wormsbecher: „Das Manuskript, das wir von Sophie Sawatzky erhalten haben, wurde praktisch vollständig veröffentlicht. Die Zensur (des damaligen Chefredakteurs der Zeitung ‚Neues Leben‘) bestand vor allem darin, den Namen Stalin zu entfernen: Beim Schreiben des Romans konnte der Autor nicht umhin, den Namen zu erwähnen, in unserer Veröffentlichung dagegen durfte Stalin noch nicht erwähnt werden.“
Auszüge aus dem Roman erschienen auch in den 1960er und 1970er Jahren in den deutschsprachigen Zeitungen der Nachkriegszeit in der Sowjetunion, „Neues Leben“ (Auszüge in mehreren Folgen in den Jahren 1963, 1965, 1971, 1976 und 1983), „Rote Fahne“ und „Freundschaft“, sowie in „Wir selbst: Sammelband sowjetdeutscher Prosa“ (Moskau 1968, Seiten 5-41).
In Erinnerung an Gerhard Sawatzky – Lesungen 1978 in der Altairegion
Ab Ende der 1960er Jahre verlagerte sich das Zentrum der russlanddeutschen Literaturbewegung in die Altairegion, wo es bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Siedlungen und ein ausgeprägtes Deutschtum in der Kulunda-Steppe gab. Die Altaier Sektion deutscher Schriftsteller und die Slawgoroder Zeitung „Rote Fahne“ (gegründet 1957) veranstalteten regelmäßige Dichterlesungen und Literaturseminare, an denen sich auch deutsche Autoren aus anderen Regionen der Sowjetunion beteiligten. Hervorzuheben sind insbesondere die Literaturseminare und Dichterlesungen in den Jahren 1972, 1976 und 1978.
Das letzte größte Seminar in der Altairegion fand im Rahmen der Sawatzky-Dichterlesungen vom 10. bis 15. Juli 1978 in Slawgorod und den deutschen Dörfern der Kulunda-Steppe statt. Neben den Altaier Literaten Ewald Katzenstein (1918-1992), Waldemar Spaar (1923-2014), Friedrich Bolger (1915-1988), Edmund Günther (1922-1982), Peter Klassen (1906-1998), Woldemar Herdt (1917-1997), Alexander Beck (1926-2012) und Andreas Kramer (1920-2010) gehörten zu den Teilnehmern auch Dominik Hollmann (Krasnojarsk), Johann Warkentin (Moskau, 1920-2012) sowie Ernst Kontschak (Alma-Ata, 1903-1979).
Die eigentlichen Feierlichkeiten zum Jubiläum von Gerhard Sawatzky, fanden im vollbesetzten Saal des Dorfklubs von Protassowo im Rayon Chabary statt. Die ideologische Umrahmung durfte auch diesmal nicht fehlen. Die Feierlichkeiten sollten nicht zuletzt zum emotionalen Erlebnis für die gesamten Dorfbewohner werden und die Loyalität der Sowjetmacht gegenüber den verbannten Deutschen demonstrieren. Die Gäste wurden nach gutem russischen Brauch überall mit Brot und Salz empfangen, Pioniere überreichten Blumensträuße, und am Fuße des Engels-Denkmals (die Kolchose trug damals seinen Namen) und am Denkmal für die im Krieg gefallenen Bürger wurden Kränze niedergelegt und eine Schweigeminute abgehalten.
Bis auf den letzten Platz besetzt war der Saal auch bei der Abendveranstaltung. Keiner, ob alt oder jung, wollte der Feier fernbleiben. Im Zuschauerraum saßen zwei Schwestern Sawatzkys, mehrere Vettern und andere Verwandte, für die das Fest ein besonderes Ereignis war.
Gebannt lauschte man dem Vortrag von Dominik Hollmann über das Leben und Werk des Schriftstellers, der in der Ukraine geboren wurde und in Protassowo seine Kinderjahre verbrachte, bevor er zum Studium nach Leningrad ging und in Engels an der Wolga literarisch tätig war. Den Feierlichkeiten in Protassowo ging ein Literaturseminar in Slawgorod voraus. Auch mehrere Dichterlesungen in den Dörfern der Kulunda-Steppe fanden statt.
Über die Sawatzky-Lesungen berichteten die deutschsprachigen Zeitungen „Neues Leben“ und „Freundschaft“ sowie besonders ausgiebig und schon im Vorfeld die „Rote Fahne“. Es wurden nicht nur Beträge über Sawatzkys Leben und Werk und den Verlauf der Lesungen veröffentlicht, sondern auch ein Auszug aus seinem Roman „Wir selbst“ und einige seiner Gedichte nachgedruckt. Sogar ein Dankschreiben der Witwe Sophie Sawatzky konnte man in der „Roten Fahne“ nachlesen. Aufschlussreich waren auch die Erinnerungen von Dominik Hollmann, Herbert Henke, Friedrich Bolger und Andreas Saks, die Sawatzky noch persönlich gekannt hatten.
Die Bedeutung des Romans „im Kontext der damaligen politischen wie literarischen Verhältnisse verorten“
„Der Schriftsteller zeigt darin den neuen Menschen der Sowjetunion, der zusammen mit dem Lande heranwuchs“, war in den „Nachrichten“ vom 16. Oktober 1938 über den Roman „Wir selbst“ zu lesen, der jahrzehntelang in Auszügen bekannt und verbreitet war. In der Nachkriegszeitbetrachtung fällt die Bewertung des Romans ambivalent aus.
Auf der einen Seite ordnet der russlanddeutsche Literaturkritiker Woldemar Ekkert die Bedeutung des Romans hoch ein: „Es gibt Werke, die in ihrer Wiederspiegelung ganzer geschichtlicher Zeitabschnitte aus der Masse literarischer Werke herausragen wie Felsen aus dem Meer, da sie die Geschichte des gesamten Landes mit der engeren nationalen Geschichte eines Volkes oder einer Völkerschaft meisterhaft verbinden. Michail Scholochow steht in der sowjetrussischen Literatur hierfür als Exempel mit seinen Romanen ‚Der stille Don‘ und ‚Neuland unterm Pflug‘. Das analoge Beispiel für die sowjetdeutsche Literatur ist Gerhard Sawatzky mit seinem Roman ‚Wir selbst‘… Jahrelang arbeitete er daran, angestrengt, rastlos, hingebungsvoll, immer wieder verbessernd, um- und ausarbeitend. Nach langer mühevoller Arbeit war ein Roman entstanden, der eine wichtige historische Epoche im Leben der wolgadeutschen Bauern darstellte: Klassendifferenzierung mit offenem und getarntem Klassenkampf; die Auswirkungen der Oktoberrevolution und der politische Reifeprozess der Arbeiter und Dorfarmen; der Bürgerkrieg, die Kollektivierung und Industrialisierung.“ („Heimatliche Weiten“, 1/1984, „Zum Geleit“ als Einführung in die erste Folge des Romans.)
„Schon vom Thema her bieten sich Parallelen an zu ‚Neuland unterm Pflug‘, jedoch künstlerisch kann sich Sawatzky nicht mit seinem Vorgänger messen“, kontert Johann Warkentin, indem er Sawatzky im Vergleich zu Scholochow vorwirft: „… bei unserem Landsmann indes verläuft alles tierisch ernst. Ihm fehlt es an jener inneren Gelassenheit.“ („Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“, LmDR, Stuttgart 1999, S. 111.) Warkentin bringt die Ambivalenz in der Betrachtung des Romans in seinem oben erwähnten Werk wie folgt auf den Punkt: „Wer Gerhard Sawatzky heute als geneigter Leser ertragen will, muss seine faustdick aufgetragene Anhimmelung des Sozialismus im Allgemeinen, die Verherrlichung konkreter Großtaten der 30er Jahre im Einzelnen und die in der Mitte des Romans einsetzende Glorifizierung Stalins im Besonderen nachsichtig in Kauf nehmen. Und mögen doch die Pfui-Rufer von heute bedenken: Der Roman wurde 1937 fertiggestellt, als die Todesangst dem Verfasser im Nacken saß – und mit jeder Zeile versuchte er, gegen eben dieses Grauen anzuschreiben.“ (Ebenda, Seiten 106-107.)
Hugo Wormsbecher greift tiefer: „Zu den bedeutendsten Leistungen bis zum heutigen Tage gehört der Roman ‚Wir selbst‘ von Gerhard Sawatzky… Den Roman kann man wohl als sowjetdeutsches ‚Neuland unterm Pflug‘ bezeichnen. Doch wird darin nicht nur der Prozess der Kollektivierung im wolgadeutschen Dorf aufgezeichnet; genauso gründlich und ausführlich werden die sozialen Prozesse in der Stadt, die Herausbildung und die Entwicklung der neuen Produktionsbeziehungen in der Industrie geschildert, wobei diese Prozesse durch das Schicksal der vielzähligen handelnden Personen dargestellt werden…
Die Vielzahl der handelnden Personen, ihre soziale Mannigfaltigkeit sowie die Aufgabe, die sich der Autor gestellt hat, in einem Kunstwerk den Prozess der Demontage alter und die Herausbildung neuer Produktionsverhältnisse, dazu noch in der Stadt und auf dem Lande, den Mechanismus dieser Verhältnisse in Aktion zu zeigen – all das barg die Gefahr in sich, in Schematismus, Vordergründigkeit und Oberflächlichkeit bei der Schilderung der komplizierten Erscheinungen jener Jahre zu verfallen.
Doch Sawatzky ist dieser Gefahr erfolgreich entronnen: Selbst die ‚kunstfeindlichsten‘ Ereignisse, jene, die auch vierzig Jahre später die so genannten Produktionsromane außerhalb der Kunst landen ließen, sind bei ihm von lebensechten menschlichen Beziehungen und Interessen durchdrungen und entwickeln sich durch Kampf und Konflikte.
Freilich, bei fehlenden Erfahrungen in der sowjetdeutschen Literatur, derartig gewaltige Bilder zu entrollen, … war kaum damit zu rechnen, dass Gerhard Sawatzky die damit verbundenen Schwierigkeiten restlos überwinden würde… Doch wir sehen erst heute, dass es offensichtliche Mängel sind. Damals stimmte alles, alles war obligatorisch, und wer schrieb schon anders? Selbst wenn der Schriftsteller nicht überzeugt war, dass alles mit rechten Dingen zuging, konnte er dennoch nicht anders schreiben. Den Schriftsteller und sein Schaffen muss man vor dem Hintergrund der Epoche bewerten.
Sobald wir diesem Prinzip folgen, so können selbst diese Mängel des Romans von Gerhard Sawatzky für den Forscher ins Positive umschlagen, denn sie sind eine Spiegelung der Epoche, ihres Geistes, ihrer Verirrungen und Tragik, sie dokumentieren den Entwicklungsgrad des gesellschaftlichen Lebens, der sowjetdeutschen Literatur und ihrer Leser in der damaligen Zeit.
Unbestritten scheint mir aber Folgendes zu sein: Der Roman ist ein Beweis für ein enormes künstlerisches und episches Talent des jungen Autors, und der Umstand, dass Gerhard Sawatzkys Schaffen und etwas später auch das Leben des Autors so früh erloschen, ist als empfindlicher Verlust für die sowjetdeutsche Literatur, vielleicht aber auch nicht nur für sie allein, zu bewerten…“ (HW 1/1989, „Mit dem Volk durch alle Härten gegangen. Notizen über sowjetdeutsche Literatur“.)
Auch der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel, Herausgeber des Romans „Wir selbst“, vertritt die gleiche Position: „Man sollte Gerhard Sawatzky und seinen Roman ‚Wir selbst‘ im Kontext der damaligen politischen wie literarischen Verhältnisse verorten… Sawatzky ist einer der wenigen Autoren der damaligen Zeit, der es schafft, aus der Sicht seiner Figuren zu erzählen. Es spielt also das eine große Rolle, was man Mitsicht, Figurensicht oder eben personales Erzählen nennt. Nehmen wir nur den Textanfang. Da wird die Sicht des enteigneten und vertriebenen Fabrikbesitzers Benkler geschildert. Und an keiner Stelle werden seine – den damaligen Auffassungen in der Sowjetunion diametral entgegenstehenden Positionen – korrigiert. Allein dieser Anfang des Romans hätte den Autor in den Gulag bringen können, und vielleicht war dies auch ein Grund… Sprachlich-stilistisch gehört der Roman meiner Meinung nach zum Besten, was in der russlanddeutschen Literatur in dieser Periode geschaffen wurde… Der sogenannte ‚neue Gegenstand‘, also die Dorfgeschichte und die parallel dazu angelegte Stadt-Handlung, das ist durchaus innovativ. Auch die Art und Weise, wie Sawatzky den Dialog einsetzt und auf Kommentare verzichtet. Er schließt da sehr wohl an die sowjetische Avantgarde an“, so Gansel im Interview („Volk auf dem Weg“, 1-2/2020).
Symbolcharakter des Titels „Wir selbst“ für den Neubeginn der russlanddeutschen Literatur in Deutschland
Auf Seite 117 seiner „Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“ schreibt Johann Warkentin in Anlehnung an den Sawatzky-Roman und die russlanddeutsche Literatur der Zwischenkriegszeit: „Vers und Prosa haben eine Menge Bilder und lebendige Szenen aus jener Zeit festgehalten, und wer achtsam liest, nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschüttet, wird sich in einer traditionsgefestigten und heimatverbundenen Dorfgemeinschaft wiederfinden, in der Deutsch für alt und jung die reale, für viele sogar die einzige Umgangssprache war, und sei es auch nur die eine oder andere Mundart. Deutsch als eine Selbstverständlichkeit! Als wäre es nie anders gewesen und würde auch für immer so bleiben. Auf die kürzeste Formel gebracht: WIR SELBST. Über dreitausend deutsche, deutschsprechende Dörfer, eingebettet in anderthalb Dutzend Sprachinseln, heimisch in den Riesenweiten, das ist, was auch immer Absicht und Anliegen der Autoren, die eigentliche Botschaft jener russlanddeutschen Literatur der Zwischenkriegszeit…“
Nach der pauschalen Diffamierung der Wolgadeutschen durch den Erlass vom 28. August 1941, nach Heimatverlust durch die massenweise Deportation der Deutschen aus allen europäischen Gebieten der Sowjetunion hinter den Ural, nach völliger Entwurzelung durch die Auflösung aller Kulturinstitutionen und Zerstreuung über die Weiten Sibiriens und Kasachstans ging es auch mit der deutschen Muttersprache rasant bergab. Die politisch gewollte und organisierte Russifizierung der „Sowjetdeutschen“ konnten weder der halbherzig organisierte „muttersprachliche Deutschunterricht“ und die drei deutschsprachigen Zeitungen („Neues Leben“ in Moskau, „Rote Fahne“ in Slawgorod und „Freundschaft“ in Zelinograd) noch die mancherorts etablierten deutschen Radio- oder Fernsehsendungen, ein Deutsches Schauspieltheater in Temirtau/Alma-Ata oder der Almanach „Heimatliche Weiten“ aufhalten – nur verlangsamen.
Nicht von ungefähr wurde die deutsche Sprache – „verkümmert und verkommen“, um es mit Johann Warkentin auszudrücken – immer mehr zum Sorgenkind der „sowjetdeutschen“/russlanddeutschen Literatur. Schon nach den Jahren des Großen Schweigens – von 1941 (teilweise schon von 1937) bis 1955 – kam mit den ersten deutschsprachigen Zeitungen ab 1955 auch die Hoffnung auf, wieder deutsch schreiben zu dürfen, deutsch schreiben zu können.
So wurde auch der Begriff WIR SELBST in Anlehnung an den Romantitel von Gerhard Sawatzky als Metapher für die Wiedererlangung der sprachlichen Identität verinnerlicht. „Wir selbst“ heißt z. B. der Sammelband sowjetdeutscher Prosa mit einem Auszug aus Sawatzkys Roman, der bereits 1968 im Moskauer Verlag Progress erschienen war und symbolisch für ein noch zu erlangendes Selbstbewusstsein deutschschreibender Autoren stand. Der Weg dahin war kein einfacher: „Sie war mein Stolz, mein Leid, mein Traum, mein Trauma / mein Notanker, mein Schirm im freien Fall – / … sie war mein Seelentaumel, / die deutsche Muttersprache,…“ – so wie Johann Warkentin fühlten und dachten viele.
Die Aussiedlungswelle brachte fast zwei Millionen Russlanddeutsche in das Land ihrer Vorfahren, viele von ihnen – zu viele – buchstäblich „sprachlos“. Auch die russlanddeutschen Autoren hatten ihre schwierige Orientierungsphase auf dem Weg der neuen Identitätsfindung. Sich der eigenen Identität bewusst werden, das war der erste Schritt, der nächste war der Versuch, auch der bundesdeutschen Öffentlichkeit die russlanddeutsche Geschichte und Kultur zugänglich zu machen.
1995 gründete sich unter dem Dach der LmDR und des Kulturrats der Deutschen aus Russland der Autorenkreis der Deutschen aus Russland, der sich der Öffentlichkeit mit den Russlanddeutschen Literaturblättern „Wir selbst“ vorstellte. Drei Almanache unter diesem Titel sind erschienen, 1996, 1997 und 1998. „WIR SELBST als Titel klingt selbstbewusst – und ist auch so gemeint… Die Prägung WIR SELBST ist dem Romantitel eines ungemein sympathischen Mannes nachempfunden, eines Autors, über dessen plakative Parteinahme ein Wohlbehüteter aus Itzehohe und etwelche Begnadeten der späten Geburt heute schöngeistig die Nase rümpfen mögen – dass Gerhard Sawatzky uns Russlanddeutsche so apostrophierte , und war im Schreckensjahr 1937 – schon das allein war eine Tat! Die ihm sehr, sehr bald zum Verhängnis wurde…“, ist im Einleitungswort von Johann Warkentin zum Sammelband 1996 zu lesen.
„Wir selbst“ erstmals in Buchform – mit Dokumentarischem Anhang über die Wolgadeutsche Republik und ihre Literatur
Seit 2013 hat er sich mehrfach mit Hugo Wormsbecher über die möglichen Gründe für Sawatzkys Verhaftung Ende 1938 ausgetauscht. „Bislang sind weder in den Moskauer Archiven und auch nicht in Engels Dokumente zum Prozess aufgetaucht. Es ist daher auch nicht ausreichend bekannt, warum Gerhard Sawatzky verhaftet wurde. Auszugehen ist aber davon, dass der Grund für seine Verurteilung und den Abtransport in den Gulag nach Solikamsk, einer Stadt in der Region Perm in Sibirien, sein Roman ‚Wir selbst‘ und seine Tätigkeit als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes waren“, schreibt Gansel in seinem dokumentarischen Anhang zum Roman. Seit dem ersten Treffen mit Hugo Wormsbecher im November 2013 habe es „eine intensive Beschäftigung mit der russlanddeutschen Literatur gegeben, und dabei waren wir schon bald auf die tragische Geschichte um Gerhard Sawatzky und die Vernichtung seines Romans gestoßen“, so Gansel.
Der Roman wird begleitet von einem umfassenden Nachwort, in dem Carsten Gansel nicht nur von den dramatischen Ereignissen rund um Sawatzky, das verloren geglaubte Manuskript, das Verbot und die Folgen berichtet, sondern auch von der Wolgadeutschen Republik und ihrer Literatur und somit eine intensive Beschäftigung mit diesem bedeutenden Stück russlanddeutscher Kulturgeschichte ermöglicht. Dabei bettet er seine Analyse der Zeit, in der Sawatzky lebte, und die seines Romans in sehr unterschiedliche Kontexte ein, wobei Vergleiche und Parallelen zu biografischen Prägungen, Erfahrungen, Widersprüchen und Erinnerungsvorgängen deutscher Autoren gezogen werden.
Rezeption der „sowjetdeutschen“/„russlanddeutschen Autoren/Literatur in der DDR und der BRD: Carsten Gansel, der in der DDR aufgewachsen ist und studiert hat, erinnert sich, dass die „sowjetdeutschen“ Autoren der Nachkriegszeit und ihre Literatur in seiner Heimat vollkommen unbekannt waren. Zur gleichen Zeit wurden jedoch Werke ihrer russischen Kollegen wie Aitmatow, Tendrjakow, Schukschin, Wampilow, Trifonow oder Schatrow viel diskutiert, übersetzt oder auf Theaterbühnen der DDR erfolgreich inszeniert, weil sie „weiße Flecken“ der russischen bzw. sowjetischen Geschichte berührten und hinterfragten.
Auch in den wichtigsten Literaturzeitschriften gab es bis zum Ende der DDR so gut wie keine Beiträge über die Literatur der „Sowjetdeutschen“. In der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Kunst und Literatur“ wurde zwischen 1946 und 1989 ein einziger Aufsatz publiziert. Verfasser war Hugo Wormsbecher mit einem zehnseitigen Beitrag zur „Situation der Sowjetdeutschen in Geschichte und Gegenwart“ (37. Jahrgang, Juli/August 1989).
In der 1949 gegründeten Zeitschrift für Literatur und Kultur, „Sinn und Form“, herausgegeben von der Akademie der Künste der DDR, wurden in der Zeit ihres Bestehens lediglich zwei Beiträge zur „sowjetdeutschen“ Literatur veröffentlicht. Einmal im Heft 3 von 1982 der Aufsatz „Leser und Autor in der sowjetdeutschen Literaturlandschaft“ von Johann Warkentin und vier Jahre später im Heft 3 von 1986 ein Ausschnitt aus Viktor Schnittkes „Eine Kindheit in Engels“. Die „Neue deutsche Literatur“, die es seit 1953 gab, veröffentlichte bis 1989 keinen einzigen Beitrag zur „sowjetdeutschen“ Literatur.
Die Ausnahme blieb die Anthologie „10 sowjetdeutsche Erzähler“. 1980 in der DDR (Verlag Volk und Welt, Berlin) erschienen, werden Alex Debolski, Viktor Heinz, Dominik Hollmann, Rudolf Jacquemien, Heinrich Kämpf, Victor Klein, Ernst Kontschak, Alexander Reimgen, Gerhard Sawatzky und Hugo Wormsbecher mit ihren Werken vorgestellt.
In der Bundesrepublik war die Situation etwas anders; hier beschäftigte sich ein kleiner Kreis von Wissenschaftlern mit dieser Problematik, allen voran der bundesdeutsche Literaturwissenschaftler Dr. Alexander Ritter, der bereits in den 1970er Jahren den Sammelband „Nachrichten aus Kasachstan. Deutsche Dichtung in der Sowjetunion“ (Verlag Olms Presse, Hildesheim/New York 1974) herausbrachte. 1973 schrieb er: „Die Literatur der deutschsprechenden Minderheit in der Sowjetunion ist bei uns weitgehend unbekannt.“
1987 veröffentlichten Annelore Engel-Braunschmidt und Clemens Heithus die „Bibliographie der sowjetdeutschen Literatur 1960-1985. Ein Verzeichnis der in Buchform erschienenen sowjetdeutschen Publikationen“ (Böhlau Verlag, Köln/Wien 1987), die einen aufschlussreichen Einblick in die deutschsprachige Verlagstätigkeit in der Sowjetunion gewährt.
1990 kam im gleichen Verlag die „Bibliographie der sowjetdeutschen Literatur von den Anfängen bis 1941. Ein Verzeichnis der in Buchform erschienenen sowjetdeutschen Publikationen“ (von Meir Buchsweiler, Annelore Engel-Braunschmidt und Clemens Heithus) heraus.
1990 gab Alexander Richter in der Reihe „Auslandsdeutsche Literatur der Gegenwart“ (Band 22) die „Sammlung sowjetdeutscher Dichtung (1931)“ (Verlag Olms Presse, Hildesheim/Zürich/New York) heraus, einen Nachdruck der Sammlung von 1931, eingeleitet von David Schellenberg und mit einem Vorwort von Engel-Braunschmidt. Das ursprüngliche Werk von David Schellenberg war im Staatsverlag „Literatur und Kunst“ (Charkiw/Kiew) erschienen.
1993 wurde vom Verein für das Deutschtum im Ausland der Sammelband „Barfuß liefen meine Kinderträume. Deutsche Stimmen aus Kasachstan“ (Westkreuz-Verlag, Berlin/Bonn 1993) veröffentlicht. Gerade zu einer Zeit, als die massenhafte Auswanderung der Russlanddeutschen in den Westen schon in vollem Gange war und als man sich die Frage stellte, „Ist eine Wiedergeburt der russlanddeutschen Literatur möglich?“, womit Annelore Engel-Braunschmidt in ihrem Vorwort den Schriftsteller Alexej Debolski zitierte.
Annelore Engel-Braunschmidt (Hrsg.) ergänzte mit „Siedlernot und Dorfidyll. Kanonische Texte der Russlanddeutschen“ (Westkreuz-Verlag, Berlin/Bonn 1994) das Wissen über die Texte der Russlanddeutschen, die noch vor 1917 entstanden waren und eine identitätsstiftende Bedeutung für die ganze Volksgruppe hatten.
Natürlich können auch die Heimatbücher der LmDR erwähnt werden, die das wertvolle kulturelle Erbe der Volksgruppe dokumentieren. Mehr als 30 Heimatbücher sind bisher erschienen – eine Reihe, die sich sehen lassen kann und eine Fundgrube für Wissenschaftler ist.
Auch weitere Publikationen russlanddeutscher Autoren sind unter dem Dach der LmDR seit den 1990er Jahren erschienen, darunter „Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“ (1999) von Johann Warkentin, die Literaturalmanache „Wir selbst. Russlanddeutsche Literaturblätter“ (1996, 1997, 1998) und andere Werke, unter anderem von Wendelin Mangold, Viktor Heinz und Nelly Däs.
„Ein „Zeitroman mit doppeltem Boden“ und „ein besonderes Zeitdokument“: Dem etwa 200 Seiten starken Nachwort zu „Wir selbst“ liegen nicht zuletzt Erkenntnisse zugrunde, die Carsten Gansel im Archiv in Engels 2015 und durch die Verwendung zahlreicher Quellen gewonnen hat. Es enthält umfassende Einblicke in die russlanddeutsche Geschichte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die Hungersnot und weitere Ereignisse in der Geschichte der Wolgadeutschen werden immer wieder mit Zitaten aus dem Roman untermauert.
Gansel geht ausführlich auf die Entstehung des „Romanepos über die wolgadeutsche Republik“ und die Art zu schreiben des Autors ein. Zwar scheint die Handlung des Romans auf den ersten Blick bekannten Prinzipien zu folgen. „Aber bei genauer Betrachtung zeigt sich, in wie hohem Maße es Sawatzky gelingt, vor allem über die Dialoge Einblicke in eine Welt zu geben, die schon wenige Jahre später nicht mehr existiert. Es gibt keinen weiteren Text, der in dieser Weise das Bild eines Aufbruchs schildert, aber sehr wohl auch offenbart, mit welcher Radikalität hier Altes zerstört wird“, schreibt Carsten Gansel im Nachwort.
Es sei ein „Zeitroman mit doppeltem Boden“ und „ein besonderes Zeitdokument“. „Allein die umfangreiche Erzählzeit des Textes stellt so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal dar. Es gibt keinen weiten Roman, der über fast 1.000 Seiten eine Geschichte der Umgestaltung entfaltet. Im Kontext der russlanddeutschen Literatur ist er bis in die Gegenwart von daher einzigartig. Sawatzky stellt eine wichtige historische Epoche im Leben unterschiedlicher Schichten der wolgadeutschen Bevölkerung bis ins kleinste Detail dar. Insofern kann man von einem ‚großen Gesellschaftsroman‘ sprechen, der über ein traditionelles realistisches Erzählen ein ‚pralles Lebensgemälde des wolgadeutschen Lebens in Dorf und Stadt‘ (Hartmut Fröschle) entwirft“, ist bei Gansel zu lesen.
„Gerhard Sawatzky kann bei seinem umfassenden Gesellschaftsportrait der Wolgarepublik das nutzen, was man ‚Primärerfahrung‘ nennt. Und darin liegt wohl ebenfalls ein maßgeblicher Grund für die Einmaligkeit des Textes“, betont er. Auch wenn viele der Katastrophen, die die Wolgadeutschen ereilten, im Roman nur angedeutet bzw. abgemildert dargestellt werden, kann niemandem entgehen, dass das Leben in der Republik kein paradiesisches war.
„Da Sawatzky die Vergangenheit im Lichte der sowjetischen Gegenwart wahrnimmt, entstehen hier und da ‚Tricks der Erinnerung‘ (Uwe Johnson), ja die Vergangenheit wird in einem versöhnlicheren Licht gezeichnet. Und dennoch wird man nicht sagen können, dass Sawatzkys Roman einlinig politischen Vorgaben folgt. Sawatzky verstand sich als Realist in einem traditionellen Sinne, ‚als Schilderer des Lebens der Russlanddeutschen und vor allem als Chronist der Veränderungen dieses Lebens in der neuen Zeit (Ingmar Brantsch)“, bemerkt Gansel.
Die Urfassung des Romans kommt nach Deutschland: Bei einem weiteren Treffen 2015 berichtete ihm Hugo Wormsbecher, dass er die Urfassung des Romans gerettet hätte und diese nicht mit der Auflösung der Zeitung „Neues Leben“ vernichtet worden sei: Als Wormsbecher „Herausgeber des Almanachs wurde, wandte er sich an den Literaturkritiker und Essayisten Woldemar Ekkert. Gemeinsam gelang es ihnen, herauszufinden, dass Sofie Sawatzkaya (Sophie Sawatzky), die Witwe des Schriftstellers, noch lebte. Auch sie war deportiert worden, und sie wohnte nun in Krasnojarsk. Hugo Wormsbecher kam mit ihr in Kontakt, und schließlich offenbarte sie ihm, dass sie die Urfassung des Romans ‚Wir selbst‘ gerettet und über Jahrzehnte an einem sicheren Ort aufbewahrt hatte. Nach der Verhaftung ihres Mannes gab es keine sofortige Durchsuchung, und so konnte sie das Manuskript an sich nehmen und verstecken. Es handelte sich um das maschinengeschriebene Exemplar, also die unredigierte Urfassung. Nicht sofort, sondern erst nach längerem Bedenken, stimmte Sofie Sawatzkaya einer Veröffentlichung zu und entschloss sich, das Manuskript der Redaktion des Almanachs ‚Heimatliche Weiten‘ zur Verfügung zu stellen. Das war 1982“, schreibt Carsten Gansel im Nachwort.
Hugo Wormsbecher berichtete auch, wie das Manuskript schließlich nach Moskau gekommen war. Das Vertrauen der Witwe in die Postwege in der Sowjetunion war so groß, dass sie es in einem einfachen Paket, in einer Sperrholzschachtel, in die Hauptstadt schickte. Bevor an einen Abdruck im Almanach zu denken war, ließ Wormsbecher das Manuskript jeweils nach Kapiteln auf einer Schreibmaschine abschreiben und deponierte die Fassungen an unterschiedlichen Orten. Von der Abschrift wurden Durchschläge gemacht. Das Urmanuskript, das er von Sophie Sawatzky erhalten hatte, nahm Hugo Wormsbecher zur Sicherheit mit nach Hause. So konnte es auch erhalten bleiben.
Gansel äußerte die Vorstellung, dass „es wichtig sei, den Roman in Deutschland zu publizieren“. Ein Blick in den Abdruck in den „Heimatlichen Weiten“ führte ihn zu der Überzeugung, dass die Veröffentlichung in Deutschland nur nach der geretteten Urfassung von 1938 in Frage kam. „Wie schon unter ganz anderen Umständen die Witwe von Gerhard Sawatzky Anfang der 1980er Jahre, so war auch Hugo Wormsbecher 2015 sehr nachdenklich und wohl auch etwas skeptisch. Immerhin ging es neben der kulturgeschichtlichen Bedeutung des Manuskripts um nahezu 1.000 Seiten. Letztlich war Hugo Wormsbecher zu überzeugen. Wir entschieden uns, eine Kopie zu erstellen, die 2016 endlich Deutschland erreichte. Nun allerdings begann ein komplizierter Editionsprozess. Der Vergleich der Urfassung des Romans mit dem Abdruck in den Heimatlichen Weiten erbrachte – wie vermutet – zahlreiche Unterschiede. Hinzu kam der Umstand, dass der Autor bereits während des Schreibprozesses und bei Erstellung der Urfassung Streichungen vorgenommen hatte“, ist im Nachwort nachzulesen.
Mit „Schere im Kopf“ und der „Todesangst im Nacken“: Während des Schreibens strich Sawatzky immer wieder Passagen, deren Veröffentlichung zu gefährlich gewesen wäre. Diese Passagen betrafen größtenteils politisch Brisantes und Schilderungen besonderen Elends in der Wolgaregion. „In einigen Fällen kann man erkennen, dass Sawatzky im Zweifel gewesen sein muss, er hat korrigiert, die Korrektur wieder aufgehoben und dann erneut korrigiert. Es betrifft wiederholt Stellen, die das politische Kolorit der Darstellung betreffen. Die Vermutung ist nicht abwegig, dass bei den Korrekturen, die Politisches betrafen, dem Autor in der Tat die Todesangst ‚im Nacken saß‘ und er mit ‚jeder Zeile‘ versuchte, gegen eben ‚dieses Grauen anzuschreiben‘“, zitiert Carsten Gansel den russlanddeutschen Literaturkritiker Johann Warkentin.
Betrachtet man die Urfassung, zeigt sich die Selbstzensur vor allem dort, wo „Gerhard Sawatzky auf die katastrophalen Lebensbedingungen in der Wolgarepublik zu sprechen kommt bzw. seine Figuren damit konfrontiert sind“, betont Gansel. So erinnert sich Friedrich Kempel an Berichte seiner Kameraden während des Bürgerkrieges: „Nichts zu essen? – Die Reisegefährten auf dem Schiff hatten ihm schreckliche Geschichten erzählt. Viele sind totgehungert. Einige sind wahnsinnig geworden, haben ihre Kinder geschlachtet. Die Menschen essen verschiedene Wurzeln, Gras, Baumrinde.“
Oder an einer anderen Stelle: „Mit Sonnenaufgang langte Kempel auf dem Marktplatz in der Stadt an. Es gab hier viel suchende Menschen, aber wenig Lebensmittel, die feilgeboten wurden, und er fand keine Gelegenheit, seine Stiefel vorteilhaft zu vertauschen. Überall stieß er auf verlumpte Jammergestalten, die um Almosen baten.“
Bei der Aussage „In den letzten knappen Jahren des großen Mangels taten sie mit wichtiger Miene Sacharintabletten in ihren Möhren- oder Beerentee“ wird die resümierende Kennzeichnung „des großen Mangels“ weggelassen. Der Schere im Kopf des Autors fallen auch Hinweise zum Opfer, die die Religiosität von Teilen der Wolgadeutschen genauer kennzeichnen. So verschwinden die „Auserwählten der Stadt mit ihren weiß-blau-roten Fahnen und eingesegneten Kaiserbildern“ aus dem Text.
Beim genaueren Hinschauen wird auch erkennbar, dass von der Streichung Momente betroffen sind, die „die Verwurzelung der Figuren in deutsche Traditionen deutlicher markieren“ oder die Verbundenheit mit deutschen Traditionen hergestellt wird: Aus der „deutschen Zeitung“ etwa wurde bloß „Zeitung“. Diese – schon im Manuskript gestrichenen – Passagen sind in der von Carsten Gansel vorgelegten Fassung enthalten. Was Sawatzky aus Angst vor Verfolgung zurücknehmen wollte, ist nun also als ungeschöntes Zeitzeugnis wieder ein Teil des Textes.
Der Titel des Werkes „Wir selbst“ lässt sich als Antwort auf die im Roman gestellte Frage „Wer soll das alles machen?“ verstehen und ist „zugleich das inoffizielle Credo all jener Figuren, deren Weg durch Krieg, Hungersnot und Inflation, Klassenkampf und große Ungewissheit bis hin zu Kollektivierung und angedeutetem Fortschritt einfühlsam geschildert wird. Dadurch entsteht ein eindrucksvolles Bild des wolgadeutschen Lebens unter Stalin. Elend, Angst und Heimatverlust, aber auch der Wunsch nach einem Leben voller Hoffnung und der Wille, eigene Wege zu finden, sind Konstanten, die sich durch Sawatzkys Roman ziehen“, schlussfolgert Carsten Gansel. „Wir selbst“ sei somit nicht nur ein spannender Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte, sondern auch ein wichtiges Zeugnis eines weitgehend unbekannten Kapitels auslandsdeutscher Kultur, hebt er hervor.
Gerhard Sawatzky, „Wir selbst“
Herausgegeben von Carsten Gansel, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material zur ASSR der Wolgadeutschen. Erschienen am 5. März 2020.
Roman, Verlag Galiani Berlin 2020, ISBN 978-3-86971-204-8, Preis 36,- Euro, 1088 Seiten.
Auch als E-Book verfügbar.
Bestellungen über den Verlag, die Buchhandlungen oder online.
Zum Herausgeber:
- Carsten Gansel, (geb. 1955), Literaturwissenschaftler aus Neubrandenburg, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik am Germanistischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen (FB 05 Sprache, Literatur, Kultur). Er ist unter anderem Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland und Vorsitzender der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises. Gansel ist Autor zahlreicher Bücher zur Literatur des 18.-21.Jahrhunderts, unter anderem über Hans Fallada, Christa Wolf und Johannes R. Becher. 2017 erhielt Gansel das Bundesverdienstkreuz für die Gründung der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft, deren Vorsitzender er ist, und die vielfältige Jugendarbeit.
Nach dem Wissenschaftlichen Kolloquium „Literatur und Gedächtnis – Zur Inszenierung von Erinnerung in der Literatur der Russlanddeutschen vor und nach 1989“ 2014 in Gießen unter seiner Leitung ist 2018 im Okapi Verlag Berlin 2018 die Edition „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“ (Hg. Carsten Gansel) mit Beiträgen des Kolloquiums erschienen. Er ist der Herausgeber des Romans „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky (Galiani Verlag, Berlin 2020), den er mit einem ca. 200-seitigen „Dokumentarischen Anhang über die Wolgadeutsche Republik und ihre Literatur“ ergänzt. Der Roman ist erstmals in Buchform, unzensiert und nach dem Urmanuskript, erschienen.