Meine, deine, unsere

Zugegeben, der Kalauer über Patchwork-Familien „Liebling, komm schnell, meine Kinder und deine Kinder verhauen unsere Kinder!“ ist vielleicht weder originell noch politisch korrekt. Doch er verdeutlicht meiner Meinung nach besonders anschaulich, dass Possessivpronomen in Verbindung mit Verwandtschaftsbezeichnungen keineswegs überflüssig sind.

Im Deutschen gilt das nicht nur für Verwandte, deren man mehrere haben kann, wie Kinder, sondern auch für die exklusiven Vertreter der Spezies: Vater und Mutter. Diese Bezeichnungen werden, wenn man von den eigenen Eltern spricht, ebenfalls mit „mein“ oder „unser“ verwendet, auch wenn sich die Zugehörigkeit aus dem Kontext eindeutig ergibt. Natürlich findet man in der Literatur auch in diesem Zusammenhang den Gebrauch des bestimmten Artikels, etwa wenn Rotkäppchen sagt: „Ich besuche die Großmutter!“ Diese Form ist heute jedoch nicht mehr sehr verbreitet; Rotkäppchen würde inzwischen wohl sagen: „Ich gehe zu meiner Oma.“

Heute deutet der Gebrauch des bestimmten Artikels auf ein eher distanziertes Verhältnis und darauf hin, dass nicht ein Verwandter des Sprechenden gemeint ist, sondern der Erzähler über eine familiäre Situation berichtet, wie – um wieder ein Märchen zu zitieren – in „Hänsel und Gretel“: „Als sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater …“

Andererseits kann die Verwandtschaftsbezeichnung durch den Artikel auch allgemeine Gültigkeit erlangen, wie etwa in Maxim Gorkis Roman „Die Mutter“ (im Gegensatz zu Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“, bei der durch den Zusatz „Courage“ der Artikel überflüssig wird).

Hier findet sich auch ein deutlicher Widerspruch zu russischen Texten, in denen man häufig Formulierungen findet wie „мать сказала…“, „отец ушел на работу“ etc. Die Versuchung ist wohl immer wieder groß, bei der Übersetzung ins Deutsche in diesen Fällen zu einem bestimmten Artikel zu greifen, doch für einen deutschen Muttersprachler würde das zumindest ungewohnt klingen, weil er neutral sagen würde: „Meine Mutter hat gesagt …“ bzw. „Mein Vater ist zur Arbeit gegangen.“

Bei weitläufigeren Verwandten kommt ab und zu der unbestimmte Artikel ins Spiel. So kann man außer „mein Cousin“ umgangssprachlich beispielsweise sagen: „ein Cousin von mir“. Das impliziert dann auf jeden Fall, dass man mehrere Cousins hat. Häufig wird zur genaueren Spezifizierung auch noch ein Adjektiv hinzugefügt: „ein entfernter Cousin von mir“. Das ist im Vergleich zum Russischen wohl der Tatsache geschuldet, dass man im Deutschen nicht nach „двоюродной“, „троюродной“ usw. unterscheidet, weil diese Art zu zählen hier höchstens bei Erbstreitigkeiten Anwendung findet. Otto Normalbürger ist mit solchen Berechnungen des Verwandtschaftsgrades schlicht überfordert.

Deshalb sollte man bei der Übersetzung aus dem Russischen auch genau aufpassen, wenn von „брат“ oder „сестра“ die Rede ist, denn nur der jeweils unmittelbare leibliche Verwandte („родной/родная“) ist im Deutschen auch wirklich „mein Bruder“ oder „meine Schwester“. Alle anderen sind Cousins, Cousinen oder gar Großcousins und Großcousinen.

Carola Jürchott

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