Die weinenden Steine der Zeit

Gedanken zum Schaffen von Wendelin Mangold

(c) privat

Das Gefühl, die Zeit läuft einem weg, kennt jeder. Wie oft rennt man ihr vergebens hinterher, weil man den richtigen Moment, mit ihr Schritt zu halten, redlich verpasst hat. Sie zu stoppen, wäre absoluter Unsinn, der offensichtlich zu einem Weltchaos führen würde. Aber man kann es versuchen, ihr etwas voraus zu sein, sie zu prognostizieren, sich durch ihre Bestimmtheit inspirieren zu lassen.
Wendelin Mangold, der sich als namhafter Dichter, Schriftsteller und Übersetzer in unserer russlanddeutschen gegenwärtigen Literatur bewiesen hat, lernte es, mit der Zeit, in die er hineingeboren ist, eine unvergängliche und beschwörende Verbindung herzustellen. Er ist mit ihr per du – foppt und neckt sie manchmal, nimmt aber auch mit dankendem Handkuss ihre reizenden Augenblicke, mit denen sie ihn liebevoll beschenkt, in sich auf. Dann schweben ihm Bilder vor, die ihm die Welt ganz spontan von einer aufreizenden Seite erscheinen lassen und seiner empfindlichen Dichterader neue Formen und Farben verleihen:

Von unten nach oben geschaut,
pinseln die Baumwipfel
den Himmel blau.

In seiner Spontanität verhüllt der Dichter alltägliche Erscheinungen in ein lyrisches Tuch aus Irrealität, die seiner Fantasie freies Wortspiel lassen. Locker und ungezwungen bewegt sich Wendelin Mangold im unendlichen Labyrinth der Wörter, die er behutsam mit seinen Gefühlen mischt und aufs Papier überträgt. In seiner Zielstrebigkeit, der Zeit gerecht zu bleiben, versucht er sich in allen literarischen Genres und schreibt zu allen möglichen Themen. Seine Gedichte, von lyrischen bis explosiven, sind übersät mit sprunghaften Epithetons und ähneln häufig einer Einladung zur Diskussion „über das, was vor uns war und über das, was noch bevorsteht“:

Platte Steine, geschickt geworfen,
hüpfen und gleiten über das Wasser,
so wie die Menschen barfuß
über heiße Kohlen laufen.

Man denkt sich buchstäblich in den vorgegebenen Kontext hinein, nimmt den platten Stein in die Hand und fühlt die heißen Kohlen unter den Füßen. Und begreift, dass es dem Autor hier nicht um die weltbekannten banalen Dinge geht, sondern um viel mehr – womöglich um Herzen, die einem Mitmenschen Freude und Liebe schenken, oder um Hände, die einen festhalten, wenn er leidet…

Darüber könnte man polemisieren. Oder in Stille nachdenken. Als weltoffene und lebhafte Person reagiert der Dichter temperamentvoll und kräftig auf politische Kollisionen und menschliches Versagen, dort wo andere schweigen, äußert er sich eigensinnig und entschieden:

Wir haben gewählt,
nun streiten die Parteien,
als gehe es um das Teilen
des gemeinsamen Kuchens,
von dem jeder ein größeres
Stück bekommen möchte.

Eine herausfordernde, provozierende Reaktion auf die Große Koalition, die vom ersten Tag an unter Erstickungsgefahr leidet. Letzten Endes sehen wir alle unsere GROKO mit einem ironischen Auge und täuschen uns nicht in Vermutungen, dass sie nichts Großes zustandebringen wird, aber ein Gedicht zu diesem humorlosen Ereignis zu schreiben – ist durchaus nicht selbstverständlich…

Die Kunst, tiefsinnige und nachdenkliche Haikus zu schreiben, hat sich Wendelin Mangold inzwischen auch angeeignet, bleibt aber Nachahmungen fern und entfaltet sich in weisen Überlegungen über den Sinn des Lebens:

Tief in der Erde
versteckt bis zum nächsten Lenz,
dem sie sich zeigen.

Als Dichter kann sich Wendelin Mangold von den Problemen seiner russlanddeutschen Identität nicht wegdenken, sie quälen ihn, zerren an den Saiten seiner Seele:

Wir sind angekommen.
Niemand hat auf uns gewartet.
Niemand an der Hand genommen,
auf den Weg begleitet: Jetzt startet!

In diesen Zeilen überschlagen sich Emotionen, die mit unerfüllten Hoffnungen, unsäglichem Frust und leeren Erwartungen im sensiblen Herzen des Dichters rauschen und brausen…

Das Thema „Integration“ steht im Schaffen von Wendelin Mangold auf einem fast „privilegierten“ Platz, es liegt ihm sehr nah, denn er sieht sich selbst mittendrin in dieser „integrierenden“ Gesellschaft und hat so einiges selbst mitmachen müssen:

Geboren unter
Hammer und Sichel
Wurde mir mein Deutschtum
übelgenommen
Und man hat mich weit
hinter den Ural gesperrt…

Dieses Land „mit Hammer und Sichel“ fließt in seinem Blut, rüttelt an seinem Gemüt und überschüttet ihn mit Erinnerungen. Geboren bei Odessa am Schwarzen Meer, besuchte er die Schule im Ural, studierte in Sibirien, arbeitete als Dozent an einer Hochschule in Kasachstan, erwarb dort seinen Doktortitel und… Ja… dann, als er 1990 nach Deutschland kam, stellte es sich heraus, dass dies alles nicht von Bedeutung war, und so kostete er, wie viele andere Aussiedler auch, den bitteren Geschmack des deutschen Ausdrucks „nicht anerkannt“ bis zur Neige aus.
Es schien ihm manchmal, dass man im heißbegehrten Ahnenland sein komplettes Leben nicht anerkannt hat und als ob es dieses gar nicht gegeben hätte.

2018 erschien im Edita Gelsen e. V. Verlag sein Buch „Wenn Steine weinen könnten“, darin sind auch Zeilen über diese ernüchternde Begebenheit seines Deutschlandlebens zu lesen:

„Mir war, man hätte meine Seele aus mir entfernt und am Boden im Staub zertrampelt. Wie kann und soll man so was je vergessen?“

In seiner innerlichen Zerrissenheit regist­riert er die unglücklichen Vorkommnisse dieser Integration, die ihm wie die Kehrseite einer Medaille auftritt:

Unser Einfluss ist nicht zu übersehen:
Putzfrauen mit Hochschulbildung,
Ingenieure als Hilfskraft,
Künstler als Hausmeister,
Lehrer als Altersheimgehilfe…

So musste sich auch Wendelin Mangold in diesem Land seiner Ahnen „neu erfinden“ – 17 Jahre lang arbeitete er bei der Seelsorge für Spätaussiedler als Sozialarbeiter und stand all die Zeit unter doppelter Belastung, denn stets mit Problemen seiner Landsleute konfrontiert zu sein, kostete ihn eine Menge Herzblut und Weisheit.
Als Dichter erkannte er die Möglichkeit, sich hinter dem wohltuenden Klang der Wörter zu verschanzen und himmelhohe Festungen aus seinen Gedanken zu errichten. Hier suchte er nach innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. Hier formte er aus purer Verzweiflung Gedichte und Haikus, die zwiespältig und schmerzend ausfielen, denn die nachdenklichen Untersuchungen der Integrationsproblematik riefen in ihm Angst und Befürchtungen hervor:

Die Russlanddeutschen
Sind arme Socken, werden
Nirgends andocken.

Als es ihm endlich bewusst wurde, dass man laut werden muss, damit die anderen dich kennen lernen und dir etwas Aufmerksamkeit schenken, schrieb er seine preisgekrönte Theatertrilogie – eine Tragödie, eine Komödie und eine Tragikomödie, die unter dem Titel „Die Sprachtoten“ 2015 im Geest-Verlag herausgegeben wurde und das verschwiegene Schicksal der Russlanddeutschen ein wenig lüftete.

„… Mangold gelingt es in seinen Theaterstücken, … die zentralen Fragestellungen der russlanddeutschen Geschichte zu vereinfachen und verständlich zu machen… Er bietet durch seine Theaterstücke, die Problemstellungen ihrer Entwicklung zu verstehen… Insgesamt großes Theater, nicht nur für seine Landsleute“,

meint der Verleger Alfred Büngen im Vorwort zur Trilogie. 2013 erhielt der Autor für diese „Aufklärungsarbeit“ den Preis `Flucht, Vertreibung, Eingliederung` der Hessischen Landesregierung mit der Empfehlung, das Stück „Vom Schicksal gezeichnet und geadelt“ als Unterrichtsmaterial an den Schulen zu verwenden…

Wendelin Mangold schreibt unermüdlich und dynamisch, sprüht vor Ideen und lässt sich vom Leben und seiner Zeit initiieren. Wenn er nicht gerade an eigenen Werken nächtelang arbeitet, befasst er sich mit Analysen und Forschungen der Werke angehender russlanddeutscher Autoren, die ihn faszinieren und beeindrucken, schreibt Abhandlungen zur Geschichte seines Volkes, bereitet Referate zu aktuellen Fragen unserer Literatur und ihrem Stand auf deutschem Boden vor, arbeitet an Nachdichtungen, übersetzt gegenwärtige Werke seiner Lieblingsautoren. Und es sind mehrere darunter, deren Schöpfungen ihn begeistern und des Öfteren zum Staunen bringen.

Besonders angetan ist der Dichter vom Schaffen der aus Karaganda stammenden hochbegabten Moskauer Literatin Elena Seifert – es sind ihre lyrischen sowie antiken Poeme und Gedichte, die ihn beunruhigen, berauschen und entzücken.
Elena, die leistungsstarke, talentierte Lyrikerin und Prosaikerin, entwickelt sprechende Bilder, die einen fesseln und mitreißen. Ihre Visionen entstehen in einem so farbigen und erregenden Russisch, dass man glaubt, man würde es nie hinbekommen, sie in eine andere Sprache zu übersetzen. Es wird sich nicht jeder Übersetzer an ihr Werk heranwagen, doch Wendelin Mangold tat es. Zuerst tauchte er schüchtern und behutsam in die Melodien ihrer Sprache ein, dann freundete er sich mit ihren Tönen an. Nach erschöpfenden, aber Freude bringender Arbeit an den Übersetzungen von Seiferts Werken kann er heute stolze Zahlen schreiben – nicht nur ihre bezaubernden lyrischen Werke, sondern auch außergewöhnliche Prosastücke von ihr sind in letzter Zeit in deutscher Sprache mit ihm als Übersetzer erschienen.

Wahrlich, „ein Brückenbauer“ zwischen zwei Sprachen und einer Identität! Nicht Freude allein bringen ihm Übersetzungen, sondern auch rührende und gefühlsbetonte Momente. Als er „Das Schmelzschiffchen“, eine Erzählung über die Familiengeschichte Elenas übersetzte, konnte er sich gut in das Sujet hineinfühlen, da manche Passagen der Erzählung teilweise sehr mit der Lebensstory seines eigenen Stammes identisch sind…
Beim Übersetzen nehmen ihn beide Sprachen, Russisch wie Deutsch, gefangen, er akzeptiert ihre Eigenarten und Selbstständigkeit, „die bewusst oder intuitiv, die Lyriker beim Sprachausdruck praktizieren, sind sie nicht taub geboren und haben sie gewaschen die Ohren“.

Ich durfte den Übersetzungsprozess vom „Schmelzschiffchen“ teilweise beobachten und bin tief überzeugt: Wendelin Mangold ist nicht taub, er hält seine Ohren für Sprachen offen und folgt beim Übersetzen haargenau dem Inhalt, damit es später nicht zu Kuriositäten kommt: Als das Gedicht in den Spiegel/seiner Übersetzung blickte, / erkannte es sich nicht…

Ich war auch keinesfalls überrascht, als ich in seinem Buch „Vom Blitz getroffen“ (2019, Edita Gelsen e. V.) plötzlich auf den Grund seiner Wahl von Werken, die er übersetzt, stieß: „Das Übersetzen von Gedichten gleicht in vielem den Geschlechtsbeziehungen. Der Übersetzer verliebt sich in das Original und bemüht sich, hineinzudringen. Dabei hängt vieles davon ab, ob es willig ist oder sich sträubt…“ Wusste ich‘s doch! Aus reiner Verliebtheit schafft man tolle Übersetzungen, zu denen man auch die von Wendeln Mangold mit ehrenvoller Anerkennung rechnen kann.

Wir leben in einer Zeit, die man als Sprungbrett unzähliger Chancen und Möglichkeiten bezeichnen kann, doch trotz dieser mannigfaltigen Eventualität fällt es einem nicht leicht, seinen eigenen Weg zu bahnen. Und Autoren sind in dieser Hinsicht besonders betroffen, denn ihr Schaffen ist ausschließlich auf ihr Empfinden, ihre Vorstellungen und, ja, auch auf ihre Einsamkeit konzentriert. Als Schreibende sind sie des Öfteren tiefen Zweifeln ausgesetzt: Wie kommt das, woran ich so lange gearbeitet habe, an? Wer wird das lesen? Hab ich auch die richtigen Ausdrucksmittel gewählt? Bin ich nicht zu „elitär“ oder vielleicht zu „puritanisch“?

Ist man theoriebelastet,
läuft man Gefahr,
elitär zu werden.
Ist man narrativ eingestellt,
läuft man Gefahr,
entleert zu werden.

Doch Wendelin Mangolds Besorgnis um die Sprache seiner Werke ist durchaus fehl am Platz. Das Elitäre sowie das Puritanische sind in seinem Schaffen so kunstvoll ineinander verwachsen, dass man überhaupt nicht merkt, wo gerade das eine und wo das andere ist. Man liest einfach weiter und lässt sich vom Strom seiner Gedanken treiben. Immer weiter und weiter. Bis die Zeit plötzlich stehen bleibt und dich mit einem ihrer wunderbaren Augenblicke überrascht.

Rose Steinmark
Münster