„Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört, und dies stark zu machen, das scheint mir wichtig. Unabhängig davon halte ich es für eine grundsätzliche Aufgabe von Literaturwissenschaft, das Gedächtnis zu bewahren und sich auch nicht von Gegenstimmen, die es hier wie da gibt, abhalten zu lassen“, sagt der Literaturwissenschaftler und Herausgeber, Prof. Dr. Carsten Gansel, über den Roman „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky (1901-1944), der Anfang März 2020 im Verlag Galiani Berlin erscheint.
Gerhard Sawatzky, in der Südukraine geboren, verbrachte seine Kindheit in Westsibirien und studierte am Leningrader Pädagogischen Herzen-Institut. Danach arbeitete er zuerst als Lehrer, dann als Journalist und Autor im Wolgagebiet, wo er als wichtigster Literat der jüngeren Generation der Wolgadeutschen und Vorkämpfer einer eigenständigen „sowjetdeutschen“ Literatur galt. 1937 vollendete er seinen Roman „Wir selbst“. Noch bevor der Roman, der bereits in Druckvorbereitung war, das Licht der Welt erblickte, wurde Sawatzky Ende 1938 verhaftet und starb Jahre später (1944) im GULag Solikamsk. Das Buch ist nie erschienen. Doch Sawatzkys Witwe Sophie Sawatzky gelang es, bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen das Urmanuskript zu retten.
„Wir selbst“ erzählt von einer untergegangenen Welt, nämlich der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (1918-1941). Im häufigen Szenenwechsel zwischen Land und Stadt beschreibt der Roman die entscheidende Wende im Leben der Wolgadeutschen von 1920 bis 1937: Die Auswirkungen der Oktoberrevolution 1917, den Bürgerkrieg, die Etablierung der Sowjetmacht, den offenen und getarnten Klassenkampf, die Kollektivierung und Industrialisierung.
Sawatzkys großer Gesellschaftsroman, der zu Lebzeiten des Autors nie erschienen war und erst 1984-1988 im Almanach „Heimatliche Weiten“ (hrsg. von Hugo Wormsbecher, Moskau – leider bearbeitet und zensiert) veröffentlicht werden konnte, ist das „bedeutendste Werk der sowjetdeutschen Vorkriegsliteratur“ (laut Woldemar Ekkert), das mit dem Leben der Wolgadeutschen in der Zwischenkriegszeit ein untergegangenes Stück Zeitgeschichte darstellt.
„Auch wenn Sawatzky schon beim Schreiben die Angst vor stalinistischen Säuberungsaktionen im Nacken saß und er manches unterschlug bzw. beschönigte – sein Buch ist ein höchst bedeutendes Zeitzeugnis“, ist in der Verlagsvorschau zum Buch nachzulesen. Der Herausgeber Carsten Gansel (geb. 1955, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen) hat die einzigartige Edition mit einem aufschlussreichen Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Autonomen Republik und ihrer Literatur versehen.
Zur Bedeutung der Veröffentlichung des Romans „Wir selbst“
Herausgeber Prof. Dr. Carsten Gansel im Gespräch mit Nina Paulsen
Nina Paulsen: Lieber Herr Gansel, wie sind Sie auf den Roman von Sawatzky gekommen? Was hat Sie an der Geschichte besonders fasziniert?
Carsten Gansel: Bei der Beschäftigung mit Fragen zum Komplex „Literatur und Gedächtnis“ war ich schon sehr früh mit dem beschäftigt, was man den Großen Terror unter Stalin in den 1930er Jahren nennt. Als ich mich dann auch stärker mit der russlanddeutschen Literatur beschäftigte, stieß ich auf das Schicksal zahlreicher Autoren, die unter Stalin entweder im Gulag umgekommen oder nach 1941 deportiert und in die Trudarmee gebracht worden waren. Gerhard Sawatzky, das stellte ich schnell fest, war jener Autor, der noch mit deutschen Exilautoren zusammengearbeitet hatte, aber dann urplötzlich verschwand. Sein Roman war kurz vor dem Druck vernichtet worden. Das war ein hinreichender Grund, um nach dem Text zu suchen. Dies umso mehr, da es sich um einen Roman handelt, der versuchte, die neuen Verhältnisse in der entstandenen Wolgadeutschen Republik zu erfassen.
Was war Ihre Motivation, den Roman „Wir selbst“ in Buchform in Deutschland erscheinen zu lassen und am Projekt festzuhalten?
Es gibt einen wichtigen Satz, der für Forschungen nicht nur in Verbindung mit dem „Prinzip Erinnerung“ grundlegend ist. Jurij M. Lotmann, den ich schon immer sehr geschätzt habe, hat einmal eine wichtige Erkenntnis formuliert und geschrieben: „Nicht zufällig erfolgt jede Zerstörung von Kultur als Vernichtung von Gedächtnis, als Tilgung von Texten, als Vergessen von Zusammenhängen.“ Es ist von daher Aufgabe von Literatur wie Wissenschaft, das Gedächtnis zu bewahren und Autoren mit ihren Texten wieder in das „lebendige Gedächtnis“ zu holen. Im Kontext mit Gerhard Sawatzky und der russlanddeutschen Literatur kommt noch etwas hinzu: Die Geschichte der Russlanddeutschen ist in Deutschland wenig bekannt. Das hat Folgen – auch und gerade – für die Gegenwart, in der man nicht selten vereinfachte Darstellungen findet. Darstellungen, die mitunter wohl von gänzlicher Unkenntnis getragen sind und die Klischees transportieren. Es hängt dies nicht zuletzt damit zusammen, dass die Geschichte der Russlanddeutschen, die zahlreiche tragische Momente umfasst, schlichtweg nur wenige kennen.
Das war vor 1989 und daran hat sich nach meiner Einschätzung auch nach 1989 und dem Ende der DDR und der Sowjetunion nicht viel geändert. Ich spreche jetzt nicht von Betroffenen oder Spezialisten, sondern von der Bevölkerung insgesamt. Diese Nichtkenntnis betrifft sicher auch den Namen Gerhard Sawatzky und seinen Roman „Wir selbst“ von 1938. Diesen Roman wieder zugänglich zu machen, und gleichzeitig zu versuchen, ihn in die Russlanddeutsche Geschichte einzuordnen, das schien mir dringlich, ja geradezu wissenschaftlich verpflichtend.
Der Verlag Galiani, wo das Buch erscheint, schreibt über sich selbst: „[W]ir verstehen uns als Verlag, bei dem Entdeckungen zu machen sind. Egal, aus welchem Jahrhundert, egal, in welchem Genre.“ War die Überzeugungsarbeit dennoch schwierig?
Nein, keineswegs! Mit Wolfgang Hörner, der Galiani (als Imprint des Verlags Kiepenheuer & Witsch ist Galiani Berlin Teil der Holtzbrinck Publishing Group; Anm. der Red.) leitet, habe ich bereits bei der Publikation von Heinrich Gerlachs „Durchbruch bei Stalingrad“ (1946/2016) und der nachfolgenden „Odyssee in Rot“ (2017) erfolgreich zusammengearbeitet. Die Urfassung des Manuskripts von Gerlach hatte ich 2012 in einem Moskauer Archiv gefunden und dann in einem komplizierten Editionsprozess bei Galiani herausgegeben. Um die Geschichte von Heinrich Gerlach wusste ich schon seit Beginn der 1990er Jahre. Damals war Wolfgang Hörner sofort fasziniert und versicherte, dass wir gemeinsam ein Buch daraus machen würden. Bei Gerhard Sawatzky und seinem Roman handelte es sich letztlich auch um ein Manuskript, das verschollen und das in Deutschland nie erschienen war. Wir waren uns auch in diesem Fall einig, dass zur Publikation des Romans unbedingt ein umfassendes Nachwort gehörte. Das war natürlich neben der Edition selbst ein aufwendiger Prozess.
Als Grundlage für die Veröffentlichung diente die Ur-Fassung (gerettet von der Witwe des Autors) des Romans. Wie verlief die Arbeit an der Fertigstellung des Buches? Was war besonders schwierig? Wo musste man (wenn überhaupt) Abstriche machen?
Abstriche sind keine gemacht worden. Kompliziert war natürlich auch hier – wie schon bei der Edition von Heinrich Gerlach –, dass der Autor Korrekturen an der Ur-Fassung angebracht hatte. Abgesehen davon, dass wir mitunter lange brauchten, um den Wortlaut einzelner Passagen zu entschlüsseln, kam noch etwas Anderes hinzu: Gerhard Sawatzky hatte bei den Korrekturen auch Teile gestrichen, die man durchaus als Momente von Selbstzensur bezeichnen kann. Was macht man in dem Fall, da durch die Streichung des Autors die Figurenrede abgedämpft wird oder innere Monologe die erzählte Geschichte harmonischer gestalten? Wir haben uns in solchen Fällen entschieden, die Ur-Urfassung zu erstellen, also jenen Moment zu erfassen, der vom – sagen wir ruhig – inneren Zensor noch unberührt geblieben war. Und noch ein Aspekt ist zu beachten. Es musste darum gehen, die Besonderheiten der russlanddeutschen Diktion authentisch abzubilden, also bestimmte Satzkonstruktionen oder grammatikalische Abweichungen eben nicht zu korrigieren.
„Wir selbst“ wird als Gesellschaftsroman schlechthin der „sowjetdeutschen“ Literatur bezeichnet. Hält er dieser Einschätzung, trotz zeitbedingter Schwachstellen, aus Ihrer Sicht stand? Wie würden Sie den Roman sprachlich und stilistisch beurteilen?
Ja, auf jeden Fall. Man muss bedenken: Gerhard Sawatzky begann dieses Epos von fast 1000 Seiten Anfang der 1930er Jahre. Da war er knapp 30! Er hatte durch seine eigene Biographie hinreichend Erfahrungen in verschiedenen Regionen gesammelt, in denen Russlanddeutsche lebten, und als Journalist kannte er die Wolgadeutsche Republik bestens. Er wusste, wie die Leute dachten und wie ihre soziale Situation aussah. Ganz abgesehen davon, Sawatzky ist durchaus das, was man einen Geschichten-Erzähler nennen kann.
Das mit den „Schwachstellen“, das ist so eine Sache. Natürlich kann man monieren, dass der Roman keine hinreichende Kritik an den damaligen Verhältnissen übt. Aber wir dürfen nicht vergessen: Als er den Roman schrieb, da waren die Oktoberrevolution von 1917 und der anschließende Bürgerkrieg erst einige Jahre vorbei. Und mit der Gründung der Wolgadeutschen Republik schien sich etwas Neues anzubahnen.
Dass Mitte der 1930er Jahre der Große Terror unter Stalin einsetzen würde, das konnte Sawatzky nicht ahnen. Und man muss schon historisch gerecht sein: Erst mit dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 wurden die Verbrechen Stalins öffentlich, es dauerte noch mehr als 20 Jahre bis im vollen Umfang klar wurde, was geschehen war. Kurzum, man sollte von Sawatzky nicht rückwirkend etwas verlangen, was er gar nicht leisten konnte. Sprachlich-stilistisch gehört der Roman meiner Meinung nach zum Besten, was in der russlanddeutschen Literatur in dieser Periode geschaffen wurde.
Den allermeisten Russlanddeutschen in Deutschland (insgesamt über 2,4 Millionen) und den etwa 400.000 Deutschen in den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion, auch der älteren Generation, ist sowohl der Name Sawatzky als auch sein Roman gänzlich unbekannt (trotz der Veröffentlichung in Auszügen in den 1960er und 1970er Jahren in der russlanddeutschen Presse und fast vollständig in den „Heimatlichen Weiten“ in den Jahren 1984-1988), wie übrigens überhaupt die Existenz einer deutschen Literatur in der Sowjetunion. Das Interesse unter den Russlanddeutschen für die Neuerscheinung dürfte sich auch heute wohl sehr in Grenzen halten. Ob unter den „einheimischen“ Lesern das Thema auf mehr oder weniger breites Interesse stößt, bleibt abzuwarten. An wen wendet sich aus Ihrer Sicht hier und heute ein Roman, der in den 1930er Jahren in der Sowjetunion entstanden ist und über die schwierigen Verhältnisse der deutschen Bauern an der Wolga erzählt – und zwar in der besten Tradition des damals deklarierten „sozialistischen Realismus“?
Ich vermag nicht zu sagen, ob sich das Interesse wirklich in Grenzen hält. Das Interesse der Leser, das ist ohnehin eine nicht wirklich zu kalkulierende Größe. Als wir Heinrich Gerlachs „Durchbruch bei Stalingrad“ herausbrachten, da hofften wir natürlich, dass die Edition Leser finden würde, aber von dem sich dann einstellenden großen Erfolg – immerhin landete Gerlachs Antikriegsroman für mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste – waren wir dann doch überrascht.
Historische Themen, um die handelt es sich ja auch bei Sawatzkys Roman, vermögen aus meiner Sicht durchaus Leser zu motivieren. Und in diesem Fall kommt noch etwas hinzu: Es kennt kaum jemand diese Geschichten. Es handelt sich somit im besten Sinne um Neuland! Darüber hinaus werden aus meiner Sicht Kategorien des sozialistischen Realismus unterlaufen. Der sogenannte „neue Gegenstand“, also die Dorfgeschichte und die parallel dazu angelegte Stadt-Handlung, das ist durchaus innovativ. Auch die Art und Weise, wie Sawatzky den Dialog einsetzt und auf Kommentare verzichtet. Er schließt da sehr wohl an die sowjetische Avantgarde an.
Worin sehen Sie die besondere Bedeutung des Romans – auch heute noch, der – ebenso wie sein Autor – ein tragisches Schicksal hatte und in seiner vollständigen Fassung erst mehr als 80 Jahre nach seiner Fertigstellung und der Verhaftung des Autors zum ersten Mal in Buchform erscheint? Hierzu ein Zitat von Johann Warkentin aus seiner Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht: „Wer Gerhard Sawatzky heute als geneigter Leser ertragen will, muss seine faustdick aufgetragene Anhimmelung des Sozialismus im Allgemeinen, die Verherrlichung konkreter Großtaten der 30er Jahre im Einzelnen und die in der Mitte des Romans einsetzende Glorifizierung Stalins im Besonderen nachsichtig in Kauf nehmen. Und mögen doch die Pfui-Rufer von heute bedenken: Der Roman wurde 1937 fertiggestellt, als die Todesangst dem Verfasser im Nacken saß – und mit jeder Zeile versuchte er gegen eben dieses Grauen anzuschreiben.“ (S. 106-107, erschienen 1999, hrsg. von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.)
Warkentin spricht in seinem Buch davon, dass es eine Geschichte der russlanddeutschen Literatur „aus persönlicher Sicht“ sei. Und das ist es in der Tat, es ist eine persönliche Sicht, die nicht unbedingt literaturgeschichtlich arbeitet und einen Text oder eine Gruppe von Texten historisch einordnet. Auch finden sich zahlreiche – sagen wir – pointierte Bewertungen. Zudem: Die Beurteilungen von Warkentin sind entstanden, als alle wussten, was aus der Utopie des Sozialismus geworden war. Herausgekommen ist sein Buch 1999. Nehmen wir einmal einen gänzlich unverdächtigen Fall, nämlich einen der wichtigsten Denker der Bundesrepublik, Jürgen Habermas. Der ging noch in den 1970er und 1980er Jahren davon aus, dass es sich bei der Sowjetunion und der DDR um eine Variante moderner Industriegesellschaften handeln würde, gewissermaßen ihre postkapitalistische, staatssozialistische Variante! Wenn Warkentin von einer „Anhimmelung des Sozialismus“ spricht oder von einer „Glorifizierung Stalins“, da sollte man dann schon genauer hinsehen. Der Roman liegt ja nunmehr vor. „Stalin“ wird an einigen Stellen in der Ur-Fassung sogar getilgt. Aber so einlinig, wie Warkentin es darstellt, ist es meiner Meinung im Roman gar nicht. Gerhard Sawatzky ist einer der wenigen Autoren der damaligen Zeit – ich versuche das im Nachwort deutlich zu machen –, der es schafft, aus der Sicht seiner Figuren zu erzählen.
Es spielt also das eine große Rolle, was man Mitsicht, Figurensicht oder eben personales Erzählen nennt. Nehmen wir nur den Textanfang. Da wird die Sicht des enteigneten und vertriebenen Fabrikbesitzers Benkler geschildert. Und an keiner Stelle werden seine – den damaligen Auffassung in der Sowjetunion diametral entgegenstehenden Positionen – korrigiert. Allein dieser Anfang des Romans hätte den Autor in den Gulag bringen können, und vielleicht war dies auch ein Grund. Man sollte also Gerhard Sawatzky und seinen Roman „Wir selbst“ im Kontext der damaligen politischen wie literarischen Verhältnisse verorten. Auch dies wird im Nachwort versucht, daher sind es auch um die 180 Seiten. Aber, was noch wichtiger ist: Jeder sollte den Roman selbst lesen und sich dann ein eigenes Urteil bilden. Gerhard Sawatzky und die russlanddeutsche Literatur, sie haben es verdient!
Gerhard Sawatzky, Roman „Wir selbst“
Herausgegeben von Carsten Gansel, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Republik.
Verlag Galiani Berlin 2020, ISBN 978-3-86971-204-8, Preis 36,- Euro, 1088 Seiten.
Auch als E-Book verfügbar. Bestellungen über den Verlag, die Buchhandlungen oder online.