Bitte lesen Sie laut!

Diesen Satz haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, sicher schon oft im Fremdsprachenunterricht gehört, doch nicht nur dort ist das Lautlesen ein sehr nützliches Hilfsmittel. Immer wieder habe ich an dieser Stelle schon aus dem Nähkästchen geplaudert – meist aus dem des Übersetzers.
Heute aber soll es um die Arbeit des Korrektors gehen bzw. um einen Arbeitsschritt, mit dem Sie als Autor oder Autorin ihrem Text den letzten Schliff geben und dem Lektor oder Korrektor, der Ihren Text unmittelbar nach Ihnen in die Hände bekommt, das Leben erheblich erleichtern können. Wir steigen genau an dem Punkt ein, an dem das zukünftige Buch – oder auch nur der jeweilige Text – eigentlich fertig ist und Sie sich das Ganze „nur noch einmal durchlesen“ wollen, um sicherzugehen, dass keine Tippfehler mehr enthalten sind oder Kommas fehlen. Genau für diesen Moment ist mein Aufruf aus der Überschrift gedacht: Bitte nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie Ihren Text laut vor – entweder sich selbst, denn auch dabei merkt man häufig schon, wo es „hakt“, oder jemandem, der Ihnen wohlgesinnt ist und sich den ganzen Text gern anhört und hier und da vielleicht auch noch die eine oder andere Ungereimtheit aufdeckt.

Erst beim Hören stößt man nämlich noch auf die letzten Füllwörter wie „auch“, „jedoch“ oder „natürlich“ (die man im Russischen wesentlich bildlicher „слова-паразиты“ nennt, denn Parasiten sind sie in den meisten Fällen tatsächlich) oder auf Wortwiederholungen, die einem beim reinen Lesen unter Umständen entgehen, weil vielleicht, wie im folgenden Beispiel, der Wortstamm derselbe ist, die verschiedenen davon abgeleiteten Wörter aber auf den ersten Blick unterschiedlich aussehen:
„Dioramen sind in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eine recht verbreitete Art der Geschichtsdarstellung, denn sie vermitteln mit künstlerischen Mitteln einen dreidimensionalen Eindruck des Geschehens – unmittelbarer, als es Fotos und andere Bilder könnten.“

Mitunter hat man auch versucht, ein Synonym zu finden, das sich beim lauten Lesen insofern als weniger günstig entpuppt, als es sich von dem ersten Begriff nicht deutlich genug unterscheidet:

„Inzwischen gibt es alljährlich im Sommer die Krabat-Festspiele, und die jährliche Besucherzahl hat sich mehr als verzehnfacht.“
Oder man merkt beim Schreiben gar nicht, wie man, ohne es zu wollen, immer wieder auf dieselben Formulierungen zurückgreift. Tut man das im Verlaufe eines ganzen Buches, kann es zum individuellen Stil gehören. Geradezu unverzeihlich ist es aber, wenn es in ein und demselben Satz passiert, wie die folgenden Beispiele zeigen:

„Ich ließ mein Auto noch ein wenig stehen und schlenderte trotz des wechselhaften Wetters ein wenig durch die Stadt.“
„Immerhin befindet sich in dem Haus, in dem der Apothekersohn geboren wurde, bis heute die Löwen-Apotheke, und eine Gedenktafel kündet bis heute von diesem denkwürdigen Ereignis am 30. Dezember 1819.“
„So gab es in Leipzig außer der Darstellung der Völkerschlacht 1813 auch Darstellungen von Amazonien und dem Great Barrier Reef und in Dresden zunächst die Darstellung eines Tages im Jahre 1756.“
Auch Homonyme bemerkt man beim Schreiben und auch beim späteren Lesen nicht in jedem Fall, beim lauten Lesen stolpert man jedoch unweigerlich darüber:

„Wir aber beschlossen, den Abend mit diesem Erlebnis zu beschließen.“
Zu guter Letzt kann man beim lauten Lesen auch Bezugsfehler ausfindig machen und rechtzeitig korrigieren. So geben im letzten Beispiel natürlich nicht die Sprachen, sondern die Informationstafeln den nötigen Aufschluss:
„In jedem Saal gibt es einen Kasten, in dem Informationstafeln in verschiedenen Sprachen stecken, die darüber Aufschluss geben, wozu etwa das Ablassfenster diente oder wo sich die Ehrentreppe befand.“
All diese Beispiele habe ich selbst beim lauten Lesen diverser Texte „herausgefischt“, ich weiß also, wovon ich rede, denn, auch das gebe ich unumwunden zu, beim leisen Lesen waren sie mir alle erst einmal, wie man so schön sagt, durch die Lappen gegangen. Da ich aber im Nachhinein heilfroh bin, dass ich sie doch noch gefunden habe, weil das den Texten mit Sicherheit gutgetan hat, wollte ich Ihnen diese Erfahrung nicht vorenthalten.

Carola Jürchott
www.lust-auf-geschichten.de