Plädoyer für alte Kommas

Zugegeben, wollte ich der Absicht dieses Beitrags durchgängig treu bleiben, müsste es in der Überschrift auch „Kommata“ statt „Kommas“ heißen. Da diese Pluralform aber kaum noch jemand kennt, habe ich darauf an dieser Stelle verzichtet. Allerdings kann und will ich nicht verleugnen, dass ich der Generation entstamme, die noch ihre komplette Schulzeit vor der letzten Rechtschreibreform und selbst vor Beginn der Diskussion darüber absolviert hat. So war bei uns das ß noch weit mehr verbreitet, und auch für Getrennt- und Zusammenschreibung, Groß- und Kleinschreibung und einiges mehr galten andere (und mitunter striktere) Regeln als heute. Auch wenn ich mich mittlerweile an vieles davon gewöhnt habe und bei Schreibweisen wie „Schloß“ und „Fluß“ stutze, gibt es einen Bereich, in dem ich mich nach wie vor an alle alten Regeln halte, die zum Glück zumindest als Alternativvariante noch erlaubt sind. Die Rede ist von der Kommasetzung. So finde ich eine Satzverbindung wesentlich übersichtlicher, wenn vor „und“ und „oder“ ein Komma steht, auch wenn dadurch zwei Hauptsätze miteinander verbunden sind. Unter Umständen kann das auch helfen, einen kommenden Teilsatz von einer Aufzählung o. Ä. zu unterscheiden.

Erweiterte Infinitive mit „zu“ trenne ich ebenfalls immer noch instinktiv mit einem Komma ab, auch wenn sie nicht durch eine Konjunktion wie „um“ eingeleitet werden. Dass das in manchen Fällen eigentlich unerlässlich ist, um den Sinn des Satzes auf Anhieb erfassen zu können, wurde mir kürzlich wieder bei der Lektoratsarbeit bewusst. Besonders häufig trat dieses Dilemma übrigens in Sätzen mit dem Prädikat „versuchen“ auf.

Nehmen wir als Beispiel einen Satz wie:

Der Hund versuchte voller Wut den Knochen zu fressen.“

Ohne ein Komma weiß man nicht, worauf sich die Wut des Vierbeiners bezieht: auf den Versuch oder auf den Knochen. Setzt man ein Komma, gibt es dafür dementsprechend zwei Möglichkeiten:

„Der Hund versuchte, voller Wut den Knochen zu fressen.“

„Der Hund versuchte voller Wut, den Knochen zu fressen.“

Ein anderes Beispiel wäre:

„Er versuchte erneut das Buch zu lesen.“

Versuchte er es nun erneut, weil ein vorheriger Versuch bereits gescheitert war? („Er versuchte erneut, das Buch zu lesen.“) Oder versuchte er, das Buch, das er bereits kannte, noch einmal zu lesen, wurde aber durch irgendetwas daran gehindert? („Er versuchte, erneut das Buch zu lesen.“)

Ähnlich verhält es sich, wenn nur ein Komma die Erklärung bieten kann, ob es sich wirklich um einen erweiterten Infinitiv mit „zu“ handelt oder eben nur um einen einfachen. So kann die Aufforderung: „Versuch nicht einzuschlafen!“ zweierlei bedeuten: Entweder soll der so Angesprochene gar nicht erst den Versuch unternehmen einzuschlafen, weil es ihm beispielsweise trotz gezählter Schäfchen nicht gelingen würde (in diesem Fall darf kein Komma stehen, weil „einzuschlafen“ ein einfacher Infinitiv mit „zu“ ist), oder er soll, trotzdem er vielleicht todmüde ist, alles daransetzen, nicht einzuschlafen, weil er unbedingt wachbleiben muss. Dann würde das „nicht“ den Infinitiv erweitern, und ich würde auf jeden Fall ein Komma setzen: „Versuch, nicht einzuschlafen!“

Wie gesagt, all diese Kommas sind laut Duden fakultativ. Ob Sie es nun ihrem Leser überlassen, sich für eine der jeweils möglichen Varianten zu entscheiden, oder ihm mittels eines kleinen Beistrichs eine Hilfe an die Hand geben, liegt nach den Regeln der geltenden Rechtschreibung also ganz bei Ihnen.

Carola Jürchott

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