Wie viel Autonomie ist zulässig?

Auch wenn die Überschrift wieder etwas ketzerisch klingt, ist der Inhalt dieses Beitrags doch nach wie vor rein sprachlicher und keineswegs politischer Natur. Hier geht es nämlich ausschließlich um den Begriff „Autonomie“ als solchen. Die „Autonomie von Lehre und Forschung“ ist ein hohes Gut und für deutsche Universitäten und Hochschulen mittlerweile selbstverständlich. Dass Basken und Katalanen seit Jahrzehnten für ihre Autonomie kämpfen, ist ebenfalls eine Binsenweisheit. In beiden Fällen ist die Autonomie etwas Abstraktes, im ersten die Entscheidungsfreiheit, die Bildungseinrichtungen nicht vom Staat genommen werden kann, und im zweiten die Unabhängigkeit bzw. Selbstständigkeit als solche.

Diese Interpretationen des Begriffes „Autonomie“ sind laut Duden zulässig. Wie aber sieht es aus, wenn, wie ich es häufig in Texten über die Geschichte der Russlanddeutschen lese, das Wort „Autonomie“ gebraucht wird, um etwas Konkretes zu bezeichnen, meist eine bestimmte Verwaltungseinheit? Immer wieder wird da „Autonomie“ quasi als Oberbegriff für ein administratives Konstrukt gebraucht, das zunächst ein „Autonomes Gebiet“ war und später zur „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik“ wurde.

Da ist dann die Rede davon, dass die Kreisstädte der „Kern der deutschen Autonomie“ waren oder der Einfluss der Bolschewiki „in der deutschen Autonomie“ gestärkt werden sollte. Selbst in der Wikipedia heißt es, man habe einer möglichen „Herabstufung der nationalen Autonomie zu einem ‚Bezirk‘“ vorbeugen wollen, und im „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ der Universität Oldenburg findet man die Angabe, weit entfernte Siedlungen seien „außerhalb der künftigen Autonomie“ geblieben.

Auch wenn der Begriff „Autonomie“ in manchen Texten in dieser konkreten Bedeutung zu finden ist, ist diese dennoch nicht vom Duden gedeckt und daher (zumindest in allgemeinen, literarischen und populärwissenschaftlichen Texten, für die der Duden nach wie vor der Maßstab ist) unbedingt zu vermeiden. Natürlich verleiten Redewendungen wie „der Kampf für die Autonomie“ und „die Wiederherstellung der Autonomie“ zu der Annahme, damit könnte sowohl die abstrakte als auch eine konkrete Bedeutung des Begriffs gemeint sein. Dem ist jedoch nicht so, da beide Formulierungen auf das abstrakte Gut der Selbstständigkeit als solcher abzielen. Auch die in den Nachrichten viel zitierte „palästinensische Autonomiebehörde“ könnte den Schluss nahelegen, mit „Autonomie“ sei eine bestimmte Region gemeint. Dass dem nicht so ist, wird spätestens klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in diesem Zusammenhang konkret geografisch und politisch immer von den „palästinensischen Autonomiegebieten“ gesprochen wird. Wäre die geografische Komponente im Begriff „Autonomie“ bereits enthalten, wäre das eine Tautologie.

Möchte man das Merkmal der Autonomie also geografisch oder administrativ verstanden wissen, sollte man entweder ein Kompositum bilden oder das Adjektiv „autonom“ verwenden und ein erklärendes Substantiv hinzufügen, wie etwa „Gebiet“ oder „Republik“. Auch um einen Oberbegriff für alle Strukturen dieser Art muss man nicht verlegen sein. In diesem Fall helfen die neutrale „Verwaltungseinheit“ oder eben die fast allumfassenden „Strukturen“ zuverlässig weiter. Vorsicht geboten ist allerdings auch bei der Übersetzung der häufig verwendeten Kurzform „Немреспублика“ ins Deutsche. Bleibt man hier der russischen Struktur treu und spricht von einer „deutschen autonomen Republik“, könnte unter Umständen das Missverständnis aufkommen, es handele sich um eine autonome Struktur innerhalb eines deutschen Staates. Um das zu vermeiden, sollte man meines Erachtens in jedem Fall bei der offiziellen Bezeichnung „Autonome (Sowjet-)Republik der Wolgadeutschen“ bleiben.

Carola Jürchott

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