Überlegungen zu Raum und Zeit

Von beim Übersetzen mitunter notwendigen Perspektivwechseln war an dieser Stelle schon die Rede. Diese betreffen häufig objektive Umstände wie Zeitangaben oder räumliche Vorstellungen wie etwa Entfernungen.
So habe ich mich vor vielen Jahren sehr gewundert, als mir meine Moskauer Freunde begeistert erzählten, sie seien von Berlin aus „mit der S-Bahn“ nach München gefahren. Es dauerte eine Weile, bis bei mir der berühmte Groschen fiel – und er tat es sprichwörtlich pfennigweise: Da der Zug, mit dem sie gefahren waren, über keinerlei Schlafwagen verfügte, kam er der russischen электричка deutlich näher als einem поезд, in dem es in der Regel Schlaf- oder doch zumindest Liegewagen gibt. Auch war die Entfernung in ihren Augen nicht der Rede wert, schließlich ist sie ohne eine Übernachtung zu bewältigen, und auch das sieht in Russland zwischen Großstädten meist deutlich anders aus.


Natürlich ist es aus der Perspektive der ehemaligen Sowjetunion ein Katzensprung von den baltischen Hauptstädten Tallinn und Riga in andere kulturelle Zentren wie Danzig oder Königsberg. Dennoch ist es einem deutschen Leser sicher nur schwer begreiflich zu machen, warum man in diesem Fall davon spricht, diese befänden sich im Verhältnis zu Lettland oder Estland „nebenan“, wie ich es einmal in einem Manuskript gelesen habe. Für deutsche Verhältnisse sind diese Entfernungen eben doch um einiges größer.
Auch Zeitangaben variieren in den einzelnen Sprach- und Kulturgemeinschaften.

Während man vor einigen Jahren auf Deutsch noch zu sagen pflegte: „Er ist über dreißig“, hat sich nun das ursprünglich englische „Er ist in seinen Dreißigern“ quasi durch die Hintertür eingeschlichen, und man kann es inzwischen leider auch immer wieder in den Medien hören. Ist jemand „Ende 30“, wie man es bis vor Kurzem gesagt hätte, heißt es heute immer öfter: „Er ist in seinen späten Dreißigern“, obwohl eigentlich gar keine Notwendigkeit besteht, die deutsche Formulierung gegen die aus dem Englischen entlehnte einzutauschen, weil sie inhaltlich genau dasselbe aussagt.
Mit den Angaben von Jahrzehnten ist es ohnehin so eine Sache. Ist der Herr, von dem im vorigen Absatz die Rede war, auf Deutsch durchaus auch als „Enddreißiger“ zu bezeichnen, habe ich doch vor einiger Zeit sehr gestutzt, als ich beim Korrekturlesen auf die Formulierung stieß, „in den Enddreißigern“ haben bestimmte Personen dies oder jenes getan. In diesem Fall war nämlich nicht gemeint, dass die handelnden Personen bereits ihrem 40. Geburtstag entgegensahen, sondern dass sich die entsprechenden Ereignisse am Ende der 1930er-Jahre abgespielt hatten. Man hätte auch sagen können: „in den späten Dreißigerjahren“, denn ohne ein Possessivpronomen ist diese Angabe im Deutschen durchaus schon immer gebräuchlich gewesen.


So genügt es also nicht, sich darauf zu verlassen, dass „Zahlen nicht übersetzt werden“, wie man es vielleicht irgendwann einmal im Fremdsprachenunterricht gelernt hat, sondern man muss auch hier bei jeder Übersetzung genau reflektieren, wie entsprechende Zeiträume in der jeweiligen Zielsprache ausgedrückt werden. Schließlich muss man ja nicht ohne Not Anglizismen (oder sonstige „-ismen“) produzieren, wenn es für eben diese Angabe bereits eine etablierte deutsche Formulierung gibt.

Carola Jürchott
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