Vom Werden und Wachsen

Wie haben wir uns in der Schule gequält, bis wir verinnerlicht hatten, dass man im Russischen den Instrumental verwenden muss, um auszudrücken, was man werden möchte! Immerhin war das eine Frage, die man in diesem Alter öfter gestellt bekam. Auch im Englischen dauerte es eine Weile, bis endlich die ganze Klasse begriffen hatte, dass „become“, das man in eben diesen Fällen verwenden musste, nichts mit dem deutschen „bekommen“ zu tun hat.

Wie einfach war es doch im Deutschen: „Ich möchte Lehrer werden“ – oder was immer man sich gerade vorgenommen hatte. Ein Verb, dahinter noch ein Nominativ – fertig!

Doch ganz so einfach ist es anscheinend doch nicht. Zumindest drängt sich dieser Verdacht auf, wenn man Texte korrigiert, die aus dem Russischen übersetzt wurden. Hier spielt immer wieder einmal der russische Instrumental noch heimlich mit hinein, ob es der Autor nun wollte oder nicht. Da liest man dann Konstruktionen wie „zu einem Lehrer werden“, und schon kommt man dem Ausgangstext wieder auf die Schliche.

Dabei ist die Konstruktion mit „zu“ grammatisch gar nicht falsch; sie bedeutet nur etwas anderes. Während nämlich „etwas werden“ („reich werden“, „Sieger werden“ „Wissenschaftler werden“) auf das Ergebnis abzielt, signalisiert das „zu“ eine Entwicklung: „Er ist doch noch zu einem anständigen Menschen geworden.“ (Das bedeutet, es sah nicht unbedingt so aus, aber mit vielen Mühen hat er es geschafft.) Hier kann das Verb auch durch Synonyme ersetzt werden: „Er ist zu einem anständigen Menschen herangewachsen.“ (wenn man von einem jungen Menschen spricht) oder „Es ist ein anständiger Mensch aus ihm geworden.“ Im letzteren Fall umgeht man die Konstruktion mit „zu“, gibt aber unterschwellig eventuell auch zu verstehen, dass dieses Resultat nicht immer zu erwarten war.

Natürlich lässt sich die Variante mit „zu“ auch mit Berufsbezeichnungen koppeln: „Ich möchte zu einem Lehrer werden, der die Kinder wirklich versteht.“ Derjenige, der das sagt, weiß, dass er noch eine Entwicklung vor sich hat, die er durchlaufen muss, um sein Ziel zu erreichen. Sagt er hingegen: „Ich möchte ein Lehrer werden, der die Kinder wirklich versteht“, macht er deutlich, welches Ziel er sich für seine Entwicklung gesetzt hat.

Genauso verhält es sich mit den Adjektiven. „Die Kinder sollen zu allseits gebildeten Persönlichkeiten werden“ bedeutet: Sie haben noch einen weiten Weg bis dahin vor sich, und wir werden ihnen dabei helfen. Der Satz „Ich möchte reich werden“ hingegen blendet den Weg dorthin weitestgehend aus und stellt das Resultat in den Fokus.

Sie sehen, liebe Leserinnen und Leser, eine Entwicklung auszudrücken ist zwar nicht ganz so schwierig wie sie zu durchlaufen, etwas Feingefühl erfordert es aber auch.

Carola Jürchott

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