Vom Perspektivwechsel beim Übersetzen

Dass man Texte, und zwar vor allem literarische, nicht wortwörtlich übersetzen kann, wird spätestens dann auch dem Letzten klar, der es bis dahin noch nicht gewusst hat, wenn er das Produkt einer maschinellen Übersetzung in den Händen hält. Die Forderung, „nicht Wort für Wort, sondern Sinn für Sinn“ zu übersetzen, stellte bereits Hieronymus auf, der heute als Schutzpatron der Übersetzerzunft gilt. Sie findet sich später in Martin Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen“ ebenso wieder wie in Fausts Monolog in der Szene „Studierzimmer“ im ersten Teil der berühmten Tragödie von Goethe.
So weit, so klar. Inzwischen gehen Menschen, die mehrere Sprachen beherrschen, jedoch mitunter noch einen Schritt weiter. So hört man, dass sich, je nachdem, in welcher Sprache man gerade kommuniziert, auch die Denkweise ein wenig ändert.


Dieses Phänomen ist meines Erachtens für eine Übersetzung auf hohem Niveau unerlässlich, zumal es natürlich nicht dabei bleiben kann, einfach darauf zu vertrauen, dass sich das eigene Denken der einen oder anderen Sprache anpasst. Sonst würde man als Deutscher vermutlich nie dahinterkommen, warum man in Russland auf die Frage, wie viel zehnmal hundert Gramm ergeben, bei Weitem nicht immer „ein Kilogramm“ zur Antwort erhält, sondern durchaus ebenso häufig gesagt bekommt: „ein Liter“. Stellt man dieselbe Frage auf Deutsch, würde auf diese Idee vermutlich niemand kommen, auf Russisch hingegen entbehrt sie aufgrund der üblichen Mengenangabe bei alkoholischen Getränken nicht einer gewissen Logik.


Man nimmt also in einer anderen Sprache bisweilen eine andere Perspektive ein. In Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche lese ich immer wieder Passagen, in denen beschrieben wird, was sich gerade „hinter dem Fenster“ abspielt. An dieser Stelle hat der Perspektivwechsel offensichtlich nicht funktioniert. Während man nämlich im Russischen bei der Angabe des Lebens außerhalb des Hauses die Blickrichtung von drinnen nach draußen wählt, ist es im Deutschen umgekehrt. Hier findet derselbe Vorgang (Schneefall, Dämmerung etc.) „vor dem Fenster“ statt. Das russische „ночь опустилась за окном“ müsste also in der Übersetzung zu „vor dem Fenster senkte sich die Nacht hernieder“ werden. Hinter dem Fenster befinden sich im Deutschen eher Personen, die in einem Raum sind, in den jemand von der Straße aus hineinsieht.


Zugegeben, hierbei handelt es sich um Feinheiten. Dennoch kann ihre Nichtbeachtung beim Leser eines übersetzten Textes dazu führen, dass er das Gefühl hat, irgendetwas stimme nicht, und das sollte doch gerade bei literarischen Werken um jeden Preis vermieden werden.

Carola Jürchott
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