Zwei, vier oder sechs?


Keine Angst, liebe Leserinnen und Leser, auch wenn die Überschrift wieder etwas mathematisch klingt, geht es in diesem Beitrag nicht in erster Linie um Zahlen, sondern eher um Mengen, und zwar um die Menge der Partizipien, die uns die einzelnen Sprachen zur Verfügung stellen. Diese kann nämlich durchaus unterschiedlich sein, sodass allein daraus schon Übersetzungsprobleme erwachsen.

Bietet nämlich das Deutsche lediglich zwei Formen, die praktischerweise auch noch als „Partizip I“ und „Partizip II“ bezeichnet werden, gibt es im Russischen gleich vier: das Partizip Präsens Aktiv, das Partizip Präsens Passiv, das Partizip Präteritum Aktiv und das Partizip Präteritum Passiv. Zählt man auch noch die Adverbialpartizipien der Gleichzeitigkeit und der Vorzeitigkeit hinzu, kommt man auf sechs grammatische Erscheinungen, die sich nur in seltenen Fällen mit deutschen Partizipien übertragen lassen.
Dennoch scheint die Versuchung groß zu sein, dies zu tun, wie der folgende Beispielsatz aus meiner Korrektoratspraxis beweist:


Darauf geht der sich in den 1980er-Jahren etablierte Begriff zurück.


Das Problem hierbei ist, dass es eben häufig nicht möglich ist, russische Partizipien (in diesem Fall das Partizip Präteritum Aktiv „устоявшийся“, das auch noch von einem reflexiven Verb stammt) mit einem Partizip ins Deutsche zu übertragen, wie es hier mit dem Partizip II versucht wurde. Dem steht, zumindest in unserem Beispiel, unter anderem die reflexive Endung im Weg. Hätte man den Satz umformuliert und eine Passivkonstruktion daraus gemacht, hätte man das Partizip II beibehalten können:


Darauf geht der seit den 1980er-Jahren etablierte Begriff zurück.


Möchte man jedoch darauf verweisen, dass sich der Begriff quasi von selbst etabliert hat, bleibt einem nur, sich mit einem Nebensatz zu behelfen: „Darauf geht der Begriff zurück, der sich in den 1980er-Jahren etabliert hat.“
Doch auch in nicht aus dem Russischen übersetzten deutschen Texten findet man mitunter derartige „Fehlkonstruktionen“. So findet man immer wieder einmal Hinweise auf „bereits stattgefundene Veranstaltungen“.
Während eine solche Formulierung im Russischen mit den entsprechenden Formen von „состоявшийся“ durchaus zulässig wäre, scheitert sie im Deutschen daran, dass „stattfinden“ ein intransitives Verb ist, also ohne (direktes) Objekt gebildet wird. Aus diesem Grund kann auch kein unpersönliches Passiv gebildet werden, wie es für den Gebrauch dieses Partizips in der Vergangenheit notwendig wäre.


Deshalb ist hier, wie in vielen anderen Fällen bei der Übersetzung der russischen Partizipien auch, dringend zu einem Relativsatz zu raten: „die Veranstaltungen, die bereits stattgefunden haben“. Möglicherweise liegt in der Verwendungshäufigkeit dieser Konstruktionen im Russischen und ihrem Fehlen im Deutschen auch eine Ursache dafür, dass die Übersetzungen russischer Texte im Deutschen in der Regel erheblich länger sind als die dazugehörigen Originale.


Carola Jürchott


www.lust-auf-geschichten.de