Nobody is perfect – Von Vollendetem und Unvollendetem


Wohl jeder, der Russisch als Fremdsprache bei einem Muttersprachler gelernt hat und selbst bis dato noch nicht mit einer slawischen Sprache konfrontiert gewesen war, hat früher oder später die Frage gestellt, wie man denn den vollendeten Aspekt eines Verbs vom unvollendeten unterscheiden könne, und hat zur Antwort einen Tipp erhalten, der die Sache für ihn nur noch rätselhafter machte: „Sie müssen doch nur fragen: ‚Что делать?‘ oder ‚Что сделать?‘“ Genau an dieser Stelle liegt nämlich der berühmte Hase im sprichwörtlichen Pfeffer. Wenn man nicht gewöhnt ist, in den Kategorien dieser Aspekte zu denken, stellt man diese Fragen erst gar nicht bzw. ist nicht in der Lage, sie für sich automatisch richtig zu beantworten. Deshalb ist das wahrscheinlich auch eine der Fehlerkategorien, an denen man Nicht-Muttersprachler des Russischen, so gut sie die Sprache auch beherrschen mögen, immer wieder erkennt: In einem langen Gespräch rutscht einem dann doch ungewollt irgendwann der falsche Aspekt heraus.


Gut und schön, mag nun der eine Leser oder die andere Leserin denken, aber was hat das mit dem Übersetzen ins Deutsche zu tun? Da stellt sich diese Problematik doch nicht. Nein, und das ist das Tückische: Man kann zwar im Deutschen nicht den falschen Aspekt gebrauchen, aber dennoch Aspektfehler machen, und zwar dann, wenn man das, was so eine Aspektform semantisch ausdrücken soll, beim Übersetzen vernachlässigt.
Das nämlich lernt man als Nichtmuttersprachler im Russischunterricht sehr wohl: Während der unvollendete Aspekt darauf hindeutet, dass etwas nicht abgeschlossen ist, gewohnheitsmäßig oder wiederholt getan wird und daher durchaus mehrmalig ist und bei Verwendung der Präsensform in der Gegenwart stattfindet, hat man es beim vollendeten Aspekt mit etwas zu tun, das bereits abgeschlossen ist, einmalig war und bei dem die Präsensform eine Futurbedeutung hat. Während beim unvollendeten Aspekt der Verlauf betont wird, interessiert beim vollendeten Aspekt das Ergebnis.


Wie aber soll man nun all das, was im Russischen allein durch die Aspektform des Verbs ausgesagt wird, in eine Sprache transportieren, die über diese grammatische Kategorie gar nicht verfügt? In der Vergangenheit kann man Glück haben, wenn man ein Verb, das im vollendeten Aspekt steht, mit der deutschen Perfektform wiedergibt. Allerdings ist auch das kein Allheilmittel.
Wichtig ist, sich genau klarzumachen, warum im jeweiligen russischen Satz der entsprechende Aspekt steht. So war der Standardsatz in dem Russisch-Lehrbuch, das mir als Schülerin die Aspekte nahebringen sollte, folgender:
Он долго решал задачу, но он её не решил.
In diesem Fall deutet bereits das Adverb „долго“ darauf hin, was mit dem unvollendeten Aspekt im ersten Satzteil ausgesagt werden soll, nämlich die Betonung des Verlaufs der Handlung. Was sich sonst noch hinter diesem Satz verbirgt, muss man beim Übersetzen wohl oder übel explizieren. Eine Möglichkeit wäre die folgende:


„Er hat lange versucht, die Aufgabe zu lösen, doch es ist ihm nicht gelungen.“
Eine andere Bedeutung des unvollendeten Aspekts ist die Wiederholung. So kann aus „Ты рассказывала мне свои секреты“ in der Übersetzung beispielsweise „Du hast mir immer deine Geheimnisse erzählt“ werden.
Ein Beispiel für die Verwendung des vollendeten Aspekts liefert uns ein im Russischen bekannter Phraseologismus:
„Я тебе покажу, где раки зимуют!“
Im Deutschen gibt es ebenfalls mehr oder weniger scherzhafte Drohungen dieser Art. Auch hier hat der erste Satzteil eine Futurbedeutung, die allerdings eindeutig verbalisiert wird:
„Dir werd‘ ich zeigen, was ’ne Harke ist!“


Natürlich ist es nicht möglich, im Rahmen eines Blogbeitrags alle Möglichkeiten auszuloten, die sehr komplexe Bedeutung der russischen Aspekte im Deutschen wiederzugeben. Wichtig ist jedoch in jedem Fall, sich die implizierte Semantik zu verdeutlichen, um diese im Deutschen mit den Mitteln, die uns diese Sprache bietet, entsprechend sichtbar zu machen.


Carola Jürchott
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