Nobody is perfect – Von Vollendetem und Unvollendetem


Wohl jeder, der Russisch als Fremdsprache bei einem Muttersprachler gelernt hat und selbst bis dato noch nicht mit einer slawischen Sprache konfrontiert gewesen war, hat früher oder später die Frage gestellt, wie man denn den vollendeten Aspekt eines Verbs vom unvollendeten unterscheiden könne, und hat zur Antwort einen Tipp erhalten, der die Sache für ihn nur noch rätselhafter machte: „Sie müssen doch nur fragen: ‚Что делать?‘ oder ‚Что сделать?‘“ Genau an dieser Stelle liegt nämlich der berühmte Hase im sprichwörtlichen Pfeffer. Wenn man nicht gewöhnt ist, in den Kategorien dieser Aspekte zu denken, stellt man diese Fragen erst gar nicht bzw. ist nicht in der Lage, sie für sich automatisch richtig zu beantworten. Deshalb ist das wahrscheinlich auch eine der Fehlerkategorien, an denen man Nicht-Muttersprachler des Russischen, so gut sie die Sprache auch beherrschen mögen, immer wieder erkennt: In einem langen Gespräch rutscht einem dann doch ungewollt irgendwann der falsche Aspekt heraus.

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„Aus der Stille kommt das Wort“ – eine Rezension des Erzählbands „Gesammelte Scherben“

von Ida Häusser

„Aus der Stille kommt das Wort.“ So beginnt eine Geschichte aus Melitta L. Roths GESAMMELTE SCHERBEN. Ja, man muss sich Zeit nehmen, sie zu lesen, und die Stille um sich herum am besten mit dazu. Man muss sich auf die Textbruchstücke einlassen – und wird reich belohnt. Sie erzählen so viel.

Die Geschichten folgen keinem roten Faden. Es ist eine Collage aus Zufällig-Gefundenem und Streng-Gehütetem, aus Achtlos-Fallengelassenem und Mutwillig-Zertrümmertem, feines Porzellan aus der Familientruhe neben schwerem Steinzeug der Dorfleute – alles in tausend Öfen gebrannt. Eleganter Silberrand neben Unheilverheißungen, zarte Rosenranken auf rabenschwarzen Vorahnungen, Surreales mit Blümchenmuster neben dem allzu realen Schnurbart-Konterfei auf den Etiketten der zerschlagenen Wodka-Flaschen. Nichts passt zu einander und doch, und doch: Es ist Teil des Ganzen, des Trümmerfeldes der Russlanddeutschen Geschichte.

„Kintsugi“ heißt eine der literarischen Miniaturen, sie beschreibt die japanische Kunst, zerbrochene Teile beim Zusammensetzen mit Gold zu kitten. Schön wär’s! Die russlanddeutschen Schicksale lassen sich nicht kitten, mit keinem Gold der Welt.

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Buchtipp: „Wie Schatten werden“, Gediche von Lilli Gebhard

Die Biografien unserer Eltern und Großeltern bestimmen unsere Handlungen und Wahrnehmungen auf einer ganz tiefen inneren Ebene. Wenn wir uns unsere Geschichten erzählen würden, fänden wir vielleicht Auswege aus den sich wiederholenden Szenarien. Und vielleicht fänden wir trotz aller Differenzen zueinander. Lilli Gebhard öffnet mit ihren Gedichten einen Raum für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Sie verharrt eine Weile in der Betrachtung des Grauens, spannt dann aber einen Bogen zur Hoffnung und schafft Bilder, in die man sich mit seiner ganz eigenen Geschichte hineinschreiben kann. Inspiriert wurde sie zu dieser Gedichtsammlung durch die Auseinandersetzung mit Texten von russlanddeutschen Mennoniten im Rahmen ihrer Dissertation. In vielen Berichten stieß sie auf leidvolle Lebensgeschichten. Offen blieben allerdings Momente von Trauer, in denen das Erlebte durchfühlt und verarbeitet werden konnte. Dieser emotionalen Seite der Aufarbeitung spürt sie in ihren Gedichten nach.

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Nelly Däs, eine der bekanntesten russlanddeutschen AutorInnen, ist am 18. April 2021 verstorben

(c) Foto: Nina Paulsen

Wir verneigen uns vor ihrer Lebensleistung!

Nelly Däs, geb. am 8. Januar 1930 als Nelly Schmidt in der deutschen Siedlung Friedenstal in der Ukraine, machte sich bereits in den 70er-Jahren einen Namen als erfolgreiche Erzählerin. In der Zeit ihrer aktiven schriftstellerischen Tätigkeit, etwa von 1968 bis 2002, veröffentlichte sie elf Bücher mit russlanddeutschem Themenbezug. Zwei Bücher von ihr wurden ins Englische übersetzt. Ihr großes Anliegen und Ziel war es, die hierzulande kaum bekannte, leidvolle Geschichte der Sowjet- bzw. Russlanddeutschen an die breite Öffentlichkeit zu tragen. Sie hielt zahlreiche Vorträge und Lesungen in Schulen, öffentlichen Einrichtungen sowie im Rahmen von diversen Tagungen und Konferenzen. Am Beispiel ihrer persönlichen, zäsurreichen Familiengeschichte, aber genauso der vielen anderen Familiengeschichten, die sie in ihren Büchern verarbeitet hatte, konnte sie an die Lesenden und Zuhörenden das Schicksal ihrer Ethnie auf eine genauso unterhaltsame wie plausible Art und Weise vermitteln.

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Die Negation der Negation


Von der Notwendigkeit eines Perspektivwechsels beim Übersetzen war an dieser Stelle schon häufiger die Rede, davon, dass ein „nicht“ jedoch nicht immer in der anderen Sprache auch „nicht“ bedeutet, jedoch noch nicht. Dies bitte ich jedoch unbedingt nur grammatisch aufzufassen und nicht etwa in Zusammenhang mit derzeit aktuellen Diskussionen zu bringen.
Mir geht es – wie immer in diesem Blog – um die rein sprachliche Seite, und bei dieser stoßen deutsche Muttersprachler schon an die ersten Grenzen, wenn sie im Russischunterricht lernen, dass Negativpronomen und Negationspartikeln, die mit „ни-“ beginnen, auch noch die Negation des Verbs erfordern. Das ist zunächst sehr gewöhnungsbedürftig, weil man ja schließlich im Deutschunterricht gelernt hat, dass eine doppelte Verneinung eine Bestätigung bedeutet.

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Buchtipp: Roman „Die Stille bei Neu-Landau“ von Katharina Martin-Virolainen

Salat „Olivier“ zu Feiertagen, russische Musik im Auto oder Vaters geliebte Jogginghose-Kollektion: All das hätte Julia als Kind am liebsten aus ihrem Leben verbannt. Die krampfhaften Versuche, ihre Eltern „umzuerziehen“, sind immer wieder kläglich gescheitert. Trotz ihrer Anstrengungen, sich bestmöglich anzupassen, stellte Julia immer wieder fest, dass sie und ihre Familie anders sind – und es immer bleiben werden. Im Erwachsenenalter gerät Julia erneut in eine Identitätskrise und beschließt, für eine Weile zu ihren Eltern aufs Land zu ziehen. Unter den alten Sachen ihrer bereits verstorbenen Großmutter stößt sie auf einen leeren Umschlag, der Fragen zu ihrer Familiengeschichte aufwirft. Julia wendet sich an ihre Großtante Margarethe und stellt plötzlich fest, dass sie so gut wie nichts über das dornenreiche Leben ihrer Großmutter weiß. „Die Alten reden nicht, die Jungen hören nicht zu“ – der auf dieser Aussage basierende Generationenkonflikt dauert in vielen russlanddeutschen Familien seit Jahrzehnten an. Der Roman „Die Stille bei Neu-Landau“ möchte dazu beitragen, diese unsichtbare Mauer zwischen den Generationen zu durchbrechen und beide Seiten einander näher zu bringen.

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Buchtipp: „70 TEUFLISCHE DETAILS“ von Carola Jürchott

Tipps zum Umschiffen sprachlicher Klippen auf dem Weg vom Russischen ins Deutsche

Der Druckfehlerteufel – wer kennt ihn nicht? Er ist der ständige Begleiter von Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzern, Lektorinnen und Lektoren und natürlich Korrektorinnen und Korrektoren. Gehört man einer dieser Zünfte an, fürchtet man jeglichen Schnitzer wie der Teufel das Weihwasser. Doch nicht nur die Druckfehler machen uns zu schaffen, auch grammatische, lexikalische und sonstige Fehler können uns sozusagen in Teufels Küche bringen. Ohne den Teufel an die Wand zu malen, kann man konstatieren, dass das Wohl und Wehe eines guten Textes auch davon abhängt, ob er korrekt und stilsicher formuliert ist. Hierbei steckt natürlich, wie so oft, der Teufel im Detail. Das vorliegende Buch soll allen, die mit Texten zu tun haben, kleine Hilfestellungen geben, um 70 dieser Klippen zu umschiffen, denn dann müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn nicht auch aus dem besten Text ein noch besserer werden könnte. Ein absolutetes Muss für jede(n), die/der nicht in Fettnäpfchen treten möchte.

70 TEUFLISCHE DETAILS von Carola Jürchott. Tipps zum Umschiffen sprachlicher Klippen auf dem Weg vom Russischen ins Deutsche

ISBN 978-3-947270-12-5, Softcover, 144 S., Preis: 11,- EUR

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Warum Urheberrechte nicht nur Autorenrechte sind

Keine Angst, liebe Leserinnen und Leser, dieser Blog soll nicht mit einer Rechtsberatung ins neue Jahr starten, es geht weiterhin um sprachliche Feinheiten und den Teufel, der auch hierbei wieder im Detail steckt.In Texten, die aus dem Russischen übersetzt wurden, liest man häufig den Begriff der „Autorenrechte“, mit denen jedoch in Wirklichkeit die „Urheberrechte“ gemeint sind. Diese sind im deutschen „Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte“ (Urheberrechtsgesetz) geregelt, und im § 7 ist eindeutig definiert, was ein Urheber ist: „Urheber ist der Schöpfer des Werkes.“ Für denjenigen, der im russischen Sprachraum zu Hause ist, ist völlig klar, wer damit gemeint ist: der „автор“.

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„Ein ganzer Mann“ von Melitta L. Roth (Leseprobe)

Kurzgeschichte aus dem Buch „Gesammelte Scherben“

–  Ach komm, nur ein Schlückchen!

–  Nur ein kleines Gläschen, das schadet doch nicht. Wodka tötet alle Bakterien, das weiß man doch!

–  Auf unsere Freundschaft.

–  Auf deine Frau.

–  Auf alle unsere Frauen. Was für Schönheiten ihr doch seid!

–  Auf uns!

–  Auf die Gesundheit. Was, du willst noch nicht mal auf meine Gesundheit trinken, das nehme ich dir übel, mein Freund, sehr übel.

Wenn du in Russland oder auch in Sibirien – oder im fernen Osten wie Kolyma oder Kamtschatka – als Frau ein Gläschen ablehnst, wird es nach einigen nervigen Frageattacken irgendwann akzeptiert. Als Mann hast du keine Chance. Du wirst so lange überredet, dass es fast an Nötigung grenzt. Das hat sich in den letzten Jahren möglicherweise geändert, seit die Gesetze strenger geworden sind und es ab 23 Uhr nichts Hochprozentiges mehr zu kaufen gibt und jetzt sogar Bier per Gesetz zu einem alkoholischen Getränk erklärt worden ist. Doch vor über als vierzig Jahren standest du hinter dem Eisernen Vorhang als ein abstinenter Mann auf verlorenem Posten.

Damals befand sich Otto Adolfowitsch Reimer in der Blüte seiner Jahre. Er arbeitete als Ingenieur in einem Chemiewerk einer größeren sibirischen Stadt, war verheiratet. Und trank nicht. Auch später nicht. Genau genommen rühmte er sich, bis zu seinem 53. Lebensjahr keinen Tropfen angerührt zu haben. Nicht bei seiner eigenen Hochzeit, nicht bei Beerdigungen, und noch nicht einmal, um die Geburt seiner beiden Töchter zu begießen. Er blieb im Land des personifizierten Wodka-Klischees stets abstinent, und das will schon was heißen.

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Online-Vorstellung des Literaturalmanachs 2020 – „Fremd unter seinesgleichen“

Wie fühlt sich Entwurzelung an? Wie ist es, fremd zu sein – auch unter den vermeintlich eigenen Leuten? Solche Empfindungen erleben zugegebenermaßen nicht nur Aussiedler und Aussiedlerinnen. Dennoch ist ihnen Heimatverlust und Entwurzelung seit Generationen bekannt. Sie wissen, wie es ist, sich immer wieder in einer fremden Umgebung verorten und behaupten zu müssen.

Lesung und Diskussion mit Ira Peter, Melitta Roth, Artur Rosenstern und Prof. Dr. Annelore Engel-Braunschmidt | Moderiert von Dietmar Schulmeister

Im Oktober 2020 feierte der Literaturkreis der Deutschen aus Russland ein markantes Jubiläum – sein 25-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass präsentierte die Redaktion des Literaturkreises die Jubiläumsausgabe des Literaturalmanachs mit dem Titel „Fremd unter seinesgleichen.“ Zwischen seinen Buchdeckeln versammelt er ein Mosaik aus Lyrik, Prosa, biografischen Texten und Rezensionen kürzlich erschienener Bücher und gibt damit einen wesentlichen Überblick über die russlanddeutsche Literaturszene.

Lesung ansehen (vom 10.12.2020)

Gemeinsame Veranstaltung der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus und der LmDR Nordrhein-Westfalen. Das Angebot wurde durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW gefördert.

Die Publikation wurde herausgegeben in Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland.