Das Magische und das Reale in Sibirien und Kasachstan nach dem Zweiten Weltkrieg

Heinrich Rahn, Die Birkeninsel. Roman. Geest – Verlag. Vechta – Langförden, Deutschland. 2018. 404 Seiten.

Die Birkeninsel ist der dritte „utopisch-phantastische“ Roman von Heinrich Rahn. Schon 2008 erschien im Geest-Verlag sein erster Roman Der Jukagire, in dem in einer Folge von „mythischen Symbolen“ das Schicksal des Waisenjungen Ivan Nickel in der düsteren Atmosphäre der sowjetischen Stalinzeit verdeutlicht wird (siehe die Besprechung im LOG – Heft 123/2009). Der Sohn einer Frau aus dem Nomadenvolk der Jukagiren flieht aus einem sibirischen Straflager und versteckt sich jahrelang in der Taiga, wo er sich in einen Schamanen verwandelt. Auch im Rahns zweiten Roman Aufzug Süd-Nord aus dem Jahr 2011, der im gleichen Verlag erschien, geht es nicht mit rechten Dingen zu (siehe die Besprechung im LOG – Heft 135/2012). Im Spiel sind außerirdische Intelligenzen, die, um auf der Erde zu überleben, in den vorhandenen menschlichen Körpern aus losen Schwärmen feste Substanzen bilden. Sie versuchen die charakterlich schwachen Menschen ethisch und geistig zu verbessern, was ihnen aber nicht gelingt. Der Autor vermischt die realistische Ebene seiner menschlichen Protagonisten mit der Hauptfigur des Ingenieurs Andrej Renn mit vielen mystisch und esoterisch anmutenden Elementen. „Das Magische und das Reale in Sibirien und Kasachstan nach dem Zweiten Weltkrieg“ weiterlesen

„Meine Herzenswunde blutet …“

In Erinnerung an Dominik Hollmann – zum 120. Geburtstag

von Nina Paulsen

Wie lange soll der Frost noch dauern? / Wann scheint die Sonne warm und mild? / Wann darf auf heimatlichen Auen / mein Volk vereint ich wieder schauen – / des Sehnsuchtstraumes süßes Bild.

(c) Privatarchiv R. Bender

In diese Zeilen aus seinem Gedichtzyklus „Meine Herzenswunde blutet…“ hat Dominik Hollmann seinen ganzen Herzensschmerz über die erniedrigende und rechtlose Lage seiner Volksgruppe gelegt. Das Problem der Gleichberechtigung der Russlanddeutschen in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg hat den anerkannten Prosaschriftsteller und Lyriker, Essayisten und Publizisten, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Zeit seines Lebens beschäftigt. Er hatte nie aufgehört, den Anspruch der Russlanddeutschen auf diese Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen einzufordern.

Dominik Hollmann kam am 12. August 1899 in Kamyschin/Wolga zur Welt. Die Mutter (an seinen Vaters konnte er sich nicht erinnern) hielt die Familie als Waschfrau, Näherin oder Magd mit Müh und Not übers Wasser. So sah sich auch Dominik ganz früh auf sich selbst gestellt. Die städtische Vierklassenschule und ein Lehrerkurs in Kamyschin, den er 1916 abschloss, war die erste Station auf dem Weg zum ersehnten Lehrerberuf. Schon mit siebzehn begann seine Lehrtätigkeit – zuerst in der deutschen Kirchenschule in seiner Heimatstadt, später in Rothammel, Erlenbach und Marienfeld. Als in Engels 1928 die Deutsche Pädagogische Hochschule eröffnet wurde, war Hollmann bereits Oberhaupt einer sechsköpfigen Familie – ein Direktstudium kam vorerst nicht in Frage. Nach zwei Jahren Fernstudium an der Moskauer Staatsuniversität, setzte er 1932-1935 seine Ausbildung an der Deutschen Pädagogischen Hochschule in Engels fort. Danach war er sechs Jahre Dozent und Dekan des Fachbereichs für deutsche Sprache und Literatur an derselben Hochschule.

D. Hollmann mit Schriftstellerkollegen (c) Privatarchiv von R. Bender

Bereits während des Studiums und in der Folgezeit trat Hollmann als Autor, Übersetzer, Nachdichter und Lehrbuchverfasser hervor. Seit 1923 schrieb der junge Dorflehrer Berichte für die Zeitung „Nachrichten“, bald auch Kurzgeschichten über das Dorfleben. In den 1930er Jahren veröffentlichte er Gedichte, Kurzerzählungen und Kritiken in der deutschen Presse. Hollmann verfasste außerdem Lehrbücher der deutschen Grammatik für Schulen, stellte ein Lesebuch für Erwachsene zusammen, machte zahlreiche Übersetzungen aus dem Russischen für den Deutschen Staatsverlag und wirkte aktiv im Schriftstellerverband der ASSR der Wolgadeutschen mit. 1940 wurde er in den Schriftstellerverband der UdSSR aufgenommen. „„Meine Herzenswunde blutet …““ weiterlesen

Auf der Suche nach einem verlorenen Schatz – Zum Roman „Die Insel der Fünfer-Bande“ von Max Schatz

Max Schatz  wurde 1981 in der russischen Stadt Tscheljabinsk geboren und kam im Alter von elf Jahren nach Deutschland, wo er nun in Bayern lebt. Nach der Fachhochschulreife 2003 studierte er Elektro- und Informationstechnik in Nürnberg.  Bereits mit zehn Jahren startete er seine ersten Schreibversuche. In seinen ersten Jahren in Deutschland schrieb er einen Roman, in dem er anhand fiktiver Ereignisse seine Kindheit im Südural thematisierte sowie diese Jahre in Deutschland und die Versuche, sich an diese für ihn neue Welt anzupassen, was nicht so einfach war.

In einem Verlag im sibirischen Nowokusnezk, der einen Wettbewerb für Autoren ausgerufen hatte, erschien vor kurzem nun sein erster Abenteuerroman „Die Insel der Fünfer-Bande“ auf Russisch, der nach Angaben des Autors nichts Autobiografisches hat. Max Schatz hatte jedoch einen Teil seiner Kindheit in der Stadt Schitiqara verbracht, dort hatte er auch begonnen über die Abenteuer der fünf Viertklässler zu schreiben. Im Buch starten sie genau von dieser Stadt in Kasachstan aus eine Schatzsuche und finden nach langer Suche in einer Hölle zwei Kisten mit Schätzen aus der Zeit des Batu Khan, die sie zu Millionären machen. Nun haben sie die Möglichkeit, ihren Traum von einer eigenen Insel in einem See zu verwirklichen, ein Haus nach ihrem Geschmack darauf bauen zu lassen und weitere Abenteuer zu erleben. Einer der Helden namens Boris erblickt ein UFO, und es kommt zum freundschaftlichen Kontakt mit einem Außerirdischen vom Planeten Sons.

Der Kontakt zu irdischen Jungs aus einem Dorf am Ufer des Sees klappt dagegen weniger gut. Mit ihrem Anführer Philipp spionieren sie die Fünfer-Bande aus, okkupieren ihre Privatinsel „Vera“ bis zu den nächsten Ferien. „Auf der Suche nach einem verlorenen Schatz – Zum Roman „Die Insel der Fünfer-Bande“ von Max Schatz“ weiterlesen

Als hätte sie fünf Leben gelebt …

Zur Neuerscheinung des Romans „In den Fängen der Zeit“ von Nelli Kossko (Verlag ratio-books), eine Rezension von Artur Rosenstern

„Ich weiß, es ist grausam, ein kleines Mädchen wie dich in all diese schrecklichen Dinge einzuweisen, aber ich habe sonst niemanden, mit dem ich mein Leid teilen könnte. Vergib mir, mein Kind!“ (…) Wir machten in dieser Nacht kein Auge zu, und als es dann zu dämmern begann, verließ Mama mit einem kleinen Bündel über der Schulter das Dorf. Ich hasste die NKWD-Leute, zu denen sie jetzt ging, den Kommandanten, den Krieg, die Russen und die Deutschen, ich hasste die ganze Welt und mich selber am meisten, denn schließlich war ich an allem schuld …“

Emmi Wagner ist noch keine zehn Jahre alt. Sie lebt in einem kleinen ländlichen Ort bei Kostroma in Russland. In einem Verbannungsort, wie es so viele während des Zweiten Weltkrieges und der Jahre danach gab – für einige Minderheiten, die sich der Kollaboration mit dem faschistischen Deutschland auch nur verdächtig gemacht hatten, für politische und sozial „unzuverlässige Elemente“, für Gefangene jeglicher Couleur, kurzum für Volksverräter, als die man sie zuweilen unvermittelt beschimpfte. Emmi lebt dort … nein, fristet ihr Leben und hungert zusammen mit ihrer Mutter. Der Vater wurde direkt nach Emmis Geburt in den 30er-Jahren aufgrund einer fadenscheinigen Anklage vom allseits gefürchteten NKWD abgeführt und ist nie wieder zurückgekommen. Später erfahren wir: Er wurde erschossen. Zwei ältere Brüder von Emmi gelten als verschollen. Die Mutter hat sie während der Verschleppung aus ihrer Heimat bei Odessa verloren – im durch ein Bombardement hervorgerufenen Chaos. „Als hätte sie fünf Leben gelebt …“ weiterlesen

Die weinenden Steine der Zeit

Gedanken zum Schaffen von Wendelin Mangold

(c) privat

Das Gefühl, die Zeit läuft einem weg, kennt jeder. Wie oft rennt man ihr vergebens hinterher, weil man den richtigen Moment, mit ihr Schritt zu halten, redlich verpasst hat. Sie zu stoppen, wäre absoluter Unsinn, der offensichtlich zu einem Weltchaos führen würde. Aber man kann es versuchen, ihr etwas voraus zu sein, sie zu prognostizieren, sich durch ihre Bestimmtheit inspirieren zu lassen.
Wendelin Mangold, der sich als namhafter Dichter, Schriftsteller und Übersetzer in unserer russlanddeutschen gegenwärtigen Literatur bewiesen hat, lernte es, mit der Zeit, in die er hineingeboren ist, eine unvergängliche und beschwörende Verbindung herzustellen. Er ist mit ihr per du – foppt und neckt sie manchmal, nimmt aber auch mit dankendem Handkuss ihre reizenden Augenblicke, mit denen sie ihn liebevoll beschenkt, in sich auf. Dann schweben ihm Bilder vor, die ihm die Welt ganz spontan von einer aufreizenden Seite erscheinen lassen und seiner empfindlichen Dichterader neue Formen und Farben verleihen:

Von unten nach oben geschaut,
pinseln die Baumwipfel
den Himmel blau.

In seiner Spontanität verhüllt der Dichter alltägliche Erscheinungen in ein lyrisches Tuch aus Irrealität, die seiner Fantasie freies Wortspiel lassen. Locker und ungezwungen bewegt sich Wendelin Mangold im unendlichen Labyrinth der Wörter, die er behutsam mit seinen Gefühlen mischt und aufs Papier überträgt. In seiner Zielstrebigkeit, der Zeit gerecht zu bleiben, versucht er sich in allen literarischen Genres und schreibt zu allen möglichen Themen. Seine Gedichte, von lyrischen bis explosiven, sind übersät mit sprunghaften Epithetons und ähneln häufig einer Einladung zur Diskussion „über das, was vor uns war und über das, was noch bevorsteht“: „Die weinenden Steine der Zeit“ weiterlesen

„Im letzten Atemzug“ – das erste Buch von Katharina Martin-Virolainen ist erschienen

„Heimat kann überall sein. Wir entscheiden mit unserem Herzen, wo diese ist.“

Eine Rezension von Nina Paulsen

Das Zitat ist die zehnte Lektion aus der Geschichte „Zehn Lektionen der Integration“, mit der Katharina Martin-Virolainen ihr Buch „Im letzten Atemzug“ abschließt, das kurz vor der Leipziger Buchmesse 2019 im OSTBOOKS Verlag erschienen ist. Dass diese Erkenntnis, wie viele andere auch, verschlungene Wege hatte – davon handelt das Erstlingswerk der jungen Autorin und zweifachen Mutter aus Eppingen. Das Buch ist eine Sammlung von meist autobiografisch angehauchten Kurzgeschichten aus den Jahren 2015 bis 2018, die sich in ihrer Gesamtheit mit der tragischen Geschichte und der komplexen Identitätsfindung der Russlanddeutschen beschäftigen.

Schreiben und „Geschichten erzählen“ ist eine der Leidenschaften von Katharina Martin-Virolainen. In den letzten Jahren hat sie journalistische und literarische Beiträge auf Deutsch und Russisch in diversen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. „Ich schreibe gerne über geschichtliche, kulturelle, politische und gesellschaftliche Themen. Mir macht es Spaß, meine Gedanken kreativ im Schreiben zu verarbeiten, durch meine Beiträge Menschen zum Nachdenken, vielleicht sogar Umdenken, anzuregen, auch manchmal ein wenig zu provozieren und dadurch Diskussionen auszulösen“, sagt sie. Ihre Kurzerzählung „Und wenn die ersten Schneeflocken auf unser Land fallen“, in der sie die Erinnerungen an die Kindheit reflektiert, landete auf Platz 3 des bekannten bundesweiten Literaturwettbewerbs, der vom Bonner Institut für Migrationsforschung und Interkulturelles Lernen im Jahr 2017 veranstaltet wurde. Sie ist in einem Sammelband des Instituts bereits einmal erschienen.

Als Autorin hat Katharina inzwischen einen festen Platz im Literaturkreis der Deutschen aus Russland e.V. gefunden. Sie nahm mehrfach an Lesungen teil und hat die Zuhörer zum Weinen und Lachen mit ihren Erzählungen gebracht, in denen sie ihre Erlebnisse in Kasachstan, Karelien und Deutschland verarbeitet hat. Mit Erkenntnis- und Gefühlsbeschreibungen, die in ihren Geschichten zum Ausdruck kommen, spricht sie vielen Landsleuten ihrer Generation, aber ebenso älteren Russlanddeutschen, aus der Seele. „Eine Frau hatte Tränen in den Augen, als sie auf meine Geschichte über meine Kindheitserinnerungen an Kasachstan einging. Sie sagte: Das ist genau das, was ich auch fühle ...“, erinnert sich Katharina an eine Lesung.

So will sie auch mit ihrem Buch und den Geschichten (zwei davon aus dem Russischen ins Deutsche von Carola Jürchott und Wendelin Mangold übersetzt) den unzähligen russlanddeutschen Schicksalen eine Stimme geben. Schon der erste Blick bleibt am Buchcover mit dem einprägsamen Bild des russlanddeutschen Künstlers Nikolaus Rode „Frauen und Kinder in Sibirien“ hängen. Das Werk von Nikolaus Rode (geb. 1940) ist ebenfalls untrennbar verknüpft mit seiner Lebensgeschichte, die von Krieg, Flucht, Deportation, Diskriminierung und dem Leid, den diese mit sich ziehen, gezeichnet ist.

Die tiefere Bedeutung des Motivs und seine Verbindung zum Buch erschließt sich in der Geschichte „Im letzten Atemzug“, die dem Buch den Namen gibt, die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und „In Erinnerung an Elisabeth und Hans Thiessen. Damit Eure Namen nicht vergessen werden“ entstanden ist. Das Schicksal von Liesel (Elisabeth) Thiessen, einst beschrieben im Roman „Alles kann ein Herz ertragen“ von Charlotte Hofmann-Hege, hatte Katharina ungemein berührt und sie lange Zeit danach beschäftigt. Es sorgte gleich für eine Wende in ihrem Denken und Handeln und war der Auslöser für die Titelgeschichte – beschreibt die Autorin in dem Nachtrag „Zur Entstehung von ‚Im letzten Atemzug‘ oder Wie alles begann“. „„Im letzten Atemzug“ – das erste Buch von Katharina Martin-Virolainen ist erschienen“ weiterlesen

„Die Kist‘ von der Wolga“ macht das Schicksal der Wolgadeutschen „flüssig“

Maria und Peter Warkentin auf den Spuren des literarischen Erbes der Russlanddeutschen

 von Nina Paulsen

Das literarisch-szenische Schauspiel „Die Kist‘ von der Wolga“ mit Maria und Peter Warkentin vom Russland-Deutschen Theater Niederstetten erzählt die Geschichte der Wolgadeutschen von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zu den tragischen Entwicklungen mit Deportation und Ausbeutung im 20. Jahrhundert. Das Bühnenstück ist anlässlich des 100. Jahrestags der Gründung der deutschen Autonomie an der Wolga 2018 entstanden, inhaltlich speist es aus den überlieferten Werken – überwiegend wolgadeutscher Autoren, die am eindrucksvollsten die wichtigsten Meilensteine bzw. Ereignisse der wolgadeutschen Geschichte markieren und den Geist verschiedener Zeitläufte im Wolgagebiet einfangen. Eine verkürzte Fassung unter dem Titel „Das Lied vom Küster Deis“ zeigten Maria und Peter Warkentin zum ersten Mal öffentlich bereits vor drei Monaten beim Kulturfest der Landsmannschaft in Regensburg. Am 1. Dezember 2018 hatte „Die Kist‘ von der Wolga“ eine Premiere im Amtshaus Oberstetten, dem Sitz des Russland-Deutschen Theaters Niederstetten.

(c) Foto: Inge Braune

Das Bühnenstück „Die Kist‘ von der Wolga“ basiert auf sechs überlieferten Werken, die Maria und Peter Warkentin (frühere Schauspieler des Deutschen Schauspieltheaters Temirtau/Alma-Ata) meisterhaft ineinander verflechten und inszenieren. „Eine Handvoll Schriftsteller, die kaum einer kennt. Und Schicksale von Aus- und Einwanderern, die keiner kennt. Mit einem literarisch-szenischen Schauspiel nahmen Maria und Peter Warkentin vom Russlanddeutschen Theater die Zuschauer im Amtshaus Oberstetten mit auf eine lange und emotionsgeladene Reise. Die Premiere wurde begeistert beklatscht:  Mit der Kist’ von der Wolga machen Maria und Peter Warkentin russlanddeutsche Literatur flüssig – und das Schicksal der Wolgadeutschen“, schrieb dazu Michael Weber-Schwarz in den „Fränkischen Nachrichten“. „„Die Kist‘ von der Wolga“ macht das Schicksal der Wolgadeutschen „flüssig““ weiterlesen

Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung

Dokumentation zum internationalen wissenschaftlichen Kolloquium an der Universität Gießen erschienen

Die Ende 2018 erschienene Publikation „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“ (Okapi Verlag, Band I) basiert auf Forschungsbeiträgen und Werkanalysen im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums „Literatur und Gedächtnis. Zur Inszenierung von Erinnerung in der Literatur der Russlanddeutschen vor und nach 1989“ (Leitung: Prof. Dr. Carsten Gansel, Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik) am Germanistischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen im September 2014. Die Teilnehmer – Literaturwissenschaftler und Forscher aus mehreren Ländern – gingen dabei der Frage nach, ob und inwiefern sich die leidvolle Erfahrung der Russlanddeutschen in ihrer Literatur niedergeschlagen hat.

Der vorliegende Band (Hg. von Carsten Gansel) stellt die Literatur der „Sowjetdeutschen“ (so die Bezeichnung bis zur Auflösung der Sowjetunion 1991) bzw. der Russlanddeutschen in den Mittelpunkt – in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung nach wie vor ein viel zu wenig beachteter Bereich. Bis in die 1980er Jahre fand das Schicksal der Russlanddeutschen (Lebenserfahrungen der Zwischenkriegszeit und erlittenes Leid, Deportation oder Zwangsarbeit unter Stalin sowie die lange aufrecht erhaltene Entrechtung nach 1945) kaum Eingang in die literarischen Texte ihrer Autoren.

Die Aufsätze machen deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die Literaten in der Sowjetunion vor 1989 zu kämpfen hatten, wenn sie eigene Erfahrungen oder die der Volksgruppe literarisch darstellen wollten. Fernerhin fragen die literatur-kritischen Betrachtungen und Textanalysen russlanddeutscher Erzählungen und Romane nach der Rolle der Sprache für die Identität der Russlanddeutschen und beschäftigen sich mit Aspekten des kollektiven Gedächtnisses und der Rolle der Erinnerung in diesem Prozess. „Angesichts des Schicksals der Russlanddeutschen spielt für ihre literarische Identität – das sei nochmals betont – das ‚Prinzip Erinnerung‘ eine gewichtige Rolle“, schlussfolgert Gansel.

Im Teil I erfolgt die historische Annäherung an das Thema „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“. „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“ weiterlesen

Sehnsucht nach der fernen Kindheit

Monika J. Mannel und Agnes Gossen blicken in einem Buch auf ihre ersten Jahre zurück. Dabei spielt der Dialekt eine wichtige Rolle.

Von Ebba Hagenberg-Miliu, 03.11.2018

Ängstlich stehen die beiden kleinen Mädchen in den 1950er Jahren im rheinischen Lebensmittelladen. Die dicke Frau an der Theke schüttelt den Kopf. Ob denn ihre Mama nicht wisse, dass sie schon den letzten Einkauf nicht bezahlt habe, seufzt die Verkäuferin zu den Kindern hinunter. „Sag dingem Vate, er soll net so vell sufe, dan is och Jäld do“, spielt die Dicke auf die Familiensituation der Mädels an. Woraufhin Maria, die Ältere, jämmerlich zu weinen beginnt – und die Ware doch noch erhält, genau wie es die Mutter geplant hatte. „Dat es dat letzte Mol“, droht die Dicke zwar. Aber Maria stürzt nebst Ware und Schwesterchen wieselflink aus dem Laden.

„Wir waren halt ärm Lücks Pänz, armer Leute Kinder“, sagt die Lengsdorfer Autorin Monika J. Mannel, die als ausgebildete Poesiepädagogin seit 1997 die „Kreative Schreibwerkstatt Bonn“ leitet. Die plastisch und humorvoll beschriebene Szene stammt aus ihrem neusten Buch, aus dem sie mit ihrer Co-Autorin Agnes Gossen auf Lesereise ist. Aus Einblicken in Mannels Jugend in Lengsdorf besteht die eine Hälfte des Buchs „Kindheiten in Deutschland und Russland“, aus Momentaufnahmen ihrer Schreibwerkstatt-Kollegin Gossen die andere. Die wuchs nämlich zur selben Zeit in einer russlanddeutschen Familie in der damaligen Sowjetunion auf, kam 1989 nach Deutschland und arbeitet seither als Bibliothekarin an der Universitätsbibliothek Bonn. Ihre Kindheitsszenen spielen ebenfalls im Dorf, aber eben nicht in einem der Adenauer-Ära am Rhein, sondern im nachstalinistischen Russland. In dem versucht die deutsche Minderheit, irgendwie dann doch ihre Sprache zu erhalten. „Jret kocke“ bedeutete da „Grütze kochen“, „wajchschmiete“ sagte die Großmutter für „wegschmeißen“, erinnert sich Gossen. „Sehnsucht nach der fernen Kindheit“ weiterlesen

Neuer Lyrikband „Rum & Ähre“ von Andreas A. Peters erschienen

Achtung! Seien Sie bloß vorsichtig, hier ist es gefährlich! Lesen Sie diese Gedichte auf keinen Fall – wenn Sie lieber beim Vertrauten bleiben, wenn keiner Ihre wohlgefügten Kreise stören soll, wenn Sie sich nicht herausfordern lassen möchten. Denn der da schreibt, der ist frech … und fromm.
Das ist das Beeindruckende an den Gedichten von Andreas Andrej Peters: Sie gehen virtuos mit der christlichen Tradition und dem biblischen Wort um, sie treten unverstellt in Beziehung und stellen in Frage („Ich trete ihm auf die Füße“), sie verlangen von Wort und Tradition, dass sie sich als heute gültig erweisen („DIE BIBEL//querlesen mit einem/balken vorm/gesicht“) und neu zu uns Heutigen sprechen. Fromm aber, im Sinne der tieftiefen Frömmigkeit etwa eines Gerhard Tersteegen („Gott ist gegenwärtig …/Gott ist in der Mitte …/Ich in dir,/du in mir …“), wie ein Mystiker – da mag die russisch-orthodoxe Tradition, die hier und da anklingt, wirksam sein – setzt Andreas Andrej Peters zugleich, dass Gottes Wort wirkt und geheimnisvoll waltet.

Es ist faszinierend zu lesen und (Empfehlung: Lesen Sie sich die Gedichte vor!) zu hören, wie diese poetischen Texte in Bewegung sind, wie sie tanzen und spielen – zwischen Frage und Antwort, zwischen Zweifel und Zustimmung, Klage und Trost.
Etwa in diesen Zeilen:
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