Gewaltenteilung einmal anders

Dem in der Überschrift genannten Begriff begegnen wir in den Medien immer wieder, und bereits in der Schule wird den Kindern diese Grundlage der Demokratie beigebracht. Sie wissen, was Legislative, Judikative und Exekutive sind, aber über die grammatischen Besonderheiten des Substantivs „Gewalt“ machen sie sich häufig keinerlei Gedanken. Dass es sich hierbei in den meisten Fällen (abhängig von der Bedeutung) um ein Singularetantum handelt, also ein Wort, das nur in der Einzahl vorkommt, ist vielen sicher eher intuitiv bewusst. So gibt es die Form „Gewalten“ nur im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung oder aber den Naturgewalten. Sowohl die Gewalt als physischer (oder auch psychischer) Übergriff als auch die juristisch relevante höhere Gewalt existieren, ungeachtet ihrer Stärke, nur im Singular.

Auch in den Texten, die ich zum Korrekturlesen bekomme, stellt diese Spezifik in der Regel keine große Schwierigkeit dar. Anders sieht es hingegen mit den Adjektiven aus, die mit dem Wort „Gewalt“ gebildet werden können. So ist beispielsweise häufig von der „gewalttätigen Vertreibung der Wolgadeutschen“ die Rede. Diese Tatsache ist zwar völlig unbestritten, allerdings ist die Formulierung sprachlich dennoch nicht korrekt, da es zwei Adjektive gibt, die von dem Substantiv „Gewalt“ abstammen: „gewalttätig“ und „gewaltsam“.

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Roman „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky erstmals in Buchform erschienen

von Nina Paulsen

„Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört.“ (Prof. Dr. Carsten Gansel, der Herausgeber)

Gerhard Sawatzky (1901-1944)

Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört, und dies stark zu machen, das scheint mir wichtig. Unabhängig davon halte ich es für eine grundsätzliche Aufgabe von Literaturwissenschaft, das Gedächtnis zu bewahren und sich auch nicht von Gegenstimmen, die es hier wie da gibt, abhalten zu lassen“, sagt der Literaturwissenschaftler und Herausgeber, Prof. Dr. Carsten Gansel, über den Roman „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky (1901-1944), der Anfang März 2020 im Verlag Galiani Berlin – mehr als 80 Jahren nach seinem Verbot und über 30 Jahre nach der Veröffentlichung der gekürzten Fassung im Literaturalmanach „Heimatliche Weiten“ (1984-1988) – erstmals in Buchform erschienen ist. Der nachstehende Beitrag  erzählt über das tragische Schicksal des Autors und das zuerst verschollene Manuskript, über die Bemühungen um die Veröffentlichung des Romans „Wir selbst“ in den 1980er Jahren und heute, den Symbolcharakter des Titels über Jahrzehnte hinweg sowie die Bedeutung des Werkes für die Erinnerungskultur der russlanddeutschen Volksgruppe.

Sawatzkys großer Gesellschaftsroman, der zu Lebzeiten des Autors nie erschienen war und erst in den 1980er Jahren im Almanach „Heimatliche Weiten“ (Moskau) zensiert veröffentlicht werden konnte, ist das „bedeutendste Werk der sowjetdeutschen Vorkriegsliteratur“ (nach Woldemar Ekkert, 1910-1991), das mit der Behandlung des Lebens der Wolgadeutschen in der Zwischenkriegszeit ein untergegangenes Stück Zeitgeschichte darstellt. „Wir selbst“ erzählt von einer untergegangenen Welt, derjenigen der ASSR der Wolgadeutschen (1918-1941). Im häufigen Szenenwechsel zwischen Land und Stadt beschreibt der Roman entscheidende Momente im Leben der Wolgadeutschen von 1920 bis 1937: die Auswirkungen der Oktoberrevolution 1917, den Bürgerkrieg, die Etablierung der Sowjetmacht, den offenen und getarnten Klassenkampf, die Kollektivierung und Industrialisierung.

„Auch wenn Sawatzky schon beim Schreiben die Angst vor stalinistischen Säuberungsaktionen im Nacken saß und er manches unterschlug bzw. beschönigte – sein Buch ist ein höchst bedeutendes Zeitzeugnis“, ist in der Verlagsvorschau zum Buch nachzulesen. Der Herausgeber Carsten Gansel (geb. 1955, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen) hat die einzigartige Edition mit einem aufschlussreichen Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Republik und ihrer Literatur versehen.

Hugo Wormsbecher: „… ein großes Ereignis für unsere ganze Literatur, für unsere Kultur, für unsere Geschichte …“

Gerhard Sawatzky wurde 1901 in der Süd­ukraine geboren, verbrachte seine Kindheit in Westsibirien und studierte am Leningrader Pädagogischen Herzen-Institut. Danach arbeitete er zuerst als Lehrer, dann als Journalist und Autor im Wolgagebiet. Sawatzky, der als wichtigster Literat der jüngeren Generation der Wolgadeutschen und Vorkämpfer einer eigenständigen „sow­jetdeutschen“ Literatur galt, vollendete 1937 sein Werk „Wir selbst“. Noch bevor der Roman, der bereits in Druckvorbereitung war, veröffentlicht wurde, wurde Sawatzky Ende 1938 verhaftet und starb 1944 im GULag Solikamsk. Sawatzkys Witwe Sophie Sawatzky gelang es jedoch, bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen das ursprüngliche Manuskript zu retten. In den Jahren 1984 bis 1988 wurde der Roman erstmals in voller Fassung (allerdings bearbeitet und zensiert) im Almanach „Heimatliche Weiten“ veröffentlicht.

Zur Bedeutung der Veröffentlichung des Romans „Wir selbst“ erstmals in Buchform schreibt Hugo Wormsbecher  (geb. 1938, wohnhaft in Moskau, 1981-1989 Chefredakteur des Literaturalmanachs „Heimatliche Weiten“):

Hugo Wormsbecher (Moskau)

„Schon das erste Erscheinen des Ro­mans von Gerhard Sawatzky in den 1980er Jahren im Literaturalmanach ‚Heimatliche Weiten‘, ein halbes Jahrhundert nach seiner Fertigstellung in der ASSR der Wolgadeutschen und dann seinem baldigen Verbot, war ein großes Ereignis für die Neuentdeckung der bis dahin gesamt verbotenen Vorkriegsliteratur der Russlanddeutschen. Wie auch einige Jahre zuvor die Gründung des Almanachs ein großes Ereignis für unsere ganze Literatur, für unsere Kultur, für unsere Geschichte war.

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Buchtipp: Nelli Kosskos neues Buch „Wie Sand zwischen meinen Fingern“ ist erschienen

Es ist ein unstetes Leben, das die russlanddeutsche Journalistin führt, führen muss – so wollte es die ereignisschwangere Zeit Mitte des 20. Jahrhunderts, so wollten es die Umstände: nach einer dreißigjährigen und übrigens nicht freiwilligen Odyssee von der Schwarzmeerküste über Polen nach Dresden und zurück in die UdSSR bis an die Beringstraße, kehrt sie 1975 in ihre Wahlheimat, nach Deutschland zurück. Sie liebt das Land ihrer Urahnen, hat es schon immer über alles geliebt, seit sie denken kann, weil sie überzeugt ist: es ist der Ort, an dem sie und ihresgleichen endlich heimisch werden können nach den vielen Jahrzehnten der Suche nach einem Platz an der Sonne. Das Gefühl wurde ihr von der Mutter, einer Deutschen aus dem Schwarzmeergebiet von Kindesbeinen an eingebläut.

Doch angekommen muss nicht gleich heißen angenommen. Die Protagonistin des Buches, die an eigener Haut gespürt bekommen hat, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist, muss nun erst mal mit Verwunderung feststellen, dass der bloße Wunsch Dazu-gehören-zu-wollen bei Weitem nicht ausreicht, um dieses Ziel zu erreichen, und dass die neue Heimat erst erobert und die neuen Mitbürger überzeugt werden müssen. Über Erfolge und Misserfolge, über kleine Siege und große Niederlagen, über Fortschritte und Verluste, Stolpersteine und Freuden auf diesem Weg berichtet dieses Buch, das exemplarisch für viele Schicksale der russlanddeutschen Heimkehrer steht.

Das Buch wurde herausgegeben vom Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR Verlag). In Übersetzung von Carola Jürchott. Bei Interesse kontaktieren Sie bitte den BKDR Verlag unter: kontakt [at] bkdr.de

Es irrt der Mensch, solang er strebt

Dieses berühmte Zitat aus dem „Prolog im Himmel“, der den ersten Teil von Goethes „Faust“ einleitet, ist sicher den meisten bekannt, und so bietet es auch den perfekten Einstieg in das Thema dieses Beitrags. Häufig stoße ich nämlich beim Lektorieren von Texten auf Formulierungen, in denen die Begriffe „Streben“ und „Bestreben“ verwechselt werden, weil sie für komplette Synonyme gehalten werden, was jedoch im Deutschen nicht der Fall ist.

So kann es durchaus Bestrebungen geben, diese Bedeutungen zu vereinheitlichen, danach zu streben wäre jedoch sicher zu viel des Guten. Auch hier steckt, wie so häufig, der Teufel im Detail. Während das Streben darauf ausgerichtet ist, ein großes und ganzheitliches Ziel zu erreichen (das Streben nach Macht, das Streben nach Geld oder, wie im Falle Fausts, das Streben nach Erkenntnis), können Bestrebungen auch auf kleinere oder Etappenziele gerichtet sein.

Das Streben ist mit einem hohen Maß an Aufwand und Anstrengung verbunden. Nicht umsonst unterstellt man einem Streber implizit, er würde Tag und Nacht an nichts anderes als an die Schule denken. Das Bestreben hingegen ist einfach der Ausdruck einer Absicht oder eines Ziels.
So findet man bei der Begriffsdefinition im Duden auch beim „Streben“ Attribute wie „energisch, zielbewusst, unbeirrt“ und die Erklärung „mit aller Kraft […] danach trachten, etwas Bestimmtes zu erreichen“, während das Bestreben lediglich dem Bemühen ohne eine weitere Verstärkung gleichgesetzt wird.

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Gedichte, die das Leben feiern!

Zur Erscheinung des Buches „Orchester der Hoffnung unter der Leitung der Liebe“ von Andreas A. Peters. Gedichte & Lieder. Fotografien Christian Weingartner. Bernardus-Verlag, 2019

Manchmal kommen die Gedichte von Andreas Andrej Peters wie kleine, verspielte Kinderlieder daher. Dann haben sie Klang, Rhythmus und scheuen  weder schiefe Reime noch schräge Bilder. Es ist das Unvollkommene, das sie auf eine überraschende Weise unantastbar macht, ja mehr noch: das sie pathetisch funkeln lässt in einer Zeit, die den Lobpreis verlernt zu haben scheint und selbst den Kindern jede liedhafte Poesie vorenthält.

Manchmal sind diese Gedichte auch sehr kämpferisch angelegt. Andreas Andrej Peters ist ein bibelfester Lyriker, ein bekenntnishafter Autor, der aus seinem christlichen Glauben in einer glaubensentwöhnten Zeit keinen Hehl macht. Warum auch? Für Zweifler, zu denen ich mich selbst immer wieder zähle, bleiben viele Fragen. Aber es ist das Verdienst von Andreas Andrej Peters, dass er uns, fest verankert im Horizont seines Glaubens, zum Widerspruch provoziert, zur Auseinandersetzung anstiftet. Das Christentum ist für ihn keine Reminiszenz an die Kindheit und keine kulturelle Staffage, schon gar keine ideologische Verbrämung des Abendlandes, sondern Lebenswirklichkeit im Hier und Heute.

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Fremdwörter sind Glückssache

„Wenn Sie ein Wort nicht kennen, latinisieren Sie!“

Dieser Rat, der uns im Studium im Dolmetschunterricht vermittelt wurde, mag einen beim Simultandolmetschen vor peinlichen Pausen und dem Verlust des roten Fadens bewahren, in der Übersetzungspraxis jedoch kann er sich häufig als fatal erweisen. Korrigiert man nämlich einen Text, der das Ergebnis dieser Maxime sein könnte, hat man häufiger den Eindruck, das in der Überschrift zitierte Bonmot könnte tatsächlich zutreffen.

Da liest man dann unter Umständen von einem „Naturmort“, das im Deutschen nicht einmal, wie im Französischen, „nature morte“ genannt wird, sondern als „Stillleben“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist, oder muss im historischen Kontext erst einmal darauf kommen, dass mit der „Arena der Kampfhandlungen“ ein „Kriegsschauplatz“ gemeint ist.

Auch wenn das Thema der falschen Freunde hier schon behandelt wurde, möchte ich heute im Zusammenhang mit den Fremdwörtern noch einmal genauer darauf eingehen. Es ist nämlich, wie die obigen Beispiele belegen, mitnichten so, dass Fremdwörter in allen Sprachen dasselbe bedeuten. „Fremdwörter sind Glückssache“ weiterlesen

Gibt es ein Heute in der Vergangenheit?

Diese Frage mag eher philosophisch als linguistisch klingen, dennoch hat sie einen ganz klaren Bezug zur Thematik dieses Blogs, nämlich der sprachlichen Gestaltung.

Immer wieder stoße ich bei der Lektoratsarbeit auf Texte, die im sogenannten historischen Präsens geschrieben wurden, d. h. eine Handlung in der Vergangenheit wird in der grammatischen Gegenwart erzählt. Diese Form mag einen kurzen Einschub lebendiger machen (erst recht, wenn es sich um eine direkte Rede handelt wie zum Beispiel: „Stell dir vor, gestern gehe ich die Straße entlang, und da sehe ich doch unseren alten Schulfreund auf der anderen Seite!“), für einen kompletten Text kann ich davon nur abraten, weil das Lesen auf die Dauer recht anstrengend wird, da diese Form im Deutschen wenig verbreitet ist. „Gibt es ein Heute in der Vergangenheit?“ weiterlesen

Plädoyer für alte Kommas

Zugegeben, wollte ich der Absicht dieses Beitrags durchgängig treu bleiben, müsste es in der Überschrift auch „Kommata“ statt „Kommas“ heißen. Da diese Pluralform aber kaum noch jemand kennt, habe ich darauf an dieser Stelle verzichtet. Allerdings kann und will ich nicht verleugnen, dass ich der Generation entstamme, die noch ihre komplette Schulzeit vor der letzten Rechtschreibreform und selbst vor Beginn der Diskussion darüber absolviert hat. So war bei uns das ß noch weit mehr verbreitet, und auch für Getrennt- und Zusammenschreibung, Groß- und Kleinschreibung und einiges mehr galten andere (und mitunter striktere) Regeln als heute. Auch wenn ich mich mittlerweile an vieles davon gewöhnt habe und bei Schreibweisen wie „Schloß“ und „Fluß“ stutze, gibt es einen Bereich, in dem ich mich nach wie vor an alle alten Regeln halte, die zum Glück zumindest als Alternativvariante noch erlaubt sind. Die Rede ist von der Kommasetzung. So finde ich eine Satzverbindung wesentlich übersichtlicher, wenn vor „und“ und „oder“ ein Komma steht, auch wenn dadurch zwei Hauptsätze miteinander verbunden sind. Unter Umständen kann das auch helfen, einen kommenden Teilsatz von einer Aufzählung o. Ä. zu unterscheiden. „Plädoyer für alte Kommas“ weiterlesen

AKÜFI in Ost und West

Wer ist nicht schon einmal fast daran verzweifelt, eine ihm unbekannte Abkürzung zu entschlüsseln? Bei mir hat es zum Beispiel einige Zeit gedauert, bis ich herausfand, dass sich hinter dem rätselhaften Namen Гиредмет für die Einrichtung, der das Ferienlager bei Moskau gehörte, in dem ich dreimal einen Teil meiner Sommerferien verbrachte, das Staatliche Forschungsinstitut für seltene Metalle verbarg. Seine komplette russische Bezeichnung ist noch länger: Государственный научно-исследовательский и проектный институт редкометаллической промышленности.

In einem Buch, das ich kürzlich las, geriet der Autor bereits bei der Dechiffrierung des überaus bekannten Komsomol auf Abwege. Während er zwar noch die deutsche Erklärung abgab, es handele sich dabei um den Kommunistischen Jugendverband, lautete seine ausgeschriebene russische Version: „Komitet Sozialistitscheskych Molodesch“. Es ist also offensichtlich gar nicht so einfach, von der Abkürzung auf die richtige vollständige Version zu schließen.

Doch der AKÜFI, wie in meiner Schulzeit der „Abkürzungsfimmel“ scherzhaft genannt wurde, ist kein Spezifikum der russischen Sprache. „AKÜFI in Ost und West“ weiterlesen

„Andersrum“ von Rosa Ananitschev – Leseprobe

Die folgende Geschichte spielt sich in einem kleinen Dorf ab, das in einem weiten Land zwischen vielen Birkenwäldern liegt. Die Menschen in der Siedlung arbeiten hart und müssen viel Leid und Ungerechtigkeiten ertragen. Auch die kleine Lisa kämpft sich tapfer durch das Leben. Sie hat ihr ganz persönliches, schweres Päckchen zu tragen.
Wir schreiben das Jahr 1958.

Wie so oft wird Lisa mitten in der Nacht wach. Sie hat etwas geträumt, kann sich allerdings nicht mehr erinnern, was es war. Sie weiß nur – es war schlimm; der Albtraum nahm ihr Herz in den eisernen Griff und jetzt, wieder befreit, schlägt es schnell und hämmernd in ihrer Brust.
Lisa hat im Schlaf geweint und spürt noch die Nässe im Gesicht. Ein Schluchzen entfährt ihr, als sie tief ein- und ausatmet. Ihr Herz beginnt sich allmählich zu beruhigen.
Da hört sie eine Stimme, die nicht von außen zu kommen scheint, sondern direkt in ihrem Kopf sitzt: „Hallo, Lisa!“
Das Mädchen hält den Atem an und lauscht angestrengt in sich hinein. Aber sie hört nur das gewohnte leise Schnaufen und Schnarchen ihrer Geschwister. Dann dreht sie sich auf den Rücken. Es ist nicht ganz düster im Zimmer. Der Mondschein von draußen hinterlässt einen hellen Streifen auf dem Holzfußboden und erfasst auch die dunkle Gestalt, die auf dem Rand des Bettes sitzt.
„Hab‘ keine Angst“, sagt erneut die Stimme in Lisas Kopf. Ohne es begründen zu können, weiß das Mädchen sofort, dass sie zu dieser Erscheinung gehört.
Das Kind hat gar keine Angst – der Fremde ist zwar vollständig in Schwarz gehüllt, aber überhaupt nicht furchterregend.
„Wer bist du? Was machst du hier?“, flüstert Lisa erstaunt.
„Ich bin gekommen, um dir deinen größten Wunsch zu erfüllen“, antwortet die wohlklingende Stimme. „Du hast doch einen?“
Lisa setzt sich langsam auf und schaut die Gestalt an. Dann schüttelt sie den Kopf und raunt: „Das kannst du nicht. Das kann nicht mal der liebe Gott.“
Ein plötzlicher Verdacht kommt in ihr auf und sie fragt vorsichtig: „Du bist doch nicht Gott?“

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