„Fremd unter seinesgleichen“ – Interview mit Artur Böpple

Seit 25 Jahren gibt der Literaturkreis der Deutschen aus Russland seine „Literaturblätter“ heraus

Interview mit dem Vorsitzenden des Literaturkreises der Deutschen aus Russland, Artur Böpple

Fremd unter seinesgleichen“ (ostbooks Verlag) lautet das Motto des Almanachs 2020, einer Anthologie, die zahlreiche russlanddeutsche AutorInnen generationenübergreifend mit Prosa, Lyrik und biografischen Texten, in Interviews und Rezensionen präsentiert. Die Inhalte der diesjährigen „Literaturblätter der Deutschen aus Russland“ werden durch Bilder und Grafiken von Irina Enns, Igor Galochkin und Lydia Galochkina pointiert betont. Als Herausgeber zeichnen Artur Böpple, das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) und der Literaturkreis der Deutschen aus Russland, der vor 25 Jahren von 14 LiteratInnen aus der ehemaligen Sowjetunion gegründet wurde. 2014 wurde das Engagement des Literaturkreises im Bereich der literarischen Vermittlung russlanddeutscher Kultur und Erfahrung und insbesondere auch für seine Arbeit mit jungen Autorinnen und Autoren mit dem Förderpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg gewürdigt. Die aktuelle Anthologie ist der russlanddeutschen Schriftstellerin Nora Pfeffer gewidmet, die sich von Beginn an im Literaturkreis engagiert und maßgeblich bei der Entstehung der ersten Literaturblätter der Deutschen aus Russland mitgewirkt hat.

Das Motto „Fremd unter seinesgleichen“ wurde nicht zufällig gewählt. Deutschen aus Russland sind Heimatverlust, Entwurzelung und Fremdsein, aber auch Neuverwurzelung und Beheimatung seit Generationen bekannt. Auch Nora Pfeffer musste all diese Erfahrungen, teils auf tragische Weise, durchleben. VadW-Redakteurin Nina Paulsen sprach mit dem Autor und Verleger Artur Böpple, derzeit Vorsitzender des Literaturkreises der Deutschen aus Russland und Mitarbeiter des BKDR, über den Literaturkreis und dessen Almanach sowie die Situation, in der sich die russlanddeutsche Literatur gegenwärtig befindet.

Artur, der Almanach 2020 ist fast auf den Tag genau zum 25. Gründungstag des Literaturkreises der Deutschen aus Russland erschienen. Wenn du auf diese 25 Jahre zurückblickst und kurz zusammenfasst: Welche Bedeutung hat der Literaturkreis für die Entwicklung der russlanddeutschen Literatur von Mitte der 1990er Jahre bis heute? Und wie hat sich der Almanach als Jahrbuch des Literaturkreises inzwischen verändert?

Zunächst muss ich klarstellen, dass ich persönlich leider nicht unmittelbar auf alle 25 Jahre zurückblicken kann, denn ich gehöre erst seit etwa 2010 dem Literaturkreis an und bin seit 2012 in der Redaktion aktiv. Dennoch denke ich, dass ich die Bedeutung und den Einfluss des Literaturkreises auf unsere Literaturszene – sei es anhand von geschriebenen Texten oder von ausgewählten Autorenbiografien – beurteilen kann, wenn auch nur subjektiv und eher exemplarisch. Hauptanliegen des Literaturkreises war ja und ist, unsere Autorinnen und Autoren möglichst zügig in die bundesdeutsche Literaturszene zu integrieren – das ist ein fester Bestandteil unserer Satzung! – , damit wir dort auf verschiedenen Ebenen agieren und von uns bzw. von unserem Schicksal als Bevölkerungsgruppe auf einem professionellen Niveau zu erzählen imstande sind, kurzum, damit wir hierzulande überhaupt wahr-, ernstgenommen und gehört werden.

Ich denke, um den Einfluss des Literaturkreises auf einzelne Autorenbiografien anschaulich zu machen, schildere ich kurz meine persönlichen Erfahrungen als Autor seit dem Zeitpunkt, als ich dem Literaturkreis beigetreten bin. Erst dank der jährlichen Seminare und des darauffolgenden Austausches untereinander verspürte ich in mir den Impuls, Lyrik zu schreiben, und gewann das nötige Selbstvertrauen, eigene Prosa öffentlich vorzutragen. Regelmäßige Lesungen, Vernetzung durch die Publikationen im Jahrbuch und Feedbacks der Kolleginnen und Kollegen taten meinem Wachstum als Autor gut und wirkten sich positiv auf die Motivation aus, die man beim Anpacken von größeren Schreibprojekten braucht. Bald stellten sich die ersten Erfolge ein, Publikationen in diversen Anthologien und teils bekannten deutschen und österreichischen Literaturzeitschriften folgten. Hier und da glückte es mir auch, Wettbewerbe zu gewinnen, wie zum Beispiel den Leverkusener Short-Story-Preis 2015.

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„Du, mein geliebter ‚Russe‘“ – der neue Roman von Nelli Kossko

Eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte

Ein Gastbeitrag von Nina Paulsen

Über 75 Jahre liegt der Zweite Weltkrieg schon zurück, doch nicht alle Wunden sind verheilt, nicht alle Opfer betrauert. Der Krieg hatte die Leben vieler Menschen unbarmherzig zermalmt, darunter auch die der jungen Deutschen in der Ukraine, die mit dem Einmarsch der deutschen Truppen als sogenannte Volksdeutsche zur Wehrmacht einberufen und an die Front geschickt wurden und nach Kriegsende mit entsprechenden Konsequenzen den Sowjets in die Hände fielen. Als Opfer zweier verbrecherischer Systeme – des Hitlerregimes und der Stalindiktatur – mussten sie die Schuld Hitler-Deutschlands bis in ihre letzten Tage sühnen, sie und ihre Kinder.

In ihrem eben erschienenen Roman „Du, mein geliebter ‚Russe‘. Eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte“ (ratio-books Verlag) erzählt die bekannte russlanddeutsche Schriftstellerin Nelli Kossko eine Geschichte, die sich in beiden Ländern abspielt und sowohl tief in menschliche Abgründe blicken lässt als auch die Kraft der Liebe, die die Menschen aufs „Innerste zusammenhält“, bestätigt. Das Buch trägt einen Titel, der gerade in der heutigen Zeit fast provokant klingt, aber auch eine Spannung verspricht, die voller Kontroversen ist. Die Autorin lässt in ihr neues Buch erneut eigene Erfahrungen in reichem Maße einfließen. Weil sich ihre Vergangenheit, die sie immer wieder einholt, nicht verdrängen lässt, teilt Nelli Kossko ihre bitteren wie glücklichen Erfahrungen mit dem Leser und erzählt von denen, für die die Verbannung zur „ewigen Ruhe“ bestimmt war, und von denen, die sich aus dieser Hölle befreien konnten.

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MAX SCHATZ: SONETTENFLECHTER

Eine Rezension von Dr. Wendelin Mangold

Durch seine Sonettenkränze hat Max Schatz, zuletzt in seinem Band „Nihilschwimmer“ (2020), die Messlatte der russlanddeutschen Lyrik hoch gelegt. Nun muss jeder, der sich in unsere Lyrik einreihen will, damit messen lassen laut der Redewendung „Erst die Pflicht, dann die Kür!“ 

Lyrik ist kein Spiel, und wer sich ihrer Formen bedienen will, muss es verstehen, den Inhalt in die entsprechende Form zu gießen. Dabei gibt es einfache Formen wie zum Beispiel die Volksliedstrophe und anspruchsvolle Formen wie zum Beispiel das Sonett. Jede Form hat ihren Ursprung und ihre Geschichte, so auch das Sonett.

(c) privat

Die meisten Dichter der Gegenwart gehen lieber dieser Form aus dem Weg. Schuld daran ist das kritische, negative und ablehnende Verhalten gegenüber dem Sonett der modernen und besonders der postmodernen Poesie. Die zaghafte Rückkehr zum Sonett ist noch nicht so richtig in Gang gekommen, aber immerhin wird ab und zu ein Sonett verfasst. Die Abkehr von der klassischen Form des Sonetts ist zu beklagen, da jeder meint, er wäre ein Dichter allein durch das abfällige Verhalten zum Sonett. Oft wird als modern angesehen, wenn alles über Bord geworfen wird (Rhythmus, Reim, Strophe), als ob ein formloses Gedicht aussagekräftiger wäre, was ein Trugschluss ist.

Wenn schon ein Sonett eine strenge, disziplinierte Form ist, so ist ein Sonettenkranz eine doppelt, wenn nicht dreifach kompliziertere Form, bestehend aus 14 zusammenhängenden Sonetten und dem abschließenden fünfzehnten Sonett, Meistersonett oder italienisch Magistrale genannt. Nicht umsonst heißt diese Form italienisch und englisch „corona“. Also ist sie die Krone unter den lyrischen Formen. Das will schon etwas bedeuten!

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Festschrift für Wendelin Mangold – eine Würdigung zum 80. Geburtstag

Pünktlich zum runden Geburtstag von Wendelin Mangold erschien im BKDR Verlag eine Festschrift, die das Leben und Wirken dieses bekannten Autors ausführlich beleuchtet. Mit diesem Band, dem dritten nach den im ersten Halbjahr 2020 erschienenen Festschriften für Nora Pfeffer und Johann Warkentin setzte das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) seine Festschriftenreihe für bemerkenswerte russlanddeutsche Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller aus Vergangenheit und Gegenwart fort.

Dr. Wendelin Mangold, Autor und eine der prägnantesten Persönlichkeiten der russlanddeutschen Literaturszene, feierte am 5. September 2020 seinen 80. Geburtstrag. Dieses Datum nahm der BKDR Verlag zum Anlass, um in Kooperation mit dem Literaturkreis und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland einen Sammelband herauszugeben. Zum großen Teil sind es Nachdrucke oder Übersetzungen diverser Quellen, viele Artikel stammen aus alten Ausgaben der Zeitschrift Volk auf dem Weg. Einige Beträge wurden jedoch speziell für diese Publikation verfasst. Monografien zum Leben und Schaffen markanter russlanddeutscher Kulturschaffender sind bisher eine Seltenheit. Umso mehr freuen wir uns über die Gelegenheit, diese Publikationsreihe mit einer Würdigung Mangolds ergänzen zu können.

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Eine Würdigung für Johann Warkentin – Festschrift zum 100. Geburtstag im BKDR Verlag erschienen

Mit diesem Jubiläumsband, dem zweiten nach der im Januar 2020 erschienenen Festschrift für Nora Pfeffer, setzt der BKDR Verlag seine Festschriftenreihe für bemerkenswerte russlanddeutsche Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller aus Vergangenheit und Gegenwart fort. Johann Warkentin, geb. 1920 in Spat auf der Krim, wäre am 11.05.2020 hundert Jahre alt geworden. Dieses Datum nahm das BKDR zum Anlass, um in Kooperation mit dem Literaturkreis und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland einen Sammelband herauszugeben, in dem Warkentin selbst spricht und Schriftstellerkollegen, Historiker und Freunde über ihn und sein Werk zu Wort kommen. Zum großen Teil sind es Nachdrucke oder Übersetzungen diverser Quellen, viele Artikel stammen aus alten Ausgaben der Zeitschrift Volk auf dem Weg oder wurden speziell für diese Publikation verfasst.

Monografien zum Leben und Schaffen markanter russlanddeutscher Persönlichkeiten aus dem Bereich Kultur sind bisher eine Seltenheit. Umso mehr freuen wir uns über die Gelegenheit, diese Publikationsreihe mit einer Würdigung Warkentins ergänzen zu können. Persönlich wie auch durch sein Werk hinterließ er tiefe Spuren auf dem Weg zur Wiederbelebung der russlanddeutschen Literaturszene in der Sowjetunion der Nachkriegszeit und seit Anfang der 1980er auch in Deutschland, vorwiegend jedoch nachdem die Mehrheit der russlanddeutschen Autorinnen und Autoren um 1990 und später in die Heimat ihrer Vorfahren zurückgekehrt war. Seine Ermahnungen an die Adresse der nunmehr in Deutschland lebenden jüngeren Kolleginnen und Kollegen, sein hoher Qualitätsanspruch an das geschriebene Wort, seine kritisch-konstruktiven Bemerkungen, beispielsweise in seiner Monografie Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht (hrsg. von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, 1999), behalten zum großen Teil bis heute ihre Signifikanz und Aktualität und prägen weiterhin das Schaffen von Autorinnen und Autoren mit russlanddeutschem Hintergrund.

Erschienen im Juli 2020, unter ISBN 978-3-948589-06-6, 304 S., Hardcover, Preis: 14,- EUR

Bestellungen unter E-Mail: kontakt@bkdr.de oder unter Tel.: 0911-89219599.

Buchtipp: „Meins!“ von Ida Häusser

von Agnes Gossen

Auf dem Titelblatt des ersten Buches von Ida Häusser „Meins!“ ist die kasachische Frühlingssteppe – von weißen, gelben und roten Tulpen übersät. Das ist eines von den Bildern, die in ihrem Gedächtnis für immer geblieben sind, als sie im Mai 1981 vor ihrer Ausreise nach Deutschland Abschied von ihr nahm, und der Wind ihr den Blütenstaub ins Gesicht blies. „Ich wünschte mir riesige, kilometerlange Arme, damit ich die unfassbare Herrlichkeit umarmen und an mich drücken könnte. Wie ein kleines Kind, das ein lieb gewonnenes Spielzeug nicht hergeben will, wollte ich diese stille Schönheit umklammern und, trotzig die Tränen hochschniefen und mit dem Fuß stapfen und immer wieder Meins! rufen.“
Das ist die Stimme einer Achtzehnjährigen, die sich mit 50 immer noch genau an den Abschied von der Tulpensteppe erinnert. Obwohl Ida Häusser sich ab und zu beklagt, dass es immer nur Bruchstücke, Gedächtnisblitze aus ihrer Kindheit sind, die ab und zu auftauchen, ist es ihr gelungen, mit Beharrlichkeit nachzuforschen und ein stimmiges Bild des Lebens in Kasachstan bewusst und wehmütig zu schildern.

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Roman „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky erstmals in Buchform erschienen

von Nina Paulsen

„Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört.“ (Prof. Dr. Carsten Gansel, der Herausgeber)

Gerhard Sawatzky (1901-1944)

Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört, und dies stark zu machen, das scheint mir wichtig. Unabhängig davon halte ich es für eine grundsätzliche Aufgabe von Literaturwissenschaft, das Gedächtnis zu bewahren und sich auch nicht von Gegenstimmen, die es hier wie da gibt, abhalten zu lassen“, sagt der Literaturwissenschaftler und Herausgeber, Prof. Dr. Carsten Gansel, über den Roman „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky (1901-1944), der Anfang März 2020 im Verlag Galiani Berlin – mehr als 80 Jahren nach seinem Verbot und über 30 Jahre nach der Veröffentlichung der gekürzten Fassung im Literaturalmanach „Heimatliche Weiten“ (1984-1988) – erstmals in Buchform erschienen ist. Der nachstehende Beitrag  erzählt über das tragische Schicksal des Autors und das zuerst verschollene Manuskript, über die Bemühungen um die Veröffentlichung des Romans „Wir selbst“ in den 1980er Jahren und heute, den Symbolcharakter des Titels über Jahrzehnte hinweg sowie die Bedeutung des Werkes für die Erinnerungskultur der russlanddeutschen Volksgruppe.

Sawatzkys großer Gesellschaftsroman, der zu Lebzeiten des Autors nie erschienen war und erst in den 1980er Jahren im Almanach „Heimatliche Weiten“ (Moskau) zensiert veröffentlicht werden konnte, ist das „bedeutendste Werk der sowjetdeutschen Vorkriegsliteratur“ (nach Woldemar Ekkert, 1910-1991), das mit der Behandlung des Lebens der Wolgadeutschen in der Zwischenkriegszeit ein untergegangenes Stück Zeitgeschichte darstellt. „Wir selbst“ erzählt von einer untergegangenen Welt, derjenigen der ASSR der Wolgadeutschen (1918-1941). Im häufigen Szenenwechsel zwischen Land und Stadt beschreibt der Roman entscheidende Momente im Leben der Wolgadeutschen von 1920 bis 1937: die Auswirkungen der Oktoberrevolution 1917, den Bürgerkrieg, die Etablierung der Sowjetmacht, den offenen und getarnten Klassenkampf, die Kollektivierung und Industrialisierung.

„Auch wenn Sawatzky schon beim Schreiben die Angst vor stalinistischen Säuberungsaktionen im Nacken saß und er manches unterschlug bzw. beschönigte – sein Buch ist ein höchst bedeutendes Zeitzeugnis“, ist in der Verlagsvorschau zum Buch nachzulesen. Der Herausgeber Carsten Gansel (geb. 1955, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen) hat die einzigartige Edition mit einem aufschlussreichen Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Republik und ihrer Literatur versehen.

Hugo Wormsbecher: „… ein großes Ereignis für unsere ganze Literatur, für unsere Kultur, für unsere Geschichte …“

Gerhard Sawatzky wurde 1901 in der Süd­ukraine geboren, verbrachte seine Kindheit in Westsibirien und studierte am Leningrader Pädagogischen Herzen-Institut. Danach arbeitete er zuerst als Lehrer, dann als Journalist und Autor im Wolgagebiet. Sawatzky, der als wichtigster Literat der jüngeren Generation der Wolgadeutschen und Vorkämpfer einer eigenständigen „sow­jetdeutschen“ Literatur galt, vollendete 1937 sein Werk „Wir selbst“. Noch bevor der Roman, der bereits in Druckvorbereitung war, veröffentlicht wurde, wurde Sawatzky Ende 1938 verhaftet und starb 1944 im GULag Solikamsk. Sawatzkys Witwe Sophie Sawatzky gelang es jedoch, bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen das ursprüngliche Manuskript zu retten. In den Jahren 1984 bis 1988 wurde der Roman erstmals in voller Fassung (allerdings bearbeitet und zensiert) im Almanach „Heimatliche Weiten“ veröffentlicht.

Zur Bedeutung der Veröffentlichung des Romans „Wir selbst“ erstmals in Buchform schreibt Hugo Wormsbecher  (geb. 1938, wohnhaft in Moskau, 1981-1989 Chefredakteur des Literaturalmanachs „Heimatliche Weiten“):

Hugo Wormsbecher (Moskau)

„Schon das erste Erscheinen des Ro­mans von Gerhard Sawatzky in den 1980er Jahren im Literaturalmanach ‚Heimatliche Weiten‘, ein halbes Jahrhundert nach seiner Fertigstellung in der ASSR der Wolgadeutschen und dann seinem baldigen Verbot, war ein großes Ereignis für die Neuentdeckung der bis dahin gesamt verbotenen Vorkriegsliteratur der Russlanddeutschen. Wie auch einige Jahre zuvor die Gründung des Almanachs ein großes Ereignis für unsere ganze Literatur, für unsere Kultur, für unsere Geschichte war.

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Gedichte, die das Leben feiern!

Zur Erscheinung des Buches „Orchester der Hoffnung unter der Leitung der Liebe“ von Andreas A. Peters. Gedichte & Lieder. Fotografien Christian Weingartner. Bernardus-Verlag, 2019

Manchmal kommen die Gedichte von Andreas Andrej Peters wie kleine, verspielte Kinderlieder daher. Dann haben sie Klang, Rhythmus und scheuen  weder schiefe Reime noch schräge Bilder. Es ist das Unvollkommene, das sie auf eine überraschende Weise unantastbar macht, ja mehr noch: das sie pathetisch funkeln lässt in einer Zeit, die den Lobpreis verlernt zu haben scheint und selbst den Kindern jede liedhafte Poesie vorenthält.

Manchmal sind diese Gedichte auch sehr kämpferisch angelegt. Andreas Andrej Peters ist ein bibelfester Lyriker, ein bekenntnishafter Autor, der aus seinem christlichen Glauben in einer glaubensentwöhnten Zeit keinen Hehl macht. Warum auch? Für Zweifler, zu denen ich mich selbst immer wieder zähle, bleiben viele Fragen. Aber es ist das Verdienst von Andreas Andrej Peters, dass er uns, fest verankert im Horizont seines Glaubens, zum Widerspruch provoziert, zur Auseinandersetzung anstiftet. Das Christentum ist für ihn keine Reminiszenz an die Kindheit und keine kulturelle Staffage, schon gar keine ideologische Verbrämung des Abendlandes, sondern Lebenswirklichkeit im Hier und Heute.

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Roman von Gerhard Sawatzky „Wir selbst“ erscheint erstmals in Buchform

„Es ist ein Text, der zum kulturellen Gedächtnis gehört, und dies stark zu machen, das scheint mir wichtig. Unabhängig davon halte ich es für eine grundsätzliche Aufgabe von Literaturwissenschaft, das Gedächtnis zu bewahren und sich auch nicht von Gegenstimmen, die es hier wie da gibt, abhalten zu lassen“, sagt der Literaturwissenschaftler und Herausgeber, Prof. Dr. Carsten Gansel, über den Roman „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky (1901-1944), der Anfang März 2020 im Verlag Galiani Berlin erscheint.

Gerhard Sawatzky, in der Südukraine geboren, verbrachte seine Kindheit in Westsibirien und studierte am Leningrader Pädagogischen Herzen-Institut. Danach arbeitete er zuerst als Lehrer, dann als Journalist und Autor im Wolgagebiet, wo er als wichtigster Literat der jüngeren Generation der Wolgadeutschen und Vorkämpfer einer eigenständigen „sowjetdeutschen“ Literatur galt. 1937 vollendete er seinen Roman „Wir selbst“. Noch bevor der Roman, der bereits in Druckvorbereitung war, das Licht der Welt erblickte, wurde Sawatzky Ende 1938 verhaftet und starb Jahre später (1944) im GULag Solikamsk. Das Buch ist nie erschienen. Doch Sawatzkys Witwe Sophie Sawatzky gelang es, bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen das Urmanuskript zu retten.

„Wir selbst“ erzählt von einer untergegangenen Welt, nämlich der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (1918-1941). Im häufigen Szenenwechsel zwischen Land und Stadt beschreibt der Roman die entscheidende Wende im Leben der Wolgadeutschen von 1920 bis 1937: Die Auswirkungen der Oktoberrevolution 1917, den Bürgerkrieg, die Etablierung der Sowjetmacht, den offenen und getarnten Klassenkampf, die Kollektivierung und Industrialisierung.

Sawatzkys großer Gesellschaftsroman, der zu Lebzeiten des Autors nie erschienen war und erst 1984-1988 im Almanach „Heimatliche Weiten“ (hrsg. von Hugo Wormsbecher, Moskau – leider bearbeitet und zensiert) veröffentlicht werden konnte, ist das „bedeutendste Werk der sowjetdeutschen Vorkriegsliteratur“ (laut Woldemar Ekkert), das mit dem Leben der Wolgadeutschen in der Zwischenkriegszeit ein untergegangenes Stück Zeitgeschichte darstellt.

„Auch wenn Sawatzky schon beim Schreiben die Angst vor stalinistischen Säuberungsaktionen im Nacken saß und er manches unterschlug bzw. beschönigte – sein Buch ist ein höchst bedeutendes Zeitzeugnis“, ist in der Verlagsvorschau zum Buch nachzulesen. Der Herausgeber Carsten Gansel (geb. 1955, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen) hat die einzigartige Edition mit einem aufschlussreichen Nachwort und dokumentarischem Material zur Wolgadeutschen Autonomen Republik und ihrer Literatur versehen. „Roman von Gerhard Sawatzky „Wir selbst“ erscheint erstmals in Buchform“ weiterlesen

Nora Pfeffer – eine Würdigung zum 100. Geburtstag

Nora Pfeffer (c) Bild: Neues Leben

Die Dichterin Nora Pfeffer gehört mit ihrer poetischen und schriftstellerischen Leistung zu den wichtigsten russlanddeutschen Autoren der Nachkriegszeit. Jahrzehntelang hat sie die Entwicklung der deutschen Literatur in der ehemaligen Sowjetunion mitgeprägt – als Lyrikerin, Übersetzerin, Nachdichterin, Essayistin und Literaturkritikerin. Pfeffers Werke sind in ca. 15 Einzelbänden erschienen, darunter mehrere Versbücher für Kinder, Lyriksammlungen und Bücher mit Nachdichtungen.

Sie wurde am 31. Dezember 1919 in Tbilissi/Georgien in einer Lehrerfamilie geboren. Noras Kindheit endete 1935 abrupt mit der Verhaftung ihrer Eltern. Fünf Kinder, eine taubstumme Tante und die Großeltern blieben vorerst allein, ein Jahr später wurde die Mutter aus dem Gefängnis entlassen. Der Vater, ohne Gerichtsverfahren konterrevolutionärer Tätigkeit bezichtigt, wurde erst nach elf Jahren entlassen und 1956 rehabilitiert.

Nach Abschluss der deutschsprachigen Schule und der Musikfachschule am Konservatorium Tbilissi begann Nora Pfeffer ein Studium der Germanistik und Anglistik, das sie extern am I. Moskauer Staatlichen Pädagogischen Fremdspracheninstitut fortsetzte. Gleichzeitig unterrichtete sie die deutsche Sprache am Medizinischen Institut Tbilissi. Weil sie sich weigerte, von ihrem Vater loszusagen, wurde sie exmatrikuliert und auch aus der Musikfachschule ausgeschlossen. 1940 verlobte sie sich mit Juri Karalaschwili, dem Enkel des georgischen Katholikos. Im August 1941 wurde ihr Sohn Rewas geboren (Er verstarb 1989 mit nur 48 Jahren). „Nora Pfeffer – eine Würdigung zum 100. Geburtstag“ weiterlesen