Wenn Demonstratives zu demonstrativ wird

Demonstrationen entsprechen dem Zeitgeist – daran besteht kein Zweifel, und natürlich macht der Zeitgeist auch vor der Sprache nicht halt. Dennoch ist es hier wie so oft im Leben: Zu viel des Guten kann leicht ins Gegenteil umschlagen. Und auch wenn es in diesem Blog natürlich in allererster Linie um die geschriebene Sprache geht, möchte ich heute gern ein Phänomen aufgreifen, das in der gesprochenen Sprache der Medien, also in Funk und Fernsehen, immer stärker um sich greift.
Die Demonstrativpronomina des Deutschen sind hinlänglich bekannt: „dieses“ und „jenes“ in all ihren Formen. Mit einer bestimmten Betonung können aber auch andere Wortarten in der Kommunikation ihre Funktion übernehmen, zum Beispiel bestimmte Artikel oder Adverbien. Möchte man eine solche Verwendung in der Schriftsprache kenntlich machen, bleibt einem häufig nichts anderes übrig, als sie eindeutig zu markieren, entweder verbal:
„Du willst die Bluse anziehen?“, fragte sie entsetzt.
oder typografisch:
„Du willst DIE Bluse anziehen?“

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Artur Rosensterns „Die Rache der Baba Jaga“ – eine Rezension

Begegnet man in der heutigen Welt einer leibhaftigen Hexe, so handelt es sich um die Schwiegermutter – so erging es zumindest Gisbert. Eher stolpernd als schreitend wird er zum Helden des deutsch-ukrainischen Liebesromans aus der Feder von Artur Rosenstern. Ein köstliches Lesevergnügen mit  hohem Fremdschäm-Faktor…

Ein Gastbeitrag von Tatjana Schmalz

In Liebesfragen sind keine sinnvollen Ratschläge einzuholen. Andernfalls ließe sich doch die Koexistenz zweier grundverschiedener Spruchweisheiten erklären: „Gleich und gleich gesellt sich gern“ und „Gegensätze ziehen sich an“. Voller Gegensätze steckt auch die Beziehung zwischen dem Versager Gisbert und der ukrainischen Überfliegerin Julia. Dass ein Mann überhaupt auf eine Maid weit oberhalb seiner Liga schielt, kennt man sonst nur aus russischen Volksmärchen. Darin erobert der Bauernsohn Iwan-Dummkopf auf wundersame Weise die wunderschöne und weise Königstochter, doch der Weg dahin ist natürlich niemals asphaltiert …

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Prozente, Prozente

Keine Angst, liebe Leserinnen und Leser – so reißerisch, wie der Titel es vermuten lassen könnte, wird dieser Beitrag ganz bestimmt nicht. Vielmehr geht es wieder einmal um Mathematik im weitesten Sinne, und zwar in diesem Fall um die Besonderheiten der Prozentrechnung im Russischen und im Deutschen. Den ersten Unterschied bieten einem bereits einschlägige Wörterbücher. Während man im Deutschen nur Prozente bekommt, wenn man eine Provision bezieht oder einen Rabatt aushandelt, haben die russischen проценты ein weitaus größeres Betätigungsfeld. Sie treten sowohl als rein mathematische Größe auf, die wahrscheinlich auf der ganzen Welt dieselbe Bedeutung hat – nämlich „von Hundert“ -, können aber auch Zinsen, einen Zinssatz, eine Verzinsung oder eine Rendite bedeuten.
Bei all diesen Bedeutungen hilft einem im Zweifel ein gutes Wirtschaftswörterbuch, man sollte nur wissen, wonach man suchen muss und dass „проценты“ eben nicht immer „Prozente“ sind.

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Lasst uns froh und munter sein

Nein, liebe Leserinnen und Leser, mit der Überschrift dieses Blogbeitrags habe ich mich nicht in der Jahreszeit geirrt, und ich habe auch nicht vor, den Supermärkten nachzueifern, in denen es schon seit Ende August wieder Lebkuchen zu kaufen gibt. Mir geht es heute um ein Phänomen, dass aus dem zitierten Liedtext nur teilweise ersichtlich wird – und zwar „teilweise“ im wahrsten Sinne des Wortes -, denn hier wurde die Konstruktion „lasst uns“ völlig richtig gebraucht.
Folgt darauf ein nicht reflexives Verb, stellt diese Art der Aufforderung auch kein Problem dar. Anders verhält es sich jedoch bei reflexiven Verben. Wie es in diesem Blog bereits an anderer Stelle thematisiert wurde, muss im Deutschen das Reflexivpronomen jeweils der grammatischen Person des Verbs angepasst werden. Wird also „sich treffen“ in der ersten Person Plural verwendet, muss es natürlich heißen „wir treffen uns“. Was passiert aber, wenn diese Konstruktion mit der Aufforderung „lass(t) uns …“ in Einklang gebracht werden soll? Dann steht das Wörtchen „uns“ auf einmal zweimal in dem jeweiligen Satz. Kann man es deshalb – wie es etwa bei gemeinen Brüchen in der Mathematik üblich ist – sozusagen „herauskürzen“?

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Der Nominativ ist aller anderen Fälle Tod

Zu diesem, einem bekannten Buchtitel entlehnten, Schluss könnte man kommen, wenn man ein wenig den Gesprächen an der Supermarktkasse oder unter Schülern lauscht.
„Wie viel kostet das?“
„Ein Euro achtundvierzig.“
Warum „ein Euro“ und nicht „einen Euro“? Was ist aus dem guten alten Akkusativ geworden?
„Bei wem habt ihr Mathe?“
„Bei Herr Müller.“
Nanu? Seit wann verlangt denn die Präposition „bei“ keinen Dativ mehr? Oder ist der Dativ von „Herr“ inzwischen nicht mehr „Herrn“? Weit gefehlt – zumindest laut dem guten alten Duden.
Auch dem Genitiv geht es nicht besser. So findet man auf der Webseite einer Gesamtschule die höchst fragwürdige Überschrift: „Herr Müller’s Abschied“. Abgesehen vom Apostroph, über dessen Überflüssigkeit in einer solchen Formulierung an dieser Stelle und anderenorts schon vieles geschrieben wurde, ist hier wohl nicht einmal den Deutschlehrern der entsprechenden Schule aufgefallen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, Herrn Müllers Abschied sprachlich korrekt zu begehen.

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„Schweigeminuten“ – Literarische Videobeiträge zu einer vielstimmigen Erinnerungskultur

Anlässlich des 80. Jahrestags der Deportation der Russlanddeutschen

Was empfindet ein Mensch, dessen Biografie oder Familiengeschichte nicht in das offizielle geschichtliche Narrativ der Gesellschaft passt, in der er lebt? Wie können Gedenken und Erinnern Würde verleihen oder sogar Traumata bewältigen? 2,5 Millionen Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft gedenken im Sommer 2021 an das Kriegsfolgenschicksal ihrer Eltern- und Großelterngeneration. Sieben Autorinnen und Autoren sprechen im Projekt „Schweigeminuten“ über die Bedeutung dieses Themas für die Gesamtgesellschaft und ihren persönlichen Umgang damit.

Im Juni 1941 überfällt Nazideutschland die Sowjetunion: „Unbedingt aussiedeln – mit Gewalt“ lautet Stalins Begleitnotiz unter der Vorlage zum Deportationserlass im August 1941, mit dem Bürger deutscher Herkunft, die auf seinem Territorium leben für die folgenden Jahrzehnte willkürlich und pauschal als innere Feinde gebrandmarkt werden. Für Russlanddeutsche beginnt damit das, was heute als ihr Kriegsfolgenschicksal bezeichnet wird: Verbannung, Zwangsarbeit, Sonderaufsicht. Diejenigen, denen es gelingt aus der Sowjetunion zu fliehen, werden nach Kriegsende rücküberstellt und des Vaterlandverrates bezichtigt. Es folgen auch hier: Lager, Entrechtung, Stigma.Verdrängt und unaufgearbeitet wirkt dieses Kollektivtrauma über Generationen hinweg bis heute nach. Sprachlosigkeit und Schweigen prägten die Kommunikation vieler russlanddeutscher Familien von innen. Das Verschweigen und Verdrängen ihrer Erfahrungen bestimmte die Erinnerungskultur von außen. Am Ende der Kette stehen der Sprachverlust und das Vergessen. Das Kriegsfolgenschicksal bildete aber auch den humanitären Aufnahmegrund der davon Betroffenen in Deutschland. Warum bin ich hier, ist eine Frage, mit der sich die heutigen Generationen zunehmend laut beschäftigen. Warum sind sie hier, fragt sich ein großer Teil der Mehrheitsgesellschaft.

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Sind Orte geschlechtslos?

Geht man vom Russischen aus, ist die Antwort natürlich ein klares Nein, weil man da ja in der Regel schon an der Endung sieht, wie sich ein Substantiv in allen Fällen (im wahrsten Sinne des Wortes) grammatisch verhält.
Wie ist es aber im Deutschen? Hier ist das grammatische Geschlecht meist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. „Berlin“ und „Moskau“ sind im Russischen zwar unterschiedlichen Geschlechts, im Deutschen aber erschließt sich die Antwort auf diese Frage nur, wenn man statt der üblichen Präposition „in“, die keinen Artikel erfordert, einen Artikel und ein Attribut davorstellt: „das alte Berlin“, „ins ferne Moskau“. Sie sind also beide sächlich – wie in der Regel alle anderen Städtenamen auch. Besonders eindeutig zu sehen ist das natürlich bei Kurorten, die ein „Bad“ vor dem eigentlichen Namen haben, denn bei „Bad Berka“ oder „Bad Schandau“ ist ja bereits der erste Namensbestandteil ausschlaggebend und auch sächlich.

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Gleichrangig oder nicht?

Mit Korrekturen ist es so eine Sache. Wenn sie berechtigt sind, sind sie natürlich sehr hilfreich und bringen ein Werk voran, weshalb die Frage in der Überschrift auch keinesfalls auf eine Hierarchie zwischen den an der Entstehung eines Textes beteiligten Personen hindeuten soll. Dennoch sind auch Korrektoren nur Menschen und daher nicht unfehlbar. Dessen sollten sich beide Seiten – Korrektor und Autor – stets bewusst sein und, wenn sie sich nicht hundertprozentig sicher sind, lieber einmal zu viel als einmal zu wenig nachschlagen.


Genau so erging es mir kürzlich, als ich einen von mir übersetzten literarischen Text korrigiert zurückbekam. Bei der Durchsicht der Korrekturen stellte ich fest, dass sich ein großer Teil von ihnen auf die Kommasetzung zwischen zwei Adjektiven bezog. So war aus meiner Formulierung „sein glänzendes perlweißes Fell“ nun „sein glänzendes, perlweißes Fell“ geworden und aus einem „dünnen blutroten Streifen“ ein „dünner, blutroter Streifen“.
Sollte ich mich so getäuscht haben? Ich hätte schwören können, dass zwischen zwei Attributen nur dann ein Komma gesetzt wird, wenn es sich um gleichrangige Adjektive handelt, zwischen denen ebenso gut ein „und“ stehen könnte.

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Stark oder schwach – das ist hier die Frage

Dass ein Wort verschiedene Bedeutungen haben kann, ist keine Neuigkeit, und dass man diese Erscheinung „Polysemie“ nennt, ist ebenfalls bekannt. Genauso verhält es sich mit der Homonymie, einer Erscheinung, bei der mehrere Wörter gleich klingen und meist auch gleich geschrieben werden, aber eine unterschiedliche Bedeutung haben. Normalerweise kennt man diese Wörter und verwendet sie so, wie es für den jeweiligen kommunikativen Zweck erforderlich ist.


Schwierig wird es nur, wenn man sich des Unterschiedes zwischen beiden Erscheinungen nicht bewusst ist und sie deshalb verwechselt. Ein Wort, bei dem das im Deutschen auch Muttersprachlern besonders häufig passiert, ist das Verb „hängen“. Hier gehen viele Menschen davon aus, dass es sich um eine Polysemie handelt, die sowohl den Zustand („Das Bild hängt am Haken.“) als auch den Vorgang („Ich hänge die Schlittschuhe an den Nagel.“) bedeuten kann.

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Überlegungen zu Raum und Zeit

Von beim Übersetzen mitunter notwendigen Perspektivwechseln war an dieser Stelle schon die Rede. Diese betreffen häufig objektive Umstände wie Zeitangaben oder räumliche Vorstellungen wie etwa Entfernungen.
So habe ich mich vor vielen Jahren sehr gewundert, als mir meine Moskauer Freunde begeistert erzählten, sie seien von Berlin aus „mit der S-Bahn“ nach München gefahren. Es dauerte eine Weile, bis bei mir der berühmte Groschen fiel – und er tat es sprichwörtlich pfennigweise: Da der Zug, mit dem sie gefahren waren, über keinerlei Schlafwagen verfügte, kam er der russischen электричка deutlich näher als einem поезд, in dem es in der Regel Schlaf- oder doch zumindest Liegewagen gibt. Auch war die Entfernung in ihren Augen nicht der Rede wert, schließlich ist sie ohne eine Übernachtung zu bewältigen, und auch das sieht in Russland zwischen Großstädten meist deutlich anders aus.

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